Christiane Ritter: Eine Frau erlebt die Polarnacht Ullstein Verlag

20191225_1117429185270004413672099.jpg

„Diese Landschaft hat nichts Irdisches mehr. Sie scheint in ihrer Entrücktheit ein in sich geschlossenes Leben zu führen. Sie ist wie der Traum einer Welt, der sichtbar wird, bevor er sich zur Wirklichkeit gestaltet.“

Es ist faszinierend: Christiane Ritter, geboren 1898 in Karlsbad, aus wohlhabender Familie, reist im Alter von 36 Jahren zu ihrem Mann, der sich schon länger in der Arktis aufhält, nach Spitzbergen, um dort ein Jahr lang mit ihm in einer winzigen Hütte ohne Komfort in absoluter Einsamkeit zu verbringen. Und was sie anfangs selbst nicht glaubt, sie erliegt dem Zauber der Natur, der Stille und der weißen Weite.

Bereits im letzten Winter hatte ich mir dieses Buch gekauft. Offenbar hat es aber jetzt erst den richtigen Zeitpunkt des Lesens gefunden. Wohl auch, weil der kühle Norden mich immer mehr anzieht. Wie man schon an obigem Zitat erkennen kann, liegt die Besonderheit dieses Buches nicht nur an der Außergewöhnlichkeit, dass eine Frau 1934 mit ihrem Mann, einem Kapitän und Abenteurer, einen dunklen Winter im eisigen Spitzbergen unter schwierigsten Lebensbedingungen verbringt, sondern auch an der großartigen Sprache Ritters. Sie schafft es, all das, was man hier im gemütlichen mitteleuropäischen Winter so gar nicht kennt, in Worte zu fassen, die genau die Stimmung dieses nordischen Landstrichs spiegeln.

Und sie zeigt auch, dass Frauen all das auch können. Immer schon konnten. Christiane Ritter wusste ihre kleine Tochter bei den Großeltern gut versorgt und lebte ihren Traum und ließ sich dabei nicht von damaligen Konventionen beirren. „Laß alles liegen und stehen und folge mir in die Arktis“, schrieb ihr Mann und sie tat es. Ich bin von diesem Reisebericht, der letztlich auch Überlebens/Erwachensbericht ist, zutiefst beeindruckt. Gleich nach der Ankunft, ihr Mann ist längere Zeit auf der Jagd, erlebt sie allein in einer winzigen Hütte einen tagelang dauernden Sturm. Dies durchzustehen, war Vorbereitung auf die „Polarnacht“ (vier Monate lang ist die Sonne nicht zu sehen) und gab ihr die Kraft den Winter mit all den Entbehrungen zu überstehen. Und nicht nur das: aus jedem ihrer Sätze klingt die große Faszination, die eine solche Landschaft im Menschen auslösen kann, an. Die Weite, das Licht, das Dunkel, die Nähe zur alles überwältigenden Natur, das auf sich selbst zurückgeworfen sein klingt durch jede Zeile.

Im Laufe des Winter müssen die Ritters monatelang ohne frisches Fleisch auskommen, weil sie abhängig sind vom Auftauchen von Eisbären, die mit dem Packeis an Land kommen. Robben, Füchse und Enten werden geschossen und bevorratet. Die Daunen gesammelt, die Felle gegerbt. Hier wird einem klar, was Jagd eigentlich einmal bedeutete. Ritter beschreibt, wie wichtig die winzigen Hütten sind, die verteilt über die Fjorde stehen, um unterwegs Schutz vor Wetter und Kälte zu finden. Sie erläutert, wie es sich anfühlt bei minus 35 Grad mit Skiern über das zugefrorene Meer zu fahren, wie es ist keine Geräusche mehr zu hören oder lauthals tobende Stürme. Sie macht die Erfahrung mondsüchtig zu werden oder geisterhafte Naturphänomene zu erleben, die an Hellsichtigkeit grenzen. Heutzutage würde man sagen, sie findet im Einklang mit der (damals noch intakten) Natur zu sich selbst. Doch was sie schreibt ist so klug und wichtig, dass ihr Reisebericht Jahrzehnte überdauerte. Für mich ist dieses Buch in jeder Hinsicht besonders: es ist feministisch, es ist spirituell und es ist sprachlich beeindruckend. Eine echte Perle. Polarlichtleuchten!

Christiane Ritter lebte nach ihrer Reise wieder in Mitteleuropa, seit 1985 in Wien. Sie wurde 103 Jahre alt. Ihr Buch ist mit eigenen Illustrationen bereichert. Es erschien 1938 zum ersten Mal und erlebte bis heute unzählige Neuauflagen und Übersetzungen. Meine Taschenbuchausgabe erschien im Ullstein Verlag. Hier finden sich interessante Infos zu den Buchausgaben.

3 Gedanken zu “Christiane Ritter: Eine Frau erlebt die Polarnacht Ullstein Verlag

Hinterlasse einen Kommentar