Muttertag special: Die Mutter-Tochter-Beziehung im Roman

Giovanni Segantini: Die bösen Mütter


Im letzten Jahr begegneten mir besonders viele Romane, die sich mit der Thematik „Mutter-Tochter-Beziehung“ beschäftigen. Ein Grund, mich zu erinnern und bereits auf dem Blog besprochene ältere und neuere hier in einer Sammlung, in einem Beitrag zusammenzufassen. Zum Muttertag, ja, aber ohne heile Welt. Meist geht es um schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen, die wenngleich oft nicht öffentlich gemacht, geschweige denn aufgearbeitet, scheinbar ziemlich häufig sind. Sei es die verschwundene Mutter, die Künstlermutter, die emotional abwesende, die überbehütende, übergriffige oder die (psychisch) kranke Mutter. Wer auf folgende Fotos klickt kommt zur jeweiligen Besprechung.

Die überforderte, die (emotional) abwesende, die (psychisch) kranke Mutter, die schwierige Mutter


Die Künstlermutter. Die verschwundene/verschollene Mutter

Wolfgang Borchert/Roberta Bergmann: Laternenträume Gedichte Kunstanstifter Verlag


Der Kunstanstifter Verlag ist praktisch immer eine gute Adresse für Buchkunst. Diesmal bewundere ich den in Halbleinen fadengebundenen und mit Lesebändchen versehenen hochwertigen Band Laternenträume. Es sind Gedichte von Wolfgang Borchert, den wir alle kennen von seinen Erzählungen. Ich erinnere mich noch deutlich an die Schullektüre von „Nachts schlafen die Ratten doch“. Illustriert wurde das Buch von Roberta Bergmann, die fasziniert von Borcherts Gedichten, die wenig bekannt sind, eine ganz eigene Welt für diese kurzen Texte erfindet. Für mich ist es immer wieder überraschend, wie Künstlerinnen Texte umsetzen, wie Bilder Worte begleiten. Da ich selbst schreibe und mit Tusche arbeite, empfand ich die Bilder als durchaus inspirierend.


Im Buch wird kurz erläutert, wie die Sammlung der Gedichte zustande kam. Borchert selbst nahm wohl seine Gedichte nicht sonderlich ernst. Doch wer weiß, was noch entstanden wäre, wäre der 1921 geborene nicht bereits 1947 im Alter von 26 Jahren gestorben. Borchert wurde 1941 jung in die Wehrmacht eingezogen, wo er sich in der Sowjetunion an der Front schwere Verwundungen zuzog, die ihn auch nach Ende des Krieges weiter behinderten und schließlich zum Tode führten. Binnen kürzester Zeit hatte er seine wenigen Werke geschrieben; die meisten machten ihn erst posthum bekannt. Sie zählten zur sogenannten „Trümmerliteratur“.


Borcherts Gedichte, die kaum bekannt sind, fand Roberta Bergmann, die sowohl Künstlerin als auch Kreativ-Coachin ist, so interessant, dass dieses Buch entstand. Die Gedichte stammen teilweise auch aus dem Nachlass und einer Dauerausstellung der Universitätsbibliothek Hamburg. Viele der Gedichte benennen auch die Stadt Hamburg, die See, Seefahrt, Seeleute und beschäftigen sich mit der Liebe, den flüchtigen, aber intensiven Liebeleien zwischen den Matrosen, die schnell wieder weg sind und den Frauen, die oft als Verführerinnen und gleichzeitig als Haltgebende dargestellt werden. Die Liebe der Frau als Rettungsanker in Sturm und Dunkelheit. Gerade auch in den Illustrationen: Sinnlichkeit, Erotik und Launenhaftigkeit. Gerade auch so wie das Wetter. Die Nacht scheint ebenfalls starken Einfluss zu nehmen. Die Dunkelheit, in die immer wieder Licht in Form von Laternen oder eben Liebschaften dringt. Bergmann setzt in ihren Illustrationen meist kräftige Impulse, schwarz/weiß/rot herrscht vor, wird aber immer wieder durch starke Farben abgelöst. Hier besonders schön der „Prolog zu einem Sturm“ und das „Kinderlied“, in dem Gott oder Göttin Tieren Pflanzen und Menschen Leben (und Farbe) einhaucht.


Kurz thematisiert Borchert auch den Krieg. Auch Aphorismen sind dabei. Für mein Empfinden zeigen die Texte den Lebens- und Liebeshunger eines jungen Menschen, dem jedoch durch den Krieg die Zukunft genommen wurde. Sie wirken oft wie eine Mischung aus Ringelnatz, Tucholsky und Brecht mit einer Prise Rilke. Mich hat es erstaunt, wie viel Zartheit und Zerbrechlichkeit ich dann doch zwischen den manchmal auch derben Zeilen (gerade was das Frauenbild betrifft, war Borchert ein Kind seiner Zeit) fand. Wer echte Buch- und Buchmacherkunst liebt, dem sei der Band ans Herz gelegt!

Das Buch erschien im Kunstanstifter Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Mehr zu Borchert: https://www.wolfgangborchert.de/

Weitere Bücher aus dem Kunstanstifter Verlag:

Lydia Lewitsch: Der Fall Miriam Behrmann Frankfurter Verlagsanstalt


Lydia Lewitschs „Der Fall Miriam Behrmann“ ist der Debütroman der Autorin und Philosophin, die unter anderem Namen bereits Texte über wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Themen herausgegeben hat. Sie schreibt über ein brisantes Thema, dass derzeit aktueller nicht sein könnte. Es geht um die sogenannte Cancel-Culture (für mich ist es das) an einer Universität, die es aus den USA längst auch zu uns nach Deutschland geschafft hat. Was mir an diesem Roman besonders gefällt, ist die Tiefe, die Dichte und der sprachlich gelungene Stil, der durch die Geschichte leitet. Hier wird nicht oberflächlich oder plakativ, wie derzeit so oft, über ein mainstream-Thema geschrieben, sondern hier ist das Thema Philosophie, um das es auch inhaltlich geht, wirklich ein wichtiger Aspekt.

Worum es im Roman genau geht: Miriam Behrmann, Professorin für Philosophie und Leiterin eines Instituts an einer Uni in Wien wird von ihrer Doktorandin des psychischen Missbrauchs angeklagt. Miriam Behrmann steht am Tag der „Verhandlung“ bzw. des „Urteils“ im Foyer ihrer Abteilung und fragt sich wie das alles geschehen konnte. Weiter zuvor, als sie davon erfuhr, von ihrem Vorgesetzten Peter, mit dem sie freundschaftlichen Umgang pflegt, konnte sie es überhaupt nicht fassen, was man ihr da unterstellte. Doch sie wurde sofort suspendiert. Sogar in der Zeitung stand es. Nun wird über sie entschieden. Man diskutiert, ob sie der Universität verwiesen, entlassen wird.

„Und ich bin die Ahnungslose. Ich, die diskret blieb, immer, nie herangetreten bin an die Presse, nicht ich. Psychischer Missbrauch! Selina, meine Doktorandin. Dass das von ihr kommt. Selina, perfekt geschminkt, roter Lippenstift: Ich wurde psychisch missbraucht. Wie man auf so etwas kommt. Das eine Zeitung das abdruckt, nur weil sie es so sagt.“

Vor 5 Jahren hatte Peter sie und ihren Mann Tom von der Universität Princeton abgeworben. Sie hatte ein neues Institut gegründet, erfolgreich geleitet. Selina Aksoy, türkischstämmige Deutsche, hatte sich bei ihr als Doktorandin beworben und die beiden arbeiteten gut zusammen, auch mit den drei anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe. Zeitweise teilte Selina sehr viel Persönliches mit Miriam. Auch wir Leser erfahren davon. Von den Problemen zuhause, von den Erwartungen der Eltern, deren Tochter trotz Migrationshintergrund so viel erreichte. Doch nach und nach veränderte sich etwas an der Beziehung.

In einem einzigen großen Bewusstseinsstrom folgen wir Miriam Behrmann in die Vergangenheit. Sie denkt an die Mutter, die Familie in Polen – ja, auch sie hat Migrationshintergrund, sie denkt über ihren Aufstieg nach, das Studium im Ausland, den Arbeitsrausch in Princeton mit einem begnadeten Professor als Mentor. Sie reflektiert ihre Ehe mit Tom, die Geburt der Tochter. Gleichzeitig und auch immer miteinander vermischt und doch aufeinander aufbauend, die Fragen, ihre Stellungnahme, die die Entscheider an der Uni ihr endlich schriftlich zukommen ließen. Der Anwalt, der ihr rät, sich möglichst kurz und sachlich auszudrücken.

Die Fragen, die sie mit Selinas Vorwürfen konfrontieren, lassen Miriam erstarren. Sie und Miriam scheinen eine gänzlich andere Sicht auf die Geschehnisse zu haben. Im Grunde geht es meiner Meinung nach eigentlich um eine anderes Verhältnis zur eigenen Arbeit und um unterschiedliche Arten von Ehrgeiz. Selina zieht es vor sich nebenher in typischer Influencer-Art politisch an der Uni zu engagieren, was immer mehr Arbeitszeit raubt, während Miriam einzig in und durch ihre geliebte Arbeit für das Institut lebt. Selina empfindet Miriams Kritik an ihrer Arbeitsweise als blockierend und übergriffig. Miriam meint sie als Ansporn bzw. als Rat, sich wieder mehr und weiter für die Doktorarbeit zu engagieren. Meinem Empfinden nach reden die Hauptpersonen aneinander vorbei, statt miteinander das Problem zu lösen. Die impulsive Selina ist dann schnell dabei, ihr Problem nach außen zu tragen und wird, wie es in dieser Zeit halt so ist, von allen sofort gehört und unterstützt, ohne Hintergründe zu kennen. Aus Angst etwas falsch zu machen und womöglich selbst am Pranger zu landen, hat man dann schnell seine Schuldige auserkoren. Und so muss Miriam erschüttert feststellen, wie schnell sie von Bekannten, Freunden und Arbeitskollegen fallen gelassen.

„Tom, in Geräuschen wirkt er größer als in der Stille. […] Wir sehen uns an. Sich wieder verbinden: zwei Müdigkeiten, die wie Wasserfarben ineinanderlaufen. Tom … Seinen Namen, mehr schaffe ich nicht. Sein Blick bricht meinen ab, er guckt an mir vorbei auf meinen Bildschirm. Miriam, sieh mal. Wir haben lange geredet, Peter und ich; er meint es nur gut.“

Ich gebe zu, ich habe schnell Sympathien für die Hauptfigur, die „Angeklagte“ und eine Abneigung gegen die Anklägerin entwickelt. Ich nehme Partei ein, was die Autorin überhaupt nicht tut. Zum Gutteil liegt das sicher daran, dass ich näher am Alter von Miriam Behrmann bin als am Alter der Doktorandin. Und ich denke das Hauptaugenmerk liegt auch auf der Generationenfrage. Voller Einsatz im Job, volle Hingabe an die geliebte Arbeit? Ja, das kenne ich auch.
Die Autorin lässt das Ende weitgehend offen (?). Und das Ende ist in dem Sinne auch gar nicht wichtig, da in der Geschichte und ihrer genauen Sprache selbst alles, alles zu finden ist, was die Faszination an diesem Roman ausmacht. Was ich hier über das Buch schreibe, ist nur eine Art Gerüst. So viel steht außerdem zwischen den Zeilen. Große Empfehlung! Ich wünsche der Autorin viele Leserinnen.

Der Roman erschien bei Frankfurter Verlagsanstalt.

Welttag des Buches: Ein- und Abtauchen mit Romanen über 500 Seiten 📚


Zum Welttag des Buches ein Plädoyer für dicke Romane!
500 bis 1000 Seiten? Ich bin dabei! Ich steige langsam ein, versetze mich in die jeweilige Zeit, lerne die Charaktere kennen, mit manchen kann ich mich identifizieren, manche nerven. Ich tauche ein, tauche tiefer und verweile in einer anderen Welt. Ich schalte ab. Was im Hier und Jetzt stört, bleibt außen vor. Ich werde Teil der Geschichte und wenn es auf die letzten Seiten zugeht, lese ich immer langsamer. Der Abschied ist oft schwer und der Beginn eines neuen Romans eine Herausforderung. So geht es mir gerade nach Beendigung der großartigen 850-seitigen Dickens-Adaption „Demon Copperhead“. Kennt Ihr das auch?

Hier sind Tipps für das nächste lange Wochenende oder den nächsten Urlaub:
Mit Klick aufs Foto gehts zur Besprechung


Drei weitere Bücher ohne Besprechung:
Joanna Bator erzählt eine polnische Familiengeschichte anhand von vier Frauengenerationen. Aus unerfindlichen Gründen habe ich es noch nicht geschafft, über Bitternis zu schreiben.
Der Distelfink“ von Donna Tartt habe ich schon vor langer Zeit, als es meinem Blog noch nicht gab begeistert gelesen. Hier gibt es keine Besprechung. Es ist eine turbulente abenteuerliche Geschichte, in der ein niederländisches Gemälde, ein (anfangs) 13-jähriger Junge und die Stadt New York die Hauptrollen spielen. Interessanterweise erinnert die Handlung, ebenso wie bei Demon Copperhead (dort explizit), an eine Geschichte von Charles Dickens.
Ebenso ohne Besprechung, vor langer Zeit und gleich nach Erscheinen gelesen, aber auf viel anspruchsvollere Art, auch sprachlich, begeisternd: „Parallelgeschichten“ von Peter Nadas. Hier geht um die Irrungen und Wirrungen einer Budapester Familie im Laufe sich verändernder Zeiten. Es ist auch das Buch mit der höchsten Seitenzahl: 1722
Ich wollte die drei Romane unbedingt dazu stellen, weil sie so toll sind.

Laura Lichtblau: Sund C. H. Beck Verlag/ Terhi Kokkonen: Artic Mirage Hanser Berlin


Beide Romane haben in meinen Augen sehr schöne Cover, beide sind recht frisch erschienen, beide haben mir aus unterschiedlichen Gründen nicht wirklich gefallen. Hier versuche ich es mir zu erklären, warum. Leider kein Leuchten!


Von Laura Lichtblaus Debütroman „Schwarzpulver“ war ich begeistert und deshalb sehr gespannt, was darauf folgen würde. Die Verlagsbeschreibung von Sund klang vielversprechend. Zum Debüt schrieb ich: Hier ist alles rund, alles passt zusammen, alles fügt sich. Leider ist das in Sund genau nicht so.

Es geht um eine junge Frau, die an einer dänischen Küste an einem Sund Zeit verbringt, um ohne Ablenkungen an einem Text über die NS-Vergangenheit ihres Urgroßvaters zu recherchieren und zu schreiben, um damit Familiengeschichte aufzuarbeiten. Gleichzeitig ist sie aber sehr abgelenkt durch das Warten auf ihre Geliebte, die ihr immer wieder vertröstende Nachrichten schreibt. Als sie von den merkwürdigen Geschehnissen auf einer kleinen vorgelagerten Insel hört, entscheidet sie sich die Insel zu erforschen. Mit auf der Fähre ist eine andere Frau und beide zusammen erleben nun eine seltsame Lebensgemeinschaft, die zunächst sehr verschlossen wirkt und merkwürdig scheinende Rituale ausführt. (Hier kann man sich vorstellen, dass es sich um eine Art Reichsbürgergemeinschaft handelt oder um eine esoterische Selbsterfahrungsgruppe, etc. pp.) Die beiden fühlen sich wenig willkommen. Bei einem heimlichen nächtlichen Besuch des Verwaltungsbüros entdeckt die Frau ein Buch über die Insel, aus dem hervorgeht, dass während der NS-Zeit Euthanasie-Programme durchgeführt wurden.

Dann folgt ein längeres Zwischenkapitel, welches ein wenig wie ein biografischer Essay wirkt, in dem die Protagonistin von ihren Recherchen in Sachen Urgroßvater erzählt. Im Anschluss geht es weiter am Sund. Hier arbeitet die Hauptfigur dann als eine Art Reiseführerin zu den Bunkern, die an der Küste noch aus der Zeit des zweiten Weltkrieg vorhanden sind. Scheinbar gibt es einen regen Touristenverkehr, was diese geschichtliche Episode der Besatzung angeht.

Was die Handlung der Geschichte angeht, werde ich überhaupt nicht schlau. Für mich führen hier verwirrte Erzählfäden in verschiedene Richtungen, die aber überhaupt nicht bedeutungsvoll sind und in keiner Weise ein stimmiges Bild abgeben. Die Geliebte taucht nicht auf, außer einmal in einem Traum. Auch das Ende ist abrupt und ohne die Geschichte irgendwie sinnvoll abzuschließen. Was für mich aber ein Highlight des Romans (falls man es überhaupt so nennen kann, nur 130 Seiten) ist, ist die poetische Sprache, vor allem im ersten Teil des Buchs. Hier merkt man die Lyrikerin durch und einen Lyrikband, sollte es dann einmal einen von der Autorin geben (schon ihr Name ist reine Poesie) würde ich ganz sicher sofort lesen.

Das Buch erschien im C. H. Beck Verlag.

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Die finnische Autorin Terhi Kokkonen hat mich neugierig gemacht. Da nordische Literatur mir ohnehin seit einiger Zeit sehr liegt, war ich auf Arctic Mirage sehr gespannt. Das kühle Coverbild spiegelt für mich auch irgendwie den Inhalt des Romans. Ein Ehepaar fährt in Urlaub gen Norden, um endlich die Nordlichter zu sehen. Doch ihr Ziel erreichen sie nicht. Es kommt auf der Fahrt auf eisiger Straße mit dem Auto zu einem Unfall. Sie sind zum Glück unverletzt, doch der Mietwagen ist Schrott. So kommen sie in einem naheliegenden Hotel unter, das sehr exklusiv wirkt und doch irgendwie mysteriös. Wir lernen nun die beiden etwas näher kennen, teils in Rückblenden bis zum ersten Date. So gut scheint die Beziehung nicht mehr zu funktionieren, was aber nur sehr diffus und unterschwellig durchscheint. Und wir bekommen auch einen Einblick in das Hotelpersonal, welches irgendwie auch nicht so recht auf der Höhe scheint. Es bekommt für mein Empfinden auch zu viel Raum, der nirgends hinführt und den ich mir noch für das Paar gewünscht hätte.

Ich kann es eigentlich gar nicht besonders begründen, weshalb mir die Geschichte nicht hinlänglich gefallen hat. Mir wurde nicht so ganz klar, wieso es zu der Tat kommt, mit der der Roman gleich eingangs aufwartet. Wir wissen also von vornherein, wie es endet. Die Frage warum, wird für mich nicht tief genug bearbeitet und wirkt auf mich ein wenig zu willkürlich. Zudem zeigt auch die Sprache für mich keine Highlights, so dass ich das Buch zwar zu Ende las, aber letztlich nur, weil es ohnehin nur etwas unter 200 Seiten zählt.

Übersetzt wurde das Buch von Elina Kritzokat. Es erschien im Hanser Berlin Verlag.

Ich danke den Verlagen für die Rezensionsexemplare.

Elizabeth Graver: Kantika mare Verlag


Die wechselvolle Geschichte einer jüdischen Familie erzählt uns die US-Amerikanerin Elizabeth Graver hier in Kantika. Wie Graver im Nachwort schreibt, ist es eine Mischung aus autobiographischen und fiktiven Teilen. Vor allem setzt sie hier ihrer Großmutter ein Denkmal, die auch die Hauptfigur im Roman ist. Der Text ist chronologisch gegliedert und untermalt mit Fotos aus dem Familienalbum. Kantika – der Titel sagt es bereits: die Musik und der Gesang spielen eine wichtige Rolle.

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und der offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantar, singen.“

Die Geschichte spielt in der Zeit von 1907 bis 1945. Wir erleben das Aufwachsen der Hauptfigur Rebecca im bunten weltläufigen Konstantinopel/Istanbul um 1910. Es ist eine behütete Kindheit in einer wohlhabenden sephardisch-jüdischen Familie. Bis die Sicherheiten ab den 20er Jahren langsam zu bröckeln beginnen. Der Vater, angesehener Geschäftsmann, der jedoch mit dem Geld leichtsinnig umgeht, die Geschäfte, die nicht mehr gut gehen, und die Bedrohungen der Außenwelt, die in den idyllischen liebevoll angelegten Garten eindringen, zeugen davon. Rebeccas beste Freundin Lika wandert mit ihrer Familie nach den USA aus, ein großer Verlust. Rebecca lernt nähen und verdient bald ihr eigenes Geld. Sie heiratet einen nicht wirklich geliebten Mann, der sie immer wieder im Stich lässt, mit zwei Kindern allein lässt und sie bald zur Witwe macht, so dass sie zu den Eltern zurückkehrt und wieder zur Arbeit geht.

Die Situation spitzt sich zu. Es ist 1925. Auch die Eltern planen eine Auswanderung. „Zurück“ nach Spanien, woher sie ursprünglich stammen, dessen Sprache sie kennen. Doch es wird ein Abstieg. Der Vater findet Arbeit in einer Synagoge, die Familie wohnt in einer Wohnung darüber. Rebecca und ihre Brüder suchen Arbeit, was mit jüdischer Herkunft schwierig ist. Und sicher bleibt es auf Dauer auch nicht. Die politisch angespannte Situation in Europa macht sich auch in Barcelona bemerkbar. Die Eltern wollen die Tochter in Sicherheit wissen. Und so wird Rebecca den völlig unbekannten Mann ihrer verstorbenen Freundin Lika auf Kuba treffen, heiraten, nach USA gehen, ihre eigenen Kinder nachholen und seine behinderte Tochter als Kind annehmen und es kommen weitere Kinder mit dem neuen Mann hinzu. Beide raufen sich zusammen und auch hier geht Rebecca wieder ihrer eigenen Arbeit nach. Der Tod der Eltern, die in Europa zurück bleiben mussten – die Bürokratie verhinderte, dass die Eltern in die USA kommen durften – wiegt schwer. Der Krieg, der die Brüder nimmt. Nach einer aufreibenden Zeit, stellt sich aber ein dauerhaftes Familienglück ein.

Der Roman schildert das unruhige, aufreibende Leben einer unglaublich robusten Frau, die trotz der ganzen Erschütterungen und Hindernissen nie ihr gutes Lebensgefühl verliert. Die selbständig arbeitet und eigene Entscheidungen trifft, mitunter gegen alle Widerstände. Rebecca singt. Das scheint ihre Ressource ihr ganzes Leben hindurch zu sein. Sehr ungewöhnlich für diese Zeit und für das Umfeld, aus dem sie kommt. Und es weitete sich für mich der Blick auf jüdisches Leben in verschiedenen Teilen der Welt. Sehr interessant und aufschlussreich. Und ganz nebenbei ein echter Schmöker.

Der vielschichtige Roman erschien im mare Verlag. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch wurde er von Juliane Zaubitzer. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Zum 8. März – Weltfrauentag ♀️: Leseprojekt Prosaische Passionen Manesse Verlag


Ich habe ein neues Leseprojekt, welches perfekt zum heutigen Weltfrauentag passt. Seit ein paar Wochen lese ich das wunderbare kostbare und himmlisch schöne Buch Prosaische Passionen. Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat in diesem Band 101 Kurzgeschichten ausschließlich von Autorinnen herausgegeben. 101 sozusagen als Pendant zu den 1001 Geschichten aus 1000 und einer Nacht.

„“Frauenliteratur gibt es nicht – genauso wenig wie Linkshänderliteratur oder Rothaarigenliteratur“, definierte die schottische Autorin A. L. Kennedy vor ein paar Jahren, weil Schriftsteller so unterschiedlich seien wie alle Menschen und die Ausdrucksformen und ihre Interessen „so variabel und unvorhersehbar, wie jeder vernünftige Psychologe (und jeder vernünftige Mensch) erwarten dürfte.““

Das Buch erschien bereits im vorletzten Jahr, ist mir aber jetzt erst zugefallen und mir war klar, dass ich den knapp 1000-Seiten-Band sicher nicht in einem Zug durchlesen werde. Deshalb lese ich (ähnlich habe ich es schon beim Leseprojekt Uwe Johnsons Jahrestage gehandhabt) täglich als zusätzliches Pensum, vorzüglich morgens noch vor meiner „normalen“ Lektüre, eine der Geschichten und blättere dann meist sofort neugierig zur Autorinnenbiografie am Ende der Sammlung. Es ist ein weites Feld und ich kann es jeder/m nur empfehlen. Welch eine Fülle! Passend außerdem zu meinem Vorhaben mehr Erzählungen zu lesen. So bin ich 101 Tage lang mit „Frauen lesen“ beschäftigt.

Schon jetzt kann ich sagen, dass einige Perlen dabei sind. Teilweise sind es Namen, die ich noch nicht gehört hatte, teilweise bekanntere. Von manchen werde ich sicher noch mehr lesen. Sandra Kegel hat ihre Auswahl eingegrenzt auf die Geburtsjahrgänge der Frauen: 1850 bis 1921. Sie hat Geschichten aus Europa, aber eben auch aus Südamerika, Asien und Afrika ausgewählt und ich freue mich über diese Vielfalt. Und ich hoffe, dass dieser Band eine Fortsetzung mit den jüngeren Jahrgängen erhält.

Kegel startet mit Sofja Tolstoja, der einzigen Frau, die etwas früher geboren wurde. Und es ist eine würdige Erzählung, die hier den Anfang macht, ist sie doch eine Hommage an die Musik und die darin verborgene Verbindung zum Göttlichen. Meine Favoritinnen auf den ersten 130 Seiten (so weit bin ich bis jetzt gekommen), sind Kate Chopin, Selma Lagerlöff, und mir gänzlich unbekannt George Egerton (ein männliches Pseudonym, wie so oft in dieser Zeit), in Irland aufgewachsen und Sui Sin Far, Tochter eines Engländers und einer Chinesin. Ganz hervorragend feministisch ist die Erzählung “ Wenn ich ein Mann wäre“ von Charlotte Perkins Gilman. Sie beschreibt, wie es wäre, wenn die Protagonistin als ihr Ehemann morgens das Haus verlassen und mit den Kollegen im Zug ins Büro fahren würde. Die Erzählung entstand 1914! (Ich frage mich, ob sich hier bis heute viel geändert hat)

„Und während sie sprachen, gelangte mit diesem neuen Gedächtnis und diesem neuen Begreifen, das den Geist all dieser Männer zu erfassen schien, ein neues und verstörendes Wissen in das unterschwellige Bewusstsein – das Wissen, was Männer wirklich von Frauen halten. […] Im Kopf von jedem Einzelnen und bei allen zusammen existierte offenbar ein Untergeschoss, das nichts mit den übrigen Gedanken zu tun hatte, ein abgesonderter Ort, der ihre Gedanken und Gefühle Frauen gegenüber enthielt.“

Sandra Kegel hat hier wirklich große Arbeit geleistet. Im Anhang finden sich ausführliche Biographien zu den Autorinnen. Zudem gibt es zu jeder Geschichte den Hinweis, wann sie entstand und in welchem Kontext sie zu finden ist. Natürlich werden hier auch die vielen Übersetzer*innen aus 25 Sprachen genannt. Im Nachwort von Kegel, in dem auch der Entstehungsprozess dargelegt wird, liest man gleich eingangs von der Gruppe 47, die vorrangig aus männlichen Teilnehmern bestand und zu der ab und an auch eine Schriftstellerin eingeladen wurde. Nicole Seifert hat zu diesem Thema gerade ein Sachbuch herausgegeben „einige Herren sagten etwas dazu“ (siehe Foto rechts), welches schon hier zur Lektüre bereit liegt. Dazu wird es sicher auch einen eigenen Blogbeitrag geben.

Prosaische Passionen erschien im Manesse Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Weitere Beiträge zum Weltfrauentag aus den letzten Jahren:

Inger-Maria Mahlke: Unsereins Rowohlt Verlag


Es ist mein erstes Buch von Inger-Maria Mahlke und es gefiel mir sehr. Im Laufe des Lesens wurde mir bewusst, dass es mir besonders deshalb gefällt, weil es nicht in der heutigen Zeit spielt, weil es mich nicht mit dem mir derzeit fast unerträglichen Zustand dieser Welt konfrontiert und schon gar nicht eine noch schlimmere dystopische Zukunft schildert. Dass man „Unsereins“ in Verbindung bringt mit Thomas Manns Buddenbrooks – geschenkt. Denn es ist ein durchaus für sich selbst stehendes Werk einer wunderbaren Erzählerin.

Wie so oft, leitet der Klappentext ein wenig auf eine falsche Spur. Denn ich hatte nicht den Eindruck, dass hier die Frauen im Mittelpunkt der Geschichte stehen. Etwas was ich schade fand. Das was über die Frauen erzählt wird, zeigt aber deutlich, wie wenig Rechte Frauen zu dieser Zeit hatten, zumindest, wenn sie nicht einer gewissen Oberschicht angehörten. Doch selbst dann waren sie alles andere als selbstbestimmt. Zumindest in dieser kleinen Stadt am Meer. Was mich auch wunderte: Laut Klappentext wird die Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft diskriminiert. Im Text merke ich nichts davon. Womöglich bin ich da nicht sensibel genug. Die Geschichte spielt von 1890 bis 1906 überwiegend in Lübeck.

So begegnen wir den Mitgliedern der alteingesessenen bürgerlichen Lübecker Familie Lindhorst. Der Patriarch Friedrich, Rechtsanwalt, seine Ehefrau Marie, die Tochter eines deutschlandweit berühmten Dichters ist und die doch sehr fragil ist, mit manischen, mit depressiven Phasen, damals vermutlich unter die Kategorie Hysterikerin fiel. Kein Wunder vielleicht auch, wenn man acht Kinder gebärt. Von Anfang an war ich froh, dass es gleich voran ein Personenregister gab, denn Mahlke fährt eine unglaubliche Menge an Personal auf. (Waren es bei den Buddenbrooks auch so viele?) Einerseits fand ich es interessant, wie sie die Vielfalt der Protagonisten ausarbeitet, dadurch ein Gesellschaftsporträt zeichnet, andererseits war es mir dann manchmal zu wenig zu den jeweiligen Personen, die dann teilweise wieder von der Bildfläche verschwanden. Mahlke durchleuchtet schön die Beziehungen zwischen „Gnädigen“ und Personal. Auch kurze politische Abzweigungen gibt es. Und natürlich kommt auch Thomas Mann vor, der mit einem der Söhne in die Klasse ging.

„Oder Tomy und Otto. Der Pfau und sein Schatten. Den Pfau lassen die meisten in Ruhe. Die Lehrer, weil er einer von den Vater Senators ist, die Älteren, wegen seines Bruders , Heinrich, der im Herbst von der Schule abgegangen ist, jetzt in Dresden eine Lehre macht und den die Primaner ehrfurchtsvoll den König von Tittisee nennen.“

Besondere Gestalten waren für mich einige Nebenfiguren wie etwa der Ratsdiener Isenhagen, der aus Liebeskummer beginnt Geranien zu züchten, das Hausmädchen der Lindhorsts, Ida, dass schuftet und schuftet und trotz fortgeschrittenen Alters doch noch versucht aus diesem Dasein auszubrechen und nebenher Stenographie und Maschinenschreiben lernt. Helene fällt auf, Tochter einer befreundeten Familie, die sich als eher emanzipiert entpuppt und bald ihren eigenen Weg geht, dank eines Erbes und ihres schriftstellerischen Talents. Und irgendwie auch Otto, der aus kleinen Verhältnissen stammt und „Tomy“ Mann in der Schule wie ein Schatten begleitet. Alma, die älteste Tochter, wird, als sie die Schule verlässt, gleich als Hausvorstehende „eingeteilt“, was sie ohne Widerstand erfüllt. Die im Klappentext explizit genannte letztgeborene Tochter Marthe, taucht viel zu wenig auf, als dass man ihr einen Charakter zuordnen könnte.

Die Söhne spielen eigentlich die Hauptrollen. Sie werden Nachfolger des Vaters, studieren auswärts, arbeiten in London und Japan, sind teilweise künstlerisch begabt, sind mehr oder weniger erfolgreich, einer erkrankt an Syphilis und bringt sich um. Man begleitet alle in unterhaltsamer Weise in die Sommerfrische, teils an die See, teils in die Berge. Die Hausherrin verbringt bald viele Monate in diversen Sanatorien. Der Hausherr hat das Heft in der Hand und doch heißt es einmal, um den Konkurs zu vermeiden, umziehen in ein kleineres Haus in weniger guter Lage. Aus einem für einige mehr für andere weniger traurigen Anlass versammeln sich die Geschwister am Schluss und teilen ihre Erinnerungen.

Obwohl es vielleicht so scheint, als hätte ich einiges auszusetzen an diesem Roman, habe ich ihn sehr gemocht, fand ihn direkt unterhaltsam und bin gerne in diese Zeit eingetaucht. Das Buch erschien im Rowohlt Verlag.

Neue Romane von Steffen Kopetzky und Thomas Hettche


Im Kurzformat stelle ich diese beiden ganz unterschiedlichen Neuerscheinungen deutschsprachiger Autoren vor: Steffen Kopetzkys „Damenopfer“ und Thomas Hettches „Sinkende Sterne“


Den neuen Roman „Damenopfer“ von Steffen Kopetzky habe ich wechselweise gelesen und als Hörbuch gehört. Es war mein erstes Buch des Autors und es hat mich sehr positiv überrascht. Kopetzky muss unglaublich viel recherchiert haben, denn er bearbeitet ein absolut komplexes Thema. Wie immer sind es bestimmte geschichtliche Begebenheiten, die fiktiv aufgearbeitet werden, aber nah am tatsächlichen Geschehen bleiben.

Diesmal geht es um eine weibliche Hauptfigur: Larissa Reissner. Sie war eine russische Schriftstellerin und Revolutionärin, die teils auch in deutscher Sprache schrieb. Sie wurde nicht alt: 1895 in Lublin, Polen geboren, starb sie bereits 1926 in Moskau. In dieser kurzen Lebenszeit hat sie unglaublich viel bewegt. Sie war überzeugte Kommunistin, nahm an der Oktoberrevolution teil und diente in der Roten Armee. Sie plante den „roten“ Aufstand, sogar in Deutschland. Sie war engagierte Botschaftersgattin in Afghanistan. Trennte sich von diesem Mann, hatte einige Liebschaften. Sie reiste viel und schrieb darüber, immer mit politischer Note. Sie bekam zwischen allen Aktivitäten sogar ein Kind, einen Sohn, den sie in die Obhut ihrer Schwester in Leipzig gab.

„Eine Revolution, die die ganze Welt erfassen würde, wie lange würde es bis dahin noch brauchen? Wie lange, bis die Partei ihre inneren Gräben überwunden hätte, um so stark zu werden, dass sie es mit der auf infernalische Weise außer Kontrolle geratenen herrschenden Klasse aufnehmen konnte? Wie lange? Bis der Kapitalismus den Planeten in Flammen gesetzt haben würde?“

Die gewählte Form ist sehr vielseitig. Von privaten Gesprächen, Briefen, über ein Filmdrehbuch bis zu politischen Aktionen, der Kindheit und später der Beerdigung Larissas in Moskau, auf der sich fast alle die einmal mit ihr zu tun hatten, treffen, erzählt der Autor abwechslungsreich und klug. Nicht chronologisch, was aber hier auch nicht notwendig erscheint. Jedes Kapitel ist fesselnd. Unglaublich wie gut hier geschichtliche Ereignisse lebendig werden, wie viel neues man erfährt.

Kopetzky schafft es mit seiner auch sprachlich vortrefflichen Art zu schreiben und seiner Liebe zur Hauptfigur, dass ich mich, neugierig geworden, nebenbei immer wieder über die Protagonisten, Ereignisse, Schauplätze und Zusammenhänge informiert habe. So liest sich Geschichte leicht, obwohl der Autor viele Zeitsprünge einbaut. Zudem tauchen unglaublich viele bekannte Namen von Schriftsteller* innen auf, wie etwa Anna Achmatowa, Bulgakow, Bunin, Pasternak, Babel und Mandelstam, denen Reissner begegnete.

Das Hörbuch wurde stimmig und ungekürzt eingesprochen von Julian Horeyseck. Empfehlung für Buch und Hörbuch!

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Das Beste an Thomas Hettches neuem Roman, ich muss es so direkt sagen, ist das Buchcover mit dem Gemälde von Segantini („Die Strafe der Wollüstigen“, welches sicher bewusst gewählt wurde) und die feine Einbandgestaltung. Ich hatte mich sehr auf den Roman gefreut. Im Literarischen Quartett wurde er fast einstimmig gelobt. Ich hatte mich auf ein anspruchsvolles literarisches Lesen gefreut. Bekommen habe ich einen seltsamen Mix aus Dystopie, Autobiographischem und eine Art Mainstream-Kritik. Gerade wegen letzterer hatte mich das Buch auch angezogen. Doch Hettche verschenkt hier viel, vieles klingt zu gewollt, hätte geschickter verarbeitet eventuell besser funktioniert. Ich habe nach der Hälfte etwa abgebrochen, weil sich mir kein Sinn erschloss und die durchaus feine Sprache, die teils interessanten geschichtlich-philosophischen Einschübe haben diesmal das fehlende inhaltliche Gerüst nicht gestützt.

„Stille ist das, was wir spüren, wenn etwas unsere Träume zerreißt.“

Was allerdings schon herauszulesen ist, war die Erkenntnis des Protagonisten, ein sinkender Stern zu sein; der Protagonist, der auch Thomas Hettche heißt. Ich will das nicht hoffen und zähle auf den nächsten Roman.

Silvie Schenk: Maman Hanser Verlag

„Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.

Eines der vielen Bücher, die in dieser Saison mit dem Thema Mutter-Tochter-Beziehung aufwarten, ist Silvie Schenks Roman Maman. Bereits ihr Roman „Schnell, dein Leben“ hat mir gut gefallen. Schenk ist gebürtige Französin, Jahrgang 1944, lebt aber seit langem in Deutschland.

Silvie Schenk versucht das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Die Mutter selbst erzählte nie etwas, wie das in dieser Generation oft der Fall war. Für Fragen, die immer wieder aufgeschoben wurden, war es irgendwann zu spät. Das Wenige was sie weiß, verbindet sie mit Fiktivem. Sie fühlt und denkt sich gerade zu hinein in die Mutter. Sie beginnt bei ihrer Großmutter, die ihre Tochter unehelich geboren hat in einem Krankenhaus für Arme. Sie starb bei der Geburt.

„Die Hilfsarbeiterin eines Seidenproduzenten, die Wäscherin, das Dienstmädchen eines bürgerlichen Hauses konnte ihre Kinder nicht von ihrem Lohn ernähren. Im Ersten Weltkrieg sowieso nicht. Prostitution war gang und gäbe. Die Männer bumsten und zahlten. Die Frauen entbanden und starben.“

Die Tochter blieb einige Zeit in der Obhut eines Säuglingsheims und wurde dann an eine Pflegefamilie gegeben. Schenk hat unglaublich viel recherchiert. Sie erfuhr, dass es dem Kind in der ersten Pflegefamilie nicht gut ging, in der zweiten aber hatte sie es gut getroffen. Die neue Pflegemutter sorgte gut für die Bedürfnisse des Mädchens, sie wurde geliebt und sie erfuhr Bildung. Trotzdem wird sie sich immer ein wenig verloren und fremd fühlen.

„Sie lebt schon immer in der Unwissenheit. Eine alte durchlöcherte Unwissenheit in Bezug auf die Vergangenheit und eine glatte, noch entfernte Ignoranz in Bezug auf die Zukunft. Sie ahnt dunkel, dass Wissen diejenigen zerstört, die sich dafür nicht eignen.“

Später wurde für sie ein Ehemann ausgesucht. Einen eigenen Willen scheint sie kaum entwickelt zu haben. Doch mit der Ehe stieg sie weiter auf: der Ehemann ist Zahnarzt. Ob es Liebe gab zwischen den beiden, ist schwer zu sagen. Sie bekommt fünf Kinder. Darunter Silvie, die ihren eigenen Kopf entwickelt.

Ich finde erstaunlich, wie gut die Autorin aus den wenigen Fakten ein Leben zusammenbaut. Immer weiß man beim Lesen, es könnte auch etwas anders gewesen sein und doch war ich fasziniert, wie Schenk aus Biographischem hervorragende Literatur macht. Gerade das etwas Unklare und Undurchschaubare macht den Reiz aus und gibt der Sprache einen besonderen Raum. Schenk stellt sich Fragen und beantwortet sie in literarisch interessanter Weise. Deutlich besser beispielsweise, als Durs Grünbein, dessen neuen Roman „Der Komet“ ich gerade lese, und der auch fiktiv auf wenigen bekannten Daten basierend, aus der Biographie seiner Großmutter erzählt.

„Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase. Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als ein angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht.“

Dabei kommt eine Schlüsselszene vor, die heraussticht, weil hier so etwas wie ein Aufbruch stattfindet, ein eigener Wille sichtbar wird: der einzige Seitensprung, eigentlich die eigennützige Verführung von Seiten eines Bekannten, der die Mutter so überwältigt, dass sie ihre Sachen packt und weg vom eigenen Mann zu dem verheirateten angehimmelten Mann reist, dafür sogar ihren Verlobungsring versetzt, da sie keine eigenes Geld hat. Da er längst aus Frankreich weg gezogen ist, bleibt nichts als die demütigende Rückkehr zu Ehemann und Kindern. Und damit wieder in die eingefahrene vorgesehene Rolle. Die ewig strickende, schweigende, wenig gebildete, unglückliche Mutter, die hinter ihrem Mann verschwindet.

Silvie Schenks Roman hat mich sehr beeindruckt. Er erschien im Hanser Verlag, er stand auf der diesjährigen Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.