Gertraud Klemm: Einzeller Kremayr & Scheriau


Seit Herzmilch habe ich alle Romane von ihr gelesen (ältere Besprechungen hänge ich unten an), fast alle gefielen mir. Alle behandeln wichtige Themen, immer in Richtung Feminismus/Frausein. Der neue Roman Einzeller hat mich wieder besonders neugierig gemacht, da ich auch selbst spüre, wie stark sich doch der „alte“, für mich echte aktive Feminismus vom „neuen“, wie sagt Simone im Roman so schön: „Sternchenfeminismus“, unterscheidet.

Gästinnen. Wie sie dieses Wort hasste. Wie sie diese Sprachpolitik nervte. Dieses woke Erbsenzählen. Jeder Text eine Minenfeld, an jeder Ecke die neuen Moralistinnen, die einem an den Lippen hängen und jedem falschen Wort auflauerten und Aussagen auf Mikroaggressionen prüften.“

In einem renovierungsbedürftigen ungenutzten Schulhaus in Wien gründen die drei langjährigen Freundinnen Simone, Eleonora und Maren eine Frauen-WG, genannt der Bienenstock. Simone ist mit fast Sechzig bereits eine Ikone in Sachen Feminismus. Sie hat allerhand bewirkt und in Bewegung gebracht und versucht das noch immer. Die jungen Feministinnen sind ihr ein wenig suspekt, so sie doch vor allem auf Social Media-Kanälen aktiv sind und wenig im realen Leben, wo es dringender notwendig wäre. Dennoch wollen die drei sich zwei weitere Mitbewohnerinnen dazu holen um den „Bienenstock“, so der WG-Name, zu erneuern und zu verjüngen. Die Wahl fällt auf Flora, eine junge Juristin und auf Lilly, die noch Studentin ist. Das Kennenlernen und Zusammenleben lässt sich zunächst gut an. Alle sind aufeinander neugierig.

Klemm erzählt wechselweise aus der Perspektive von Simone und von Lilly. Aus Simones Sicht erfahren wir am meisten über feministische Themen. Lilly erzählt vor allem von sich selbst. Als Hauptthema am stärksten vertreten ist das Thema Abtreibung, da hier die Politik wohl am Status Entscheidungsfreiheit rütteln möchte, denn Wahlen stehen bevor. Bald schon zeigen sich Unterschiede bei den Prioritäten zwischen jung und älter. Lilly, die es eigentlich betrifft, kümmert sich wenig um das Thema, sie findet ihre Meinung vor allem beim Mainstream auf Instagram. Simone hingegen kämpft draußen gegen konservative Parteien und kirchliche Gruppen und in Interviews und Aktionen für „Mein Körper, meine Entscheidung“. Männer sind nicht erlaubt in der WG. Das macht Lily nichts aus, denn ihr Freund ist ohnehin viel auf Reisen.

Als Simone angesprochen wird, mit ihrer WG an einer TV-Show mitzuwirken, ist sie zunächst skeptisch, lässt sich aber doch überreden. Drei WG`s unterschiedlicher Ausrichtung und unterschiedlichen Alters sollen mit einer Person, die einen anderen Standpunkt vertritt live diskutieren und einander überzeugen. Das wird natürlich zum Desaster und Simone wird immer angefressener. Ihr wird generell alles zu viel. Sie arbeitet sich an Themen ab, die längst in Sack und Tüten waren, doch nun offenbar von vielen in Frage gestellt werden. Die Politik wird konservativer und rechter. Durch die Sendung driften die Bewohnerinnen immer mehr auseinander.

“ Die Cis-Hetero-Normalo-Frauen, die ihr als SWERFs und TERFs beschimpft, wissen gar nicht , was SWERFs und TERFs sind. Denen geht dein theoretischer Feminismus am Arsch vorbei, weil ihnen das Patriarchat die Zeit zum Lesen und Nachdenken über die weibliche Identität stiehlt. Die können nicht über Judith Butlers feuchte Träume diskutieren, weil sie in ihren ungeputzten Wohnungen und schlechtbezahlten Jobs „echte“ Sorgen haben.“

Lilly wird ungewollt schwanger vom Freund ihres Freundes, will das Kind nicht abtreiben, sondern zieht mit dem Vater zusammen. Auch Flora zieht aus. Viele Monate später, das Kind ist da, flüchtet Lilly in den Bienenstock, weil der Kindsvater sie schlägt. Die Frauen bieten ihr sofort Hilfe an. Doch nach einer Weile kehrt sie wieder zu diesem Mann zurück. Simone, nach einem Burnout und einer Reise nach Venedig, gerade von einem Besuch bei ihrer Tochter in Berlin zurückgekehrt, hat den Entschluss gefasst, nicht mehr aktiv zu sein. Einen Preis soll sie bekommen für ihre langen Bemühungen um Frauenrechte. Den Preis wird sie noch mitnehmen und dann wird sie in Rente gehen und nicht mehr kämpfen, nur noch leben.

„Sie sitzen in einem dieser Cafés mit idiotischen Namen, die den Kollwitzplatz säumen, weil Simone es mit eigenen Augen sehen wollte: das bourgeoise, grüne Ökoberlin, über das man sich in Wien lustig macht“

Das Ende empfand ich ziemlich erschütternd, möchte es aber hier nicht vorweg nehmen. Für mich ist eindeutig Simone die Heldin und Sympathieträgerin. Ihr Handeln und Denken sind mir vertraut. Sie sieht das Große und Ganze, die Zusammenhänge. Sie weiß, dass es nicht mit social media-Posts getan ist.

“ Der Netzfeminismus, den sie mitkriegt, schwebt gerade über dem Regenbogen ins Einhornland, während darunter so gut wie jedes Terrain, das in den Siebzigern erstritten wurde, von den Patriarchen zurückerobert zu werden droht.“

Mir hat die Geschichte richtig gut gefallen, denn sie ist trotz des Themas nicht mainstream. Ich habe bei unglaublich vielen Passagen genickt und zugestimmt. Die Autorin lässt sich nicht von irgendeiner Seite vereinnahmen und dadurch gelingt ihr ein eindrückliches Porträt der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation der Frauen. Sie blättert einzelne Frauenbiographien auf und lässt uns selbst sehen, wie es läuft und gelaufen ist. Es liegt an uns, wie es weiter geht. Bleibt zu hoffen, dass es in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen nicht wieder Rückschritte gibt

Das Buch erschien im Kremayr & Scheriau Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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3x zugehört 🎧: Hörbücher von Annie Ernaux: Der junge Mann, Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen, Amy Waldman: Der amerikanische Architekt


Zur Zeit höre ich wieder sehr gerne Hörbücher. Zwei der hier vorgestellten Lesungen sind nicht brandneu, alle sind grundverschieden. Ich habe allen gebannt gelauscht und kann sie sehr empfehlen. Von allen gibt es eine Romanvorlage.



Vielerorts besprochen und mit einiger Kritik überzogen wurde die wirklich sehr kurze Erzählung von Annie Ernaux „Der junge Mann“, in dem sie von ihrer Beziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Mann erzählt. Sie zeigt hier auch genau auf, wie sehr solch eine öffentlich gelebte Beziehung damals Aufsehen, ja Unmut erregte. Ich finde diesen Erfahrungsbericht sehr spannend und ich finde auch die aktuellen Äußerungen dazu hochinteressant, kommen sie doch vor allem auch von Männern. Obwohl es keinen interessiert, wenn ein Mann eine sehr viel jüngere Frau/Geliebte hat, ist es anderes herum offenbar sogar heute noch ein Tabu. Für mich unfassbar.

Eine häufige Äußerung ist hier im Fall von Annie Ernaux, dass sie dabei nur an sich denken würde und den Mann dann egoistischerweise einfach verlassen würde, als es ihr nicht mehr passte, obwohl er sich wegen ihr von seiner Freundin trennte. Finde ich vollkommen fehlinterpretiert. Die damals Mitte Fünfzigjährige, die mit ihrer Literatur sehr erfolgreich war, findet sich durch diese Liebe, die nicht nur von der körperlichen Anziehung lebt, zurück in ihre eigene Studienzeit versetzt, in ein Milieu, welches sie kennt und welchem sie seinerzeit entkommen wollte und konnte. Sie erlebt mit ihm die sparsame Studentenzeit und die relative Freiheit wieder. Als der junge Mann aber beginnt Pläne zu schmieden für eine gemeinsame Zukunft, ist für die Hauptfigur klar, dass ihre beiden Lebensentwürfe nicht auf Dauer zueinander passen. Also das, was täglich in Beziehungen passiert. Kein Grund der Schriftstellerin hier Egoismus vorzuwerfen.
Die Schauspielerin Maren Kroymann liest diesen Text sehr stimmig. Mir hat die leider nur halbstündige Lesung sehr gefallen. Übersetzt wurde der Text von Sonja Finck. Die CD erschien im Audio Verlag.

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„Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem Bubikopf, Élisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab …“

So beginnt das ausführliche Vorwort des lange unveröffentlichten autobiographischen Romans von Simone de Beauvoir, in dem auch Originalbriefe enthalten sind. Weiter heißt es, dass de Beauvoir Sartre das Manuskript seinerzeit zeigte und er es für eine Veröffentlichung zu intim hielt. Schade. Wäre es bereits damals veröffentlicht worden, wäre er sicher noch ungewöhnlicher aufgenommen worden. Ich habe das ungekürzte Hörbuch gehört. Eingelesen hat es sehr stimmig Birgitta Assheuer, die als Sprecherin sehr viel Erfahrung hat. Die Übersetzung des Romans, der gerade als Taschenbuch erschien stammt von Amelie Thoma.

Im Roman/Hörbuch heißen die beiden Freundinnen Andrè und Silvie. Sie lernen sich 9-jährig in der Schule kennen, werden Freundinnen, wobei die Freundschaft zunächst mehr von Silvie ausgeht, die André innig verehrt. In der Schule sind sie die besten, sie besuchen sich in den Ferien, tauschen sich über die erste frühe Liebe von Andrè aus, die von den Eltern unterbunden wird. Sie werden die Unzertrennlichen. Als Silvie sie später mit ihrem Studienfreund Pascal bekannt macht, verlieben sich beide ineinander. Und doch steht auch dieser Beziehung wieder die Familie im Weg. Die anfangs so frei und offen scheinende Familie von Andrè erliegt nun in viel größerem Ausmaß den Konventionen ihrer Zeit und auch ihrer Religion, als das bei Silvies Familie der Fall ist. Die Geschichte endet, wie in der autobiographischen Wirklichkeit, tragisch und traurig …

Ich bin sehr erstaunt gewesen beim Zuhören. Immer hatte ich die Texte von de Beauvoir wesentlich herausfordernder in Erinnerung. Dieser hingegen ist sehr eingängig. Weiterhin habe ich mich gewundert über die Religiosität dieser Zeit. Zaza war katholisch erzogen und sehr gläubig im Gegensatz zu Simone. Und das passt für mich so gar nicht mit dem neugierigen, unkonventionellen Auftreten von Zaza zusammen. Seltsam auch das „Siezen“ über die ganze lange Freundschaft hinweg, die ja bis ins Erwachsenenalter dauert.

Die mp3-CD erschien im Argon Verlag. Das Vorwort von Sylvie La Bon de Beauvoir.

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In Amy WaldmansDer amerikanische Architekt“ geht es um die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September in den USA. Eine Gedenkstätte für die Opfer soll gebaut werden. Es wurde anonym ausgeschrieben. Ausgewählt wird schließlich aus unzähligen Bewerbern der Entwurf eines Gartens, der von Mohammed Khan eingereicht wurde. Als die Jury seinen Namen liest entbrennen neue Diskussionen. Alles was anschließend passiert, geschieht unter der Frage: Darf ein Muslim das Monument gestalten, wo es doch Muslime waren, die im Namen ihrer Religion die Anschläge ausübten und Menschen ermordeten, für die das Denkmal als Erinnerung gebaut werden soll. Obwohl Khan amerikanischer Staatsbürger ist, zieht man Erkundungen über ihn ein. Zur Presse dringt der Name des Architekten vorab durch und danach wird für Khan alles anders.

Menschen demonstrieren dafür und dagegen. Politiker mischen sich ein. Ein regelrechter Kampf beginnt. Waldman erzählt abwechselnd aus unterschiedlichen Perspektiven und macht das absolut souverän. Sie lässt Angehörige zu Wort kommen, Politiker, die unterschiedlichen Stimmen aus der Jury und natürlich auch Mohammed Khan, der versucht mit Hilfe seines Anwalts sein Projekt durchzusetzen, der aber bald schon von verschiedenen Seiten angefeindet wird, ganz egal, was er tut. Jedes Argument klingt irgendwie einleuchtend, jede Seite scheint berechtigte Zweifel zu haben. Das führt bis in kleinste Details, an die man selbst nicht denken würde und macht aus dem Roman einen politischen, gleichzeitig hoch spannenden Text. Zwanzig Jahre später dreht der Sohn eines der Opfer einen Film über die weiteren Geschehnisse und wir erfahren, wie alles ausging …

Das Hörbuch erschien bei Der Hörverlag. Ulrich Noethen liest die leicht gekürzte Version ganz vorzüglich. Übersetzt hat das Buch Brigitte Walitzek. Ich bin schon sehr gespannt auf den zweiten Roman von Amy Waldman „Das ferne Feuer“.

Heidi Furre: Macht Dumont Verlag

Foto gemeinfrei: pixabay Mond, Niki de Saint Phalle, Giardino dei Tarocchi

Die Norwegerin Heidi Furre hat einen bemerkenswerten Roman über ein schweres Thema geschrieben. Was mich daran vor allem überzeugt hat, ist die Form und die Sprache, die sie dafür wählt. Zudem schafft sie es auf nur 170 Seiten das Thema derart komplex zu gestalten, dass es einen tiefen Eindruck hinterlässt. Und nicht zuletzt ist es das Auftauchen der Künstlerin Niki de Saint Phalle und ihr selbst gestalteter Garten „Giardino dei Tarocchi“ in Italien an der Grenze zwischen Toskana und Latium, der die Geschichte zu einem positiven Ende hinführt. Mit der Künstlerin habe ich mich selbst schon manches Mal beschäftigt – leider war der Garten jedes Mal geschlossen, wenn ich in der Toskana war.

Inhaltlich geht es um eine Vergewaltigung. Scheinbar ganz assoziativ in teils kurzen Sequenzen erzählt die Autorin die Geschichte der Protagonistin nach dem „Vorfall“, wie sie es oft nennt. Denn allein das Wort auszusprechen, scheint eine große Hürde. Es würde dadurch deutlich, dass es wirklich passiert ist. Denn die Hauptfigur wünscht sich nichts sehnlicher, als das Geschehnis auszublenden, zu verdrängen, einfach normal weiterzuleben, was sie letztlich auch tut. Für sie ist es ein Albtraum Opfer zu sein und immer als „Vergewaltigte“ gebrandmarkt zu sein. So geht sie auch nicht zur Polizei, um die Tat anzuzeigen und nimmt auch keine psychologische Hilfe in Anspruch.

„Was mir Angst bereitet, ist der Gedanke, in diesem andächtigen Gerichtssaal zu sitzen, unter diesen hochgebildeten Menschen mit Geld und Macht und all dem. Und sie dann sagen hören, das alles sei nur eine Lüge. Alles, was sie gesagt haben, ist erlogen. Er hat es nicht getan.“

Erzählt wird aus der Sicht der Frau viele Jahre später. Liv, Mitte 30, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und arbeitet als Krankenpflegerin. Ihr Mann Terje taucht selten auf, doch die Kinder, vor allem der erstgeborene Sohn Johannes spielen eine wichtige Rolle, da er sie immer wieder an ihre Körperlichkeit erinnert und sie besonderen Wert darauf legt, dass er frei und ohne Ängste aufwächst, dass sie ihren Kindern die Sicherheit geben kann, die ihr so oft fehlt.

Von der tatsächlichen Tat erfahren wir erst gegen Ende des Buches, was stimmig ist. Vorher wird erzählt, was die Tat aus der jungen Frau gemacht hat, die nie Opfer sein wollte und immer selbst Macht darüber haben wollte. doch auch fünfzehn Jahre später ist nichts vergessen. Alltägliche Situationen lassen das traumatisierende Ereignis immer wieder auftauchen. Das können Kleinigkeiten sein, wie ein Geräusch, ein Duft oder aber der Routinebesuch bei der Frauenärztin. Schnell erfahren wir auch, dass die Frau kaum ohne Medikamente auskommt. Schmerzmittel, Schlaftabletten oder Tranquilizer sind immer zur Hand.

„Alles war in bester Ordnung, niemand hielt mich an oder konnte mir ansehen, was passiert war. Alles normal. Es war völlig normal, vergewaltigt zu werden, ich hatte keine zerzausten Haare oder Blutergüsse. Eine Vergewaltigung war klein, sie passte genau in meinen Körper. Ich würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen. Mit aller Macht und aller Macht und aller Macht.“

Liv kommt an die Medikamente an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim. Manchmal reicht es schon, sie in der Nähe zu wissen. Als eine neue Patientin aufgenommen wird, deren Bruder, ein bekannter Schauspieler, sie regelmäßig besucht, wirft das Liv wieder in die Vergangenheit zurück. Denn der Schauspieler stand vor längerer Zeit wegen einer Vergewaltigung vor Gericht und wurde frei gesprochen. Sein Auftauchen im Heim wird zum regelmäßigen Trigger für Livs Trauma. Wie sehr sie sich dadurch wieder mit den eigenen Erlebnissen auseinandersetzt, merkt man beispielsweise daran, dass sie akribisch den Schauspieler mittels Internet durchleuchtet, alles zu seinem Gerichtsprozess liest und sich ausmalt, wie es bei ihrem eigenen Prozess gewesen wäre, hätte sie den Mann damals angezeigt. Dabei geht sie soweit, sich auszumalen, welche Kleidung, welches Make up sie vor Gericht tragen würde. Es geht immer darum, nicht wie ein Opfer auszusehen. Generell dreht sich bei Liv sehr viel um das Äußere, sie kauft teure Markenkleidung, geht oft ins Fitnessstudio, geht regelmäßig ins Spa um sich mit Botox die Falten wegspritzen zu lassen. Es scheint mir wie ein Davonlaufen, um sich nicht mit dem inneren Zustand auseinander zu setzen. So wechselt sie immer wieder von Stolz bis zur Selbstverurteilung. Redet sich den Vorfall mitunter klein: wie vielen anderen Frauen ist es schließlich auch passiert? Oder gibt sich selbst die Schuld. Sie hätte viele Male anders entscheiden können und dann wäre es nicht passiert.

„Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich, um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein.“

Furre bringt alle Aspekte stimmig ein in diesen Gedankenstrom der Hauptfigur. Ich war erstaunt, in wie viele Richtungen Livs Gedanken gingen, auf welche Weise sie innerlich mit sich verhandelt und wie sie schließlich langsam aktiver wird und damit wieder mehr sie selbst. Beispielsweise spricht sie den Schauspieler direkt auf seine Tat an, ohne jedoch Antwort zu bekommen, sie fährt mit dem Bus zum Haus ihres Vergewaltigers und erzählt es dem Nachbarn. Schließlich kann sie es sogar ihrem Mann erzählen. Das ist die einzige Szene, die mir etwas zu wenig ausgearbeitet ist.


Und eine weitere große Veränderung bewirkt die Entdeckung der Künstlerin Niki de Saint Phalle, die erst sehr spät über ihre Vergewaltigung reden konnte und in ihrer Kunst mit verarbeitete. Deshalb das Vorsatzblatt des Romans mit der schießenden Niki. Liv beschäftigt sich mit ihrem Werk und ist beeindruckt von ihr als Frau und Künstlerin und fliegt schließlich mit einer Freundin, die ebenfalls Künstlerin ist, nach Rom und von dort aus in den Giardino dei Tarrocchi. Auf dieser Reise findet Liv ein Stück weit zu sich selbst. Große Empfehlung für dieses vielschichtige Buch! Leises Leuchten!

Der Roman erschien im Dumont Verlag. Übersetzt aus dem Norwegischen hat es Karoline Hippe.

Zwei weitere sehr unterschiedliche Romane zum Thema hier bereits besprochen:

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben Zsolnay Verlag


2019 hat sie mit einem starken Text den Bachmannpreis gewonnen. Dann kam ihr Roman Ich an meiner Seite“ und mit dem neuen Roman „Wovon wir leben“ hat die Österreicherin Birgit Birnbacher, wie ich finde, einen noch besseren Roman geschrieben. Schon bei den ersten Zeilen merke ich, das ist ein geerdeter Text, der ist wunderbar bodenständig, wenngleich gedankenvoll klug und mitunter auch sehr witzig und unverblümt direkt. Es braucht keine Großstadt, keinen Mainstream-Inhalt, keine woken Themen, keine formelle Außergewöhnlichkeit, um einen richtig guten Roman zu schreiben. Den Zauber dieses Textes macht für mich ein richtig gutes Händchen für Sprache, ein tiefes Verständnis für Menschen, Lebenserfahrung und ein sicheres Reflexionsvermögen aus.

Dass Birnbachers Romane von ganz normalen Menschen mit all ihren Fehlern handeln, gefällt mir und nimmt mich sofort für den Text ein. Bereits der Titel weist darauf hin, worum es haupt- und nebensächlich geht: Wovon wir leben. Physisch und psychisch. Was brauchen wir, um ein gutes, womöglich ein glückliches Leben zu führen? Warum geht es bei manchen Menschen leichter, bei manchen schwerer, das Leben? Was baut uns auf? Oder wer? Wie wichtig ist das, was wir tun? Unsere Arbeit? Und was ist die richtige Arbeit für uns? Ist Beruf Berufung? Oder geht es vor allem darum Geld zu verdienen? Und was wenn durch Krankheit die Arbeit nicht mehr getan werden kann? Was, wenn man die Chance bekommt, ein Jahr ein Auskommen zu haben und nicht arbeiten zu müssen? Arbeitet man trotzdem?

Anhand von Julia und Oscar, den beiden Hauptfiguren spielt die Autorin das ganz wunderbar durch. Julia, Ende 30, Krankenschwester verliert ihre Arbeit, weil sie aufgrund von Unachtsamkeit einen Fehler gemacht hat, mit weitreichenden Folgen. Aufgrund dessen wird sie selber krank, wird aus der Bahn geworfen, bekommt keine Luft mehr, muss wieder neu lernen durchzuatmen.

„Mit jedem eingetragenen Häkchen in die Datenmaske, jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter. Sein Mitteilungsbedürfnis, seine Sorgen oder Nöte waren auf einmal ein Extra, das eigentlich nicht mehr zum Auftrag gehörte.“

Sie fährt deshalb in die Heimat, von der Stadt ins Dorf, auf den Hof der Eltern, in der Hoffnung dort umsorgt zu werden. Doch schnell stellt sich heraus, dass auch dort alles ganz anders geworden ist. Die Fabrik, in der das halbe Dorf arbeitete, geschlossen. Der Vater hypochondrisch, die Mutter einfach weg. Nach Italien zu einem anderen. Für Julia gänzlich unvorstellbar. War die Mutter doch immer die angepasste, die alles beisammen hielt. Der Vater vollkommen verloren ohne die Frau. Der Vater aber auch mit einer Schuld, gegenüber dem eigenen Sohn, der im Heim lebt, und doch nie schuldbewusst.

„Der Vater fühlt sich nicht rücksichtslos. Er fühlt sich gar nicht. Er ist, wie seine Kultur ihn hervorgebracht hat.“

Bereits auf der Fahrt lernt sie Oscar kennen, der fortan „Der Städter“ genannt wird. Auch er wurde aus dem bisherigen Leben geschoben durch einen Herzinfarkt. Er sucht auf dem Land Erholung und findet sich ungewöhnlich schnell gut zurecht. Er hat für ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen und kann sorglos tun, was ihm gut tut. Julia ist erstaunt, wie leicht bei ihm alles geht. Und anfangs auch neidisch. Bei ihr geht es um viel mehr. Um ein drohendes Berufsverbot und die schlimme Vorstellung nun auf dem väterlichen Hof womöglich die Mutter ersetzen zu müssen.

„Mir fällt ein, wie ich jahrelang gerührt war, weil er (Anm: der Vater) einen Arm um Mutters Autositz legte, wenn er rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich musste ganz schön große werden, um zu kapieren, dass er ihren Sitz auch umarmt, wenn sie gar nicht dabei ist.“

Der Städter macht Julia nach und nach leichter. Zwischen Kartenspielen im Wirtshaus und der Betreuung einer krankenden Ziege entwickelt sich ein Miteinander, dass beiden gut tut, dass aber auch Fragen nach der Zukunft aufwirft. Wie das immer so ist. Denn für Julia scheint die neue Zukunft wieder in der Stadt zu beginnen – durch eine alte Freundin besinnt sie sich auf frühere Fähigkeiten und bekommt die Chance einen neuen Beruf zu erlernen – und der Städter hingegen entschließt sich zu bleiben. Für ihn scheint alles traumwandelnd leicht zu gehen, Julia spürt eine ewige Schwere und vor allem eine Unentschiedenheit, ein Hin- und Hergerissensein. Er als ehemaliger Büro- und Amtsmensch sucht die Begegnung und Gemeinschaft. Julia hat genug von Menschen und wünscht sich einen Bürojob.

„Wie er da so kniet, denke ich, dass er für das Glück wirklich begabt ist und ich genau gar nicht, obwohl wir wahrscheinlich gleich viel Glück oder Unglück haben, nur dass es ihm überwiegend freudig gleichgültig ist und ich auch an guten Tagen von einem anderen spezifischen Gewicht bin, mich fürchte, hässlich fühle oder schäme, irgendetwas ist da immer.“

Als Julias Entscheidung schon fast getroffen ist, verletzt sich der Vater und muss versorgt werden. Hat er es absichtlich getan, um Julia zu zwingen zu bleiben und ihn zu versorgen? Wie entscheidet sich Julia? Lässt sie sich erpressen? Wird sie die Ersatzfrau? Ist Familie wichtiger als der Job? Reicht ihre Energie, ihr Durchsetzungsvermögen, um ihren eigenen neuen Weg unbeirrt weiter zu gehen? Hilfe kommt aus unerwarteter Richtung. In dieser letzten Phase des Romans zeigt sich für mich das Thema Feminismus eleganter, geistreicher und zugleich kraftvoller, als das in den derzeitigen oft plakativ unter der `Feminismus-Keule` geschriebenen Romanen der Fall ist.

Dieser Roman ist durchweg gelungen bis hin zum passenden schönen Cover und eines meiner Highlights des bisherigen Lesejahres. Helles Leuchten! Große Empfehlung!

„Wovon wir leben“ erschien im Zsolnay Verlag im Hanser Verlagshaus. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Aus dem Archiv: Nancy Hünger: Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett Edition Azur

Nancy Hünger: Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett

Schöne tiefe Abgründe liegen zwischen den Zeilen von Nancy Hüngers neuem Lyrikband. In acht unterschiedlichsten Kapiteln schickt sie ihre Leser*innen beispielsweise durch „Liederliche Lieben“, lässt sie „Rupfen in fremden Gärten“ und erzählt „Aus der Werkstatt betretenen Schweigens“. Wie im Titel schon angedeutet, dreht sich in der Tat in diesem Buch vieles um Musik, Rhythmus  und Klang. Musikalität scheint in Hüngers Schreiben notwendig, auch in den Kapiteln, die nicht ausschließlich diesem Thema gewidmet sind. Der Rhythmus der Sprache sucht sich seinen Weg zwischen Worten, Zeilen, Versen. So entsteht eine Verbindung, ja, eine Verschmelzung, ein Gesang.

„ …Wir hören mit den Lakenohren, leicht

verklebt, die Häuser rufen, Welpen schreien mit Kinder-
stimmen oder welpenhafte Kinder, die aus Fenstern trieften,
Welpen warfen, zu den kreischenden Hornissen ….“

Aber auch der zweite Teil aus der Titelzeile ist gewichtig und legt sich fast durchgängig auf jedes Kapitel: der Abschied, die Einsamkeit. Überhaupt scheint mir Unberührbarkeit ein Merkmal von Hüngers Spracharbeit: Was eben noch auf der Zunge zergeht, ist im nächsten Moment schon wieder gefroren. Ein ständiges oft unruhiges Hin und Her zwischen Zweisamkeit und dem Erlebnis Einsamkeit zeigt sich und macht sich breit. Ein Kampf tobt zwischen diesen Aggregatzuständen – welcher ist leichter aushaltbar?

„ … üb dich mein Bürschlein im GEH ODER BLEIB
aber üb dich am Alphabet sind manche schon verzweifelt
zwei Finger kurz vor knapp daneben wie auch immer …“

Nancy Hünger macht es ihren Leser*innen nicht immer leicht. Mit einmal lesen ist es nicht getan. Auch mit zweimal nicht. Ihre Lyrik beansprucht äußerste Konzentration und starke Zuwendung. Das Schöne: Je öfter man liest, desto mehr lassen sich die Gedichte durchdringen, sie öffnen sich. Hünger spielt ihr lyrisches Ich und oft das lyrische Wir gegen alles aus. Ich und Wir treten niemals zurück in den Versen, sie sind in großer Dichte präsent, stehen im Vordergrund: das Orchester stimmt sich ein. Dahinter die Bühne der Worte, die Schauspieler: bis sie ihren Platz einnehmen, passend ankommen im Kopf der Leser*innen, darf Zeit vergehen.

„ … ich erkenne niemanden
wieder die Gesichter drehen zum Mond

und Sicheln fahren darüber. Die Zeit
weiß nicht weiter, geht unter in uns
drehen die Gestirne. Ist jeder allein.“

Durch das ganze Buch zieht sich stetig der Strom der Zeilensprünge, fast jede Zeile, kaum ein Vers ohne Bruch. Das bremst immer wieder den Lesefluss, zwingt langsamer zu werden. Es ergeben sich immer wieder neue Lesarten.

„… wer weiß schon wie es sich ausnimmt
in meinem Zimmer werden die Bücher verpackt
ist was du hattest gar nicht mehr so viel was du brauchtest
waren zwei drei kleine Gedichte und ein wenig Musik …“

Was ebenfalls auffällt sind Hüngers besonders schöne Versenden, immer hat sie den Dreh genau heraus, wie sie ihr Gedicht beenden will. Hier setzt sie starke Akzente. Zufall scheint es dabei nicht zu geben, alles entspricht der beabsichtigten Komposition. Manchmal entsteht dadurch aber auch eine seltsame Abstraktheit mit wenig Raum für Emotionen. Einige Gedichte stehen mir sehr verkopft gegenüber, was besonders bei den erotischen und Liebesgedichten im Kapitel „volvere“ verwundert. Die Überschrift dieses Kapitels zeigt sich jedoch stimmig, wenn man nachliest, wie viele Bedeutungen dieses Wort hat.

„Dieses Gefühl klang nirgendwie irgendwie profan nach
Gefühl war uns wenig durchtrieben wir also Wörter
und hießen es Schnee sagten ICH SCHNEIE DICH
aus meinen Wimpernkränzen umschnei ich dich …“

In diesem, aber auch in einigen anderen Kapiteln benutzt Hünger eine immense Vielfalt kreativer Worterfindungen: So geht es durchs „Knickicht“und zwei „jochandeln einander“. Dergleichen eingeflochtene Neuworte regen die Phantasie an. Stellenweise wird es auch fast zu viel, wenn Hünger den Bogen überspannt. Dann wieder folgen solch außergewöhnlich schöne Sequenzen wie hier:

„… nur lass mir die kleinen Partien kann ich nicht hergeben den
Mund verwahre ich für die Männer die ich wollte habe ich
WUND UND WUNDER geküsst die Männer die ich wollte
sind alle zwischen meinen Lippen gefährlich schön erstickt.“

Hier, wie im Kapitel „Ach diese herrlichen Schwendtage, diese“ stehen die Gedichte alle im Blocksatz, wirken vom Satzbild her unzugänglich, verschlossen. Andere Kapitel enthalten luftigere Formen. So ist das Kapitel „Leb wohl, gute Reise“ in Dreizeilern angelegt. Diese Form erinnert an eine volkstümliche italienische Liedform (Stornello). Passend dazu befindet sich Hünger hier auf den Spuren Goethes in Italien. Dieses Kapitel scheint mir eines der stärksten des Bandes zu sein. Eine Reise nach Sizilien wird hier zum verdichteten Thema.

„ … Wir wechselten vier Löhne gegen Land und
eine Sprache aus den Fernwehkatalogen
schnitten wir den Süden Goethes aus …“

Doch was aus diesen Versen herauszulesen ist, lässt sich schwerlich mit Goethes Italien vergleichen. Die Zeit hat Wunden geschlagen, viel mehr der Mensch. Hünger findet hier einen besonderen Rhythmus, einen eigenen Klang, alles fließt. Ihre Gedichte durchleuchten die vermeintliche Idylle, werden zu Klagen, zu Anklagen, zu kritischen Fragen.

„ … und lasen aus den Stichwortkatalogen:
Europa, Menschheit, Wiege, Strandverbot,
das schöne schöne Abendland war abgebrannt

und glühte rauch- und rußgeschwärzt auf den Wangen
der Atom-U-Boote, Schauerbojen, die im Stahlbad
schweigsam Kriegsschlaf hielten …“

oder

„ … Unsre Füße
stießen immerzu ans Meer und selbst die Sterne

waren schmutzig in jenen Nächten, als sich die Stadt
an Straßen strangulierte. Wir hörten Achsen brechen
und dieses leise Stöhnen. Die Palazzi röchelten. …“

Im Kapitel „Familiarium“ findet sich ein sehr starkes längeres Gedicht namens „Meine fünf ungeborenen Töchter“ – ein wirklicher Höhepunkt. Es ist das vielschichtigste, bemerkenswerteste, bedeutungsvollste, selbstkritischste Gedicht dieses Bandes, bestehend aus acht Sechszeilern. Es ist eine Klageschrift, eine Mahnung, ein Aufruf an das Selbst und an die Welt. Gleichzeitig enthält es die ewige Frage: Kann Lyrik im großen Weltgeschehen überhaupt etwas ausrichten, gar verändern?

„… meine fünf ungeborenen Töchter rufen mich zweimal
die Woche über Satellit fragen sie nach der Lage
und der prozentualen Niederschlagsdichte meiner Tränen
sie fragen nach den Adressen von Diktatoren
dem Generalschlüssel für Gefängnisse und den neuesten
statistischen Erhebungen zur menschlichen Dummheit …“

Das letzte Gedicht im Band namens „Angesichts der entfesselten Publikationsverhältnisse“ ist wieder außergewöhnlich, auch in der Form, und bildet einen treffenden Abschluss. Es ist ein fortlaufender Fließtext, der jedoch durch Querstriche fortwährend unterbrochen wird und so die Zeilenumbrüche andeutet. Auf zweieinhalb Seiten wird hier stakkatohaft aus einem Dichterleben erzählt: die Themen der zeitgenössischen Dichtung werden aufgezählt, die prekäre Situation angesichts des Standes der Lyrik im Literaturbetrieb wird angedeutet, alles nur rein hypothetisch. Das Gedicht endet so:

„… was wäre / wenn wir alle nur noch so täten / als ob
/ dann müssten wir / rein theoretisch / versteht sich / unsere
Preisgelder / ehrlicherweis / rückerstatten / stell dir das /  rein
hypothetisch / versteht sich / mal vor“

Ich empfehle Nancy Hüngers Lyrikband nachdrücklich.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf fixpoetry.

Kirstin Breitenfellner: Maria malt Picus Verlag


„Jede Zeichnung ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“

Die Autorin Kirstin Breitenfellner hat der wunderbaren österreichischen Künstlerin Maria Lassnig einen Roman gewidmet. Gleich mit dem Cover taucht die Leserin ein in Lassnigs Malerei: „Selbstporträt als Tier“, 1963 entstanden. Ich hatte das Glück, dass es gerade hier in Berlin eine kleine Ausstellung von Maria Lassnig gab, was die Lektüre bestens ergänzt hat und meinen Eindruck der Besonderheit dieser Künstlerin bestätigt hat.

So erlebt Maria gleich als Kind, dass zwischen weiblich und männlich ein großer Unterschied besteht. Und sie wird es noch lange spüren, denn auch die Kunstwelt, in die sie sich mutig hinein begibt, bevorzugt männliche Künstler.

„Wenn man einen Sohn bekommt, dann trinkt man Wein, und wenn man ein Mädel bekommt, Wasser, sagt die Mutter. Und dann rennt man noch mehr davon, als wenn man einen Buben bekommt, sagt die Mutter, sie hat es schon so oft gesagt, aber jedes Mal, wenn sie es sagt, wird es noch wahrer.“

Nach einem kurzen Kapitel über Maria Lassnigs Kindheit, sie wird 1919 als uneheliches Kind in Kappel, Österreich, geboren und lebt lange bei der Großmutter, bis die Mutter sie nach Klagenfurt holt, finden wir Maria in Wien wieder, wo sie Kunst studiert. Der Künstler Arnulf Rainer ist ihr Freund. Sie fahren zusammen nach Paris, wo sie auf der Suche nach dem eigenen Stil Paul Celan, Jean Paul Sartre und André Breton kennenlernen. Doch eine Art Initiation erfährt Maria erst in einer kleinen Galerie, wo sie die Art Gemälde findet, die sie auch malen will. Sie will nach innen gehen.

Im Anschluss geht es in vielen Zeitsprüngen durch Maria Lassnigs Leben. Nicht trocken sachlich, sondern sprachlich sehr fein ausgearbeitet. Der kurze Satz „Maria malt“ kommt wie ein Mantra immer wieder daher und zeigt so auch die Wichtigkeit dieser Tätigkeit. Wenn sonnst alles im Argen liegt oder menschliches Chaos herrscht, wird gemalt. Jede Liebesbeziehung wird auserzählt und damit auch die besonderen Schwierigkeiten, die Maria mit den Männern hat. Bindungs- und Freiheitswunsch lassen sich oft schwer unter einen Hut bringen. Meist sind die Männer jünger. Auch im Älterwerden bleiben die Liebhaber immer jünger. Doch eine ernsthafte Beziehung geht Maria später nicht mehr ein.

„Wenn ein Mann heiratet, dann um seine Kunst zu finanzieren. Wenn eine Frau heiratet, dann um ihre Kunst aufzugeben.“

Da ist Arnulf Rainer, der eigentlich als ihr Schüler auftaucht, sich aber sehr gut vermarkten kann, was Maria nicht kann und auch nicht will. Sie bleibt ihrem Weg treu. Die Trennung folgt. Ähnliches passiert mit dem Lebenskünstler Buddy, später dem noch jüngeren Ossi. Viele der Männer sind von Kriegserlebnissen traumatisiert. Noch mit 35 Jahren wird sie von der Mutter mit Lebensmitteln und Geld versorgt, obwohl sie zwar Ausstellungen hat, aber doch die wenigsten etwas von ihr kaufen wollen. Das kleine Atelier in Wien muss ja bezahlt werden.

„Maria lernt etwas: Es ist nicht notwendig, seine eigene Kunst zu erklären, denn es will sowieso niemand wissen, worauf sie hinauswill. Was in ihr drinnen ist und aus ihr herauswill. Hauptsache, Maria weiß es selbst, in ihrem Herzen.“

Erst im Alter von 40 Jahren hat Maria Lassnig ihre erste Einzelausstellung. Beteiligungen gab es zwar schon lange, doch Maria bekommt immer wieder zu spüren, dass sie es als Frau eben schwerer hat. Das kann Maria kaum ertragen. Die Kritiken, die auf die Ausstellung folgen scheinen zwar gut, doch Maria spürt, dass sie es in Wien nicht wirklich schaffen kann. Zumindest nicht so, wie sie ihre Kunst erarbeitet und versteht. Sie geht nach Paris für einige Jahre, dann für sehr lange nach New York.

„Wenn Marias Kunst „durchaus maskulin“ anmutet, heißt das natürlich, dass sie nie an das Lob, das für Männer bereitgehalten wird, herankommen wird. Dazu braucht es keine prophetischen Gaben. Die Volkszeitung schlägt in dieselbe Kerbe und meint, dass bei Maria eine „für eine Frau auffällige Beteiligung des Intellekts“ zu erkennen sei.“

Mitten im Roman kommt unerwartet, aber sehr aufschlussreich, noch ein längeres Kapitel über Marias Kindheit. Als sie noch Riedi genannt wurde und die Mutter sie mit nach Klagenfurt zum „neuen“ Vater nimmt. Was Riedi zu erdulden hat mit einer derart kalten Mutter (von der Maria auch später kaum los kommt, eine Art Hassliebe?), lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Aus dem Text heraus lese ich, dass Maria als Kind schon hochsensibel war und es damit ohnehin schwer hatte. Eine gesunde sichere Bindung durfte sie wohl nie erleben und das setzt sich oft in ihren späteren Beziehungen fort. Zudem steht für Maria immer die Kunst im Vordergrund.

„Was Maria nicht versteht: Wie man zugleich ein guter Künstler sein kann, also schwer, und guter Gesellschaftsmensch, also leicht.“

Paris scheint nicht der richtige Ort zu sein um weiterzukommen. New York ist es. Hier kann sie weiter an ihren unzähligen Trauerbildern malen, nachdem die Mutter starb („Maria weint mit dem Pinsel.“). Hier findet sie auch den Zusammenhalt von Frauen, den sie bisher in Europa vermisst hat. Maria Lassnig wird bekannter, hat Ausstellungen, malt Bilder. Hier erkundet sie auch andere Techniken, wie das Zeichnen und bearbeiten von Trickfilmen. Doch das Malen bleibt immer die Herzenskunst. Ein Jahr verbringt sie in Berlin mit einem Stipendium. Im Jahr 1980 kommt die Berufung als Professorin an die Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Maria kehrt nach Österreich zurück.

In der Hochschule kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit den jüngeren Schülerinnen und auch die Konkurrenz zu Arnulf Rainer lebt wieder auf, da er an der Akademie der Künste ausgerechnet Malerei lehrt. Er, der vor allem „übermalt“. Letztlich erkennt Maria als sie längst in Pension ist und in ihrem mitten in der Natur gelegenen Ruhesitz in Kärnten, dass die Schüler ihr doch auch am Herzen lagen. Im letzten Kapitel, das in der Ich-Form geschrieben ist, durchlebt Maria eine Art Rückschau und obwohl sie mit 80 alt ist, fühlt sie es nicht so. Sie will immer weiter malen.

Kirstin Breitenfellner hat sicher viel recherchiert und sich eingefühlt. Ihr Blick liegt immer wieder auf der besonderen Sensibilität der Künstlerin. Die Betonung, aus einer erspürten Körperlichkeit heraus, aus dem innen heraus zu malen, die Bilder in Ruhe aufsteigen zu lassen und nicht nach der Mode zu malen, nicht für alles Geld der Welt. Die Betonung, dass es Frauen sehr viel schwerer im Kunstbetrieb haben, die auch Maria immer wieder einholt, ist auch heute/jetzt noch genauso stimmig. Mal klebt sich Maria einen Bart an, mal will sie keine Künstlerin sein, sondern Künstler. Sie verabscheut diese Festlegung auf „Frauenmalerei“, die natürlich immer von Männern kommt. Die Autorin hat zudem eine ganz wunderbare Sprache gefunden, die diesen Roman für mich zusätzlich zum Inhalt sofort leuchten lässt. Große Empfehlung für Kunstfreund/innen!

Der Roman erschien im Picus Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Neujahrs-Sonntags-Literatürchen

Jeden Sonntag ein Türchen zu aus verschiedenen Richtungen leuchtender Literatur.
Frohes Neues Jahr!

Mariette Navarro: Über die See Kunstmann Verlag


Diesen kurzen Roman muss ich unbedingt noch nachreichen. Er sollte bei den liebsten Romanen 2022 dabei sein. Ich habe ihn spontan gekauft und an einem Nachmittag beglückt ganz durchgelesen. Es sind nur etwa 150 Seiten und ich habe sehr langsam gelesen, um die Sprache einwirken zu lassen. Es ist eine ganz besondere, oszillierend leuchtende Geschichte. Ich habe folgendes beim lesen dazu notiert:

… das Gefühl bei den allerersten Zeilen eines Buches, zu wissen, dass es das richtige ist. Wenn die Sprache sofort leuchtet und ganz tief und zugleich weitend im Körper zu spüren ist und in Verbindung mit der eigenen tritt. Ein Ankommen, das Gefühl einer großen Freude, dass es so etwas gibt. Etwas, dass ich nicht (mehr?) in menschlichen Begegnungen finde. Aber in der geschriebenen Sprache anderer Menschen bisweilen schon.“

Vom Inhalt des Textes möchte ich nur wenig erzählen, denn es wäre schade zu viel zu verraten und es würde den Lesegenuss mindern. Nur soviel: Es geht um eine Kapitänin eines Frachtschiffes, die eine zwanzigköpfige ausschließlich männliche Crew zu führen hat und sich den Respekt hart erarbeitet hat. Als Tochter eines Kapitäns war es für sie nie eine Frage, dem Vater im Beruf nachzufolgen. Auf einer Überfahrt von Europa in die Karibik öffnet sich die Kapitänin dem außergewöhnlichen Wunsch der Mannschaft, einmal im Ozean schwimmen zu dürfen. Sie sagt: „Einverstanden“. Und dieses Einverstanden kommt ihr plötzlich selbst seltsam vor, durchbricht es doch schließlich die strengen Hierarchien, die für die Führung eines Schiffes notwendig sind. Auch weiterhin passiert Unerwartetes auf dieser Reise …

„In die vertraute Geste, die Geste der Arbeit, die Tag für Tag wiederholte Geste hat sich eine Verzögerung eingeschlichen. Eine winzige Verzögerung, die es vorher nicht gab, eine Sekunde in der Schwebe. Und in dieser schwebenden, dieser verschwommenen Sekunde hat sich sofort das restliche Leben ausgebreitet, hat es sich bequem gemacht und seine Folgen nach sich gezogen.“

Der wunderbare Anfang des Romans, S.7

Die Französin Mariette Navarro hat eine Sprache, die mich sofort trifft. Ich lese den ersten Absatz und jubiliere innerlich. Das kommt so selten vor. Bei Gedichten kenne ich das auch. Ich weiß dann sofort, dieses Buch ist für mich geschrieben. Kennt Ihr das? Es ist das Schönste, was mir als Leserin passieren kann. Ich fühle mich be-seelt. Die Autorin kann Geschehnisse und Dinge um-schreiben und ausschmücken oder reduzieren auf die Essenz. Sie schickt mir Metaphern und Wortgefüge, ich die ich mir sofort zu eigen machen möchte. Es ist eine sinnliche, bildhafte Sprache, die sowohl innermenschliche Befindlichkeiten, als auch Außenwelten unglaublich treffend einfängt.

„Es gibt Seefahrer, von denen manche nie das Meer gesehen haben und die sich selbst nie so nennen würden., weil sie diese Bezeichnung nicht kennen. Sie haben etwas von Vermissten an sich, während man mit ihnen spricht, während man sie ins Leben drängt, um die Angst zu bannen, sie berührt und ihnen Versprechen abringt.“

S. 35

Hinzu kommt der Schauplatz, der durchweg auf dem Wasser, dem Ozean spielt. Auf einem Schiff „Über die See„. Tagelang nur umgeben von Meer, kein festes Land unter den Füßen. Das Schiff wird zur Insel. Für Wassermenschen, wie ich einer bin, ist dieses Buch ein Geschenk. Es ist außerdem eine Vater-Tochter-Geschichte, aber nur wenn man es als solche lesen will. Ich will. Mir hat es gerade in diesem Kontext viel gegeben. Und es hat für mich auch eine spirituelle Dimension, ein Geheimnis, wie etwa gute Gedichte es haben. Es spricht auch von Begebenheiten, die sich dem allzu strengen Verstand entziehen, aber nur, wenn man es so lesen will. Ich will. Meeresleuchten am letzten Tag des Jahres!

Die Übersetzung kommt von Sophie Beese. Eine Leseprobe gibt es hier: https://www.book2look.com/vBook.aspx?id=978-3-95614-510-0

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen Luchterhand Verlag


Nun ist er da, der zweite Band der biographischen Romantrilogie von Leïla Slimani. Hier erzählt sie die Geschichte ihrer Familie, die im ersten Teil „Das Land der Anderen“ in Frankreich begann, als ihre Großeltern sich nach Ende des zweiten Weltkriegs in Straßburg begegneten, heirateten und in die Heimat des Großvaters Amine, nach Marokko zogen.

Zu Beginn wird Aischa Belhaj von ihren Eltern nach Marokko zurückgerufen. Sie ist zum Medizin-Studium in Straßburg, im Elsass, der Heimat ihrer Mutter Mathilde. Doch es ist Sommer 1968 und die Studentenunruhen in Frankreich machen der Familie Angst. Sie wollen ihre Tochter in Sicherheit wissen. Für Aischa ändert sich dadurch vieles. Sie trifft ihre alten Freundinnen wieder. Besonders mit Monette versteht sie sich wunderbar. Bei ihr und ihrem Freund verbringt sie dann auch den Sommer. Sie haben ein kleines Haus am Meer. Hier lernt sie Mehdi kennen, den man Karl Marx nennt. Er studiert Ökonomie und ist sofort von Aischa gebannt. Bevor die beiden sich wirklich näher kommen können, rufen die Eltern wieder um Hilfe. Diesmal ist es der Bruder Selim, der verschwunden scheint. Mehdi fährt sie mit seinem Auto zur Farm, doch dann begeht er eine Dummheit, die die beiden wieder voneinander trennt.

Aischas Bruder Selim spielt in diesem Band auch eine Rolle. Zunächst geht er eine Liebesbeziehung mit seiner verheirateten Tante Selma ein, später verlässt er die Familie und gerät in Essaouira in eine Kommune, die aus europäischen Hippies besteht und beginnt Drogen zu konsumieren. Hier hält man ihn aufgrund seiner blonden Haare ebenso für einen Europäer. Wie sich später zeigt, schreibt er Selmas Tochter Sabah regelmäßig Briefe. Während man versucht mehr zahlungskräftige Touristen ins Land zu locken, sind Hippies nicht mehr gern gesehen. Selims Schicksal bleibt lange Zeit ungewiss, bis es aus unerwarteter Richtung ein Lebenszeichen gibt.

Mehdi wird nach dem Studium ein höherer Beamte im Steuerministerium, er schreibt nicht mehr und kehrt sich ab von marxistischen Lehren, wird sogar aufgrund seiner Position und seinen Kontakten zur Geburtstagsfeier des Königs eingeladen. Wie es das Schicksal will, begegnet er an genau diesem Tag Aischa wieder, die für den Sommer aus Frankreich zurückkehrt. Und bleibt dadurch am Leben, da er nicht in den Putsch gerät, den die Militärs genau an diesem Tag anzetteln. Auch einen zweiten Anschlag überlebt der König später.

Nach ihrer erneuten Begegnung und Versöhnung feiern Mehdi und Aischa ihre Hochzeit auf dem Hof ihrer Eltern. Mathilde plant die Hochzeit akribisch und es wird exklusiv und teuer. Die beiden ziehen in ein Haus in der Hauptstadt. Aischa spezialisiert sich als Ärztin auf Gynäkologie, Mehdi entpuppt sich als wenig emanzipierter Ehemann.

„Und was Aischa ihm erzählte, wenn sie aus dem Krankenhaus kam, erschien ihm nicht nur uninteressant, sondern sogar unappetitlich. Sein Leben lang hatte er gehört, was Mädchen zu tun oder zu lassen hatten, worin tugendhaftes Benehmen bestand, und er fühlte sich berechtigt, über jene die Nase zu rümpfen, die zu laut redeten oder sich aufreizend benahmen. Und alles, was die Geheimnisse des weiblichen Körpers betraf, fand er zutiefst abstoßend.“

Doch beide sind von ihrer Tätigkeit erfüllt und gehen in ihrer Arbeit auf. Bei Aischa zeigt sich manchmal das Balancieren zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen – durch das Studium ist sie eben auch von Frankreich geprägt. Die Geschichte endet 1972 mit der Geburt einer Tochter …

Dieser zweite Band bleibt, wie ich finde, etwas hinter dem ersten zurück. Ein Grund ist für mich, dass zu viel von männlichen Figuren die Rede ist und Aischa, die ich als Hauptfigur sehe, zu sehr im Hintergrund steht. Mitunter ist mir auch der Ton, wie manchmal im ersten Band etwas zu pathetisch, bei Liebesszenen blumig bis kitschig. Mal sehen, wie es im dritten Teil weitergeht und ob sich dann ein gutes Ganzes daraus formt.

Schaut, wie wir tanzen“ erschien im Luchterhand Verlag. Übersetzt aus dem Französischen hat es Amelie Thoma. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Den ersten Teil habe ich bereits hier besprochen:

Friederike Haerter: Im Zugwind flüchtender Tage Aphaia Verlag

Friederike Haerters Debüt-Gedichtband spricht mich bereits äußerlich sehr an. Ein wunderschönes Cover und im Umschlag ein Stilleben mit Feigen. Von Pamina Adele, steht im Impressum, stammen die Illustrationen, die mit den Gedichten harmonieren.

Mit Friederike Haerters Gedichten begebe ich mich auf eine Reise durch die Zeit, und durch verschiedene Länder, sie erzählen Geschichten. Sie folgen einer Chronologie, die sich am Lebenszyklus orientiert. Dass sie teils autobiografisch sind, schreibt die Dichterin auch in ihrem Nachwort.

„nur Kastanien sind krank
geschrieben löchrig braune
Hände kritzeln in den Wind

der Himmel bedeckt sich mit
all den verworfenen Skizzen“

Eingangs betreten wir eine Landschaft, die von einem jungen lyrischen Ich besiedelt ist. Es dürfte sich um die Heimat-Landschaft der Dichterin handeln: es ist die Uckermark nahe der Oder, aber auch bereits nahe der Ostsee. Eine Kindheit in dieser Gegend war prägend, ein Leben auf dem Land zumal bei einer Geburt im Jahr 1989, als alles sich veränderte, politisch wie privat, vieles sich öffnete, manches sich schloss. So streifen wir mit der Protagonistin als Kind durch die Natur, erleben deren wilde Nähe und dann wieder die Suche nach Zugehörigkeit bei den Menschen. Es gibt ein „Wir“, es sind offenbar Geschwister oder Freundinnen, die gemeinsam mit der Fantasie spielen, Drachen steigen lassen, eigene Abenteuer kreieren, ganz unbekümmert. Besonders hier erinnern mich die Gedichte an Kerstin Beckers Lyrik im Gedichtband „Biestmilch“.

„wir hatten Land
hinter Kanten aus Gras
Im Nirgend wo Grenzen verliefen
war Land aus dem Wind
die Drachen stiegen
bunte Kreuze hochgeworfen in die Luft
an einem Faden der so tief
in unsre Kinderhände schnitt“

Die Texte lassen mich auch einen Werdegang erkennen. Ein flügge Werden, ein weg von zu Hause, sogar weit weg. Die eigene Wohnung in Paris (?) folgt, das sich fremd fühlen, die Einsamkeit, aber auch die neuen Chancen. Es folgen Reisen durch andere Länder, noch weiter weg. Und immer wieder die Rückkehr. Die Heimkehr, wenn auch nur kurz. Sehr sinnlich sind die Gedichte, besonders dann, als eine neues Fühlen hinzukommt: das Körpergefühl einer Schwangerschaft, die Inbesitznahme des Körpers durch ein lebendiges wachsendes Wesen.

„und ich stelle mir vor
ein Kind
das sinkt in Richtung Welt
die Schnur die es an mich bindet
meinen Leib
ein Heißluftballon
der sich mit Atem füllt und steigt“

Und auch dann führt der Weg weiter. Neue Orte, neue Landschaften, innere wie äußere. Veränderungen, die auch das eigene Schreiben der Hauptfigur immer wieder in Frage stellen. Doch der Drang des zu Papier bringen Wollens, ja Müssens, der Wortwuchs, lässt sich nicht aufhalten. Und endet, vorerst, im Erscheinen dieses Debütbands, der eine große Sprachbegabtheit zeigt.

„draußen läuft ein Tag
blau an, in die engen Schläfen
presst er sich das
ganze Leuchten
licht belaubter Seelen
eine Linde stillt die Luft“

Viele viele spannende Zeilensprünge gibt es, mehrmals neu lesbar, variantenreich. Was mich vor allem fasziniert, ist die Art, wie Friederike Haerter ihre Gedichte zu Ende bringt. Sie überrascht mich da immer wieder. Die Verse enthalten einen Rhythmus, der mich durch die Zeilen treibt und jeder Reim passt. Und dann immer wieder der starke Schluss. Kein Paukenschlag, aber ein Zimbelklang. Ich, die ich selbst immer mit dem Schluss eines Gedichtes zu kämpfen habe, bin davon begeistert. Die Gedichte sind oft gar nicht lang und enthalten doch alles was nötig ist, um deutlich Bilder aufsteigen zu lassen. Ein stimmungsvolles Debüt! Lesenswert auch, was die Lyrikerin über ihr Schreiben im Nachwort erzählt. Ich habe oft gedanklich zugestimmt.

Im Zugwind flüchtender Tage“ erschien im Aphaia Verlag. Vielen Dank für das Rezensionsexemplar.