Silvie Schenk: Maman Hanser Verlag

„Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.

Eines der vielen Bücher, die in dieser Saison mit dem Thema Mutter-Tochter-Beziehung aufwarten, ist Silvie Schenks Roman Maman. Bereits ihr Roman „Schnell, dein Leben“ hat mir gut gefallen. Schenk ist gebürtige Französin, Jahrgang 1944, lebt aber seit langem in Deutschland.

Silvie Schenk versucht das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Die Mutter selbst erzählte nie etwas, wie das in dieser Generation oft der Fall war. Für Fragen, die immer wieder aufgeschoben wurden, war es irgendwann zu spät. Das Wenige was sie weiß, verbindet sie mit Fiktivem. Sie fühlt und denkt sich gerade zu hinein in die Mutter. Sie beginnt bei ihrer Großmutter, die ihre Tochter unehelich geboren hat in einem Krankenhaus für Arme. Sie starb bei der Geburt.

„Die Hilfsarbeiterin eines Seidenproduzenten, die Wäscherin, das Dienstmädchen eines bürgerlichen Hauses konnte ihre Kinder nicht von ihrem Lohn ernähren. Im Ersten Weltkrieg sowieso nicht. Prostitution war gang und gäbe. Die Männer bumsten und zahlten. Die Frauen entbanden und starben.“

Die Tochter blieb einige Zeit in der Obhut eines Säuglingsheims und wurde dann an eine Pflegefamilie gegeben. Schenk hat unglaublich viel recherchiert. Sie erfuhr, dass es dem Kind in der ersten Pflegefamilie nicht gut ging, in der zweiten aber hatte sie es gut getroffen. Die neue Pflegemutter sorgte gut für die Bedürfnisse des Mädchens, sie wurde geliebt und sie erfuhr Bildung. Trotzdem wird sie sich immer ein wenig verloren und fremd fühlen.

„Sie lebt schon immer in der Unwissenheit. Eine alte durchlöcherte Unwissenheit in Bezug auf die Vergangenheit und eine glatte, noch entfernte Ignoranz in Bezug auf die Zukunft. Sie ahnt dunkel, dass Wissen diejenigen zerstört, die sich dafür nicht eignen.“

Später wurde für sie ein Ehemann ausgesucht. Einen eigenen Willen scheint sie kaum entwickelt zu haben. Doch mit der Ehe stieg sie weiter auf: der Ehemann ist Zahnarzt. Ob es Liebe gab zwischen den beiden, ist schwer zu sagen. Sie bekommt fünf Kinder. Darunter Silvie, die ihren eigenen Kopf entwickelt.

Ich finde erstaunlich, wie gut die Autorin aus den wenigen Fakten ein Leben zusammenbaut. Immer weiß man beim Lesen, es könnte auch etwas anders gewesen sein und doch war ich fasziniert, wie Schenk aus Biographischem hervorragende Literatur macht. Gerade das etwas Unklare und Undurchschaubare macht den Reiz aus und gibt der Sprache einen besonderen Raum. Schenk stellt sich Fragen und beantwortet sie in literarisch interessanter Weise. Deutlich besser beispielsweise, als Durs Grünbein, dessen neuen Roman „Der Komet“ ich gerade lese, und der auch fiktiv auf wenigen bekannten Daten basierend, aus der Biographie seiner Großmutter erzählt.

„Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase. Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als ein angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht.“

Dabei kommt eine Schlüsselszene vor, die heraussticht, weil hier so etwas wie ein Aufbruch stattfindet, ein eigener Wille sichtbar wird: der einzige Seitensprung, eigentlich die eigennützige Verführung von Seiten eines Bekannten, der die Mutter so überwältigt, dass sie ihre Sachen packt und weg vom eigenen Mann zu dem verheirateten angehimmelten Mann reist, dafür sogar ihren Verlobungsring versetzt, da sie keine eigenes Geld hat. Da er längst aus Frankreich weg gezogen ist, bleibt nichts als die demütigende Rückkehr zu Ehemann und Kindern. Und damit wieder in die eingefahrene vorgesehene Rolle. Die ewig strickende, schweigende, wenig gebildete, unglückliche Mutter, die hinter ihrem Mann verschwindet.

Silvie Schenks Roman hat mich sehr beeindruckt. Er erschien im Hanser Verlag, er stand auf der diesjährigen Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

2 Gedanken zu “Silvie Schenk: Maman Hanser Verlag

  1. Ich mochte das Buch sehr. Schenks Erzählerin tastet sich sehr vorsichtig an das ihr fremde Leben heran, und bei diesem Herantasten schwingt so viel Liebe und Freundlichkeit mit, dass mir warm ums Herz wurde. Bei den vielen Mutter-Problematisierungen neuerdings fand ich dieses Buch erfrischend unproblematisch und mysteriös, denn das ist das Leben der meisten für mich, mysteriös.

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    • Ja, ich fand ihr Schreiben auch sehr behutsam und sensibel. Obwohl sie ja andererseits auch schreibt, dass sie nichts Gutes über sie zu sagen weiß. Ich denke auch, dass Mutter-Tochter-Beziehungen sehr besonders und oft (auch unausgesprochen) sehr konfliktträchtig sind.

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