Elizabeth Graver: Kantika mare Verlag


Die wechselvolle Geschichte einer jüdischen Familie erzählt uns die US-Amerikanerin Elizabeth Graver hier in Kantika. Wie Graver im Nachwort schreibt, ist es eine Mischung aus autobiographischen und fiktiven Teilen. Vor allem setzt sie hier ihrer Großmutter ein Denkmal, die auch die Hauptfigur im Roman ist. Der Text ist chronologisch gegliedert und untermalt mit Fotos aus dem Familienalbum. Kantika – der Titel sagt es bereits: die Musik und der Gesang spielen eine wichtige Rolle.

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und der offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantar, singen.“

Die Geschichte spielt in der Zeit von 1907 bis 1945. Wir erleben das Aufwachsen der Hauptfigur Rebecca im bunten weltläufigen Konstantinopel/Istanbul um 1910. Es ist eine behütete Kindheit in einer wohlhabenden sephardisch-jüdischen Familie. Bis die Sicherheiten ab den 20er Jahren langsam zu bröckeln beginnen. Der Vater, angesehener Geschäftsmann, der jedoch mit dem Geld leichtsinnig umgeht, die Geschäfte, die nicht mehr gut gehen, und die Bedrohungen der Außenwelt, die in den idyllischen liebevoll angelegten Garten eindringen, zeugen davon. Rebeccas beste Freundin Lika wandert mit ihrer Familie nach den USA aus, ein großer Verlust. Rebecca lernt nähen und verdient bald ihr eigenes Geld. Sie heiratet einen nicht wirklich geliebten Mann, der sie immer wieder im Stich lässt, mit zwei Kindern allein lässt und sie bald zur Witwe macht, so dass sie zu den Eltern zurückkehrt und wieder zur Arbeit geht.

Die Situation spitzt sich zu. Es ist 1925. Auch die Eltern planen eine Auswanderung. „Zurück“ nach Spanien, woher sie ursprünglich stammen, dessen Sprache sie kennen. Doch es wird ein Abstieg. Der Vater findet Arbeit in einer Synagoge, die Familie wohnt in einer Wohnung darüber. Rebecca und ihre Brüder suchen Arbeit, was mit jüdischer Herkunft schwierig ist. Und sicher bleibt es auf Dauer auch nicht. Die politisch angespannte Situation in Europa macht sich auch in Barcelona bemerkbar. Die Eltern wollen die Tochter in Sicherheit wissen. Und so wird Rebecca den völlig unbekannten Mann ihrer verstorbenen Freundin Lika auf Kuba treffen, heiraten, nach USA gehen, ihre eigenen Kinder nachholen und seine behinderte Tochter als Kind annehmen und es kommen weitere Kinder mit dem neuen Mann hinzu. Beide raufen sich zusammen und auch hier geht Rebecca wieder ihrer eigenen Arbeit nach. Der Tod der Eltern, die in Europa zurück bleiben mussten – die Bürokratie verhinderte, dass die Eltern in die USA kommen durften – wiegt schwer. Der Krieg, der die Brüder nimmt. Nach einer aufreibenden Zeit, stellt sich aber ein dauerhaftes Familienglück ein.

Der Roman schildert das unruhige, aufreibende Leben einer unglaublich robusten Frau, die trotz der ganzen Erschütterungen und Hindernissen nie ihr gutes Lebensgefühl verliert. Die selbständig arbeitet und eigene Entscheidungen trifft, mitunter gegen alle Widerstände. Rebecca singt. Das scheint ihre Ressource ihr ganzes Leben hindurch zu sein. Sehr ungewöhnlich für diese Zeit und für das Umfeld, aus dem sie kommt. Und es weitete sich für mich der Blick auf jüdisches Leben in verschiedenen Teilen der Welt. Sehr interessant und aufschlussreich. Und ganz nebenbei ein echter Schmöker.

Der vielschichtige Roman erschien im mare Verlag. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch wurde er von Juliane Zaubitzer. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Zum 8. März – Weltfrauentag ♀️: Leseprojekt Prosaische Passionen Manesse Verlag


Ich habe ein neues Leseprojekt, welches perfekt zum heutigen Weltfrauentag passt. Seit ein paar Wochen lese ich das wunderbare kostbare und himmlisch schöne Buch Prosaische Passionen. Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat in diesem Band 101 Kurzgeschichten ausschließlich von Autorinnen herausgegeben. 101 sozusagen als Pendant zu den 1001 Geschichten aus 1000 und einer Nacht.

„“Frauenliteratur gibt es nicht – genauso wenig wie Linkshänderliteratur oder Rothaarigenliteratur“, definierte die schottische Autorin A. L. Kennedy vor ein paar Jahren, weil Schriftsteller so unterschiedlich seien wie alle Menschen und die Ausdrucksformen und ihre Interessen „so variabel und unvorhersehbar, wie jeder vernünftige Psychologe (und jeder vernünftige Mensch) erwarten dürfte.““

Das Buch erschien bereits im vorletzten Jahr, ist mir aber jetzt erst zugefallen und mir war klar, dass ich den knapp 1000-Seiten-Band sicher nicht in einem Zug durchlesen werde. Deshalb lese ich (ähnlich habe ich es schon beim Leseprojekt Uwe Johnsons Jahrestage gehandhabt) täglich als zusätzliches Pensum, vorzüglich morgens noch vor meiner „normalen“ Lektüre, eine der Geschichten und blättere dann meist sofort neugierig zur Autorinnenbiografie am Ende der Sammlung. Es ist ein weites Feld und ich kann es jeder/m nur empfehlen. Welch eine Fülle! Passend außerdem zu meinem Vorhaben mehr Erzählungen zu lesen. So bin ich 101 Tage lang mit „Frauen lesen“ beschäftigt.

Schon jetzt kann ich sagen, dass einige Perlen dabei sind. Teilweise sind es Namen, die ich noch nicht gehört hatte, teilweise bekanntere. Von manchen werde ich sicher noch mehr lesen. Sandra Kegel hat ihre Auswahl eingegrenzt auf die Geburtsjahrgänge der Frauen: 1850 bis 1921. Sie hat Geschichten aus Europa, aber eben auch aus Südamerika, Asien und Afrika ausgewählt und ich freue mich über diese Vielfalt. Und ich hoffe, dass dieser Band eine Fortsetzung mit den jüngeren Jahrgängen erhält.

Kegel startet mit Sofja Tolstoja, der einzigen Frau, die etwas früher geboren wurde. Und es ist eine würdige Erzählung, die hier den Anfang macht, ist sie doch eine Hommage an die Musik und die darin verborgene Verbindung zum Göttlichen. Meine Favoritinnen auf den ersten 130 Seiten (so weit bin ich bis jetzt gekommen), sind Kate Chopin, Selma Lagerlöff, und mir gänzlich unbekannt George Egerton (ein männliches Pseudonym, wie so oft in dieser Zeit), in Irland aufgewachsen und Sui Sin Far, Tochter eines Engländers und einer Chinesin. Ganz hervorragend feministisch ist die Erzählung “ Wenn ich ein Mann wäre“ von Charlotte Perkins Gilman. Sie beschreibt, wie es wäre, wenn die Protagonistin als ihr Ehemann morgens das Haus verlassen und mit den Kollegen im Zug ins Büro fahren würde. Die Erzählung entstand 1914! (Ich frage mich, ob sich hier bis heute viel geändert hat)

„Und während sie sprachen, gelangte mit diesem neuen Gedächtnis und diesem neuen Begreifen, das den Geist all dieser Männer zu erfassen schien, ein neues und verstörendes Wissen in das unterschwellige Bewusstsein – das Wissen, was Männer wirklich von Frauen halten. […] Im Kopf von jedem Einzelnen und bei allen zusammen existierte offenbar ein Untergeschoss, das nichts mit den übrigen Gedanken zu tun hatte, ein abgesonderter Ort, der ihre Gedanken und Gefühle Frauen gegenüber enthielt.“

Sandra Kegel hat hier wirklich große Arbeit geleistet. Im Anhang finden sich ausführliche Biographien zu den Autorinnen. Zudem gibt es zu jeder Geschichte den Hinweis, wann sie entstand und in welchem Kontext sie zu finden ist. Natürlich werden hier auch die vielen Übersetzer*innen aus 25 Sprachen genannt. Im Nachwort von Kegel, in dem auch der Entstehungsprozess dargelegt wird, liest man gleich eingangs von der Gruppe 47, die vorrangig aus männlichen Teilnehmern bestand und zu der ab und an auch eine Schriftstellerin eingeladen wurde. Nicole Seifert hat zu diesem Thema gerade ein Sachbuch herausgegeben „einige Herren sagten etwas dazu“ (siehe Foto rechts), welches schon hier zur Lektüre bereit liegt. Dazu wird es sicher auch einen eigenen Blogbeitrag geben.

Prosaische Passionen erschien im Manesse Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Weitere Beiträge zum Weltfrauentag aus den letzten Jahren:

Kerstin Hensel: Die Glückshaut Quintus Verlag


Die 1961 in Karl-Marx-Stadt geborene Schriftstellerin Kerstin Hensel ist mir vor allem als Lyrikerin bekannt. Der neue Roman hat mich jedoch gleich angesprochen aufgrund des schönen Covers, aber auch wegen der Beschreibung. Bereits der Titel „Die Glückshaut“ weist auf ein Märchen der Brüder Grimm hin. In „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ kommt ein in einer Glückshaut geborenes Kind vor. Die Glückshaut gibt es tatsächlich, wenn auch bei wenigen Geburten. Der medizinische Fachbegriff dafür ist „caput galateum“ und es handelt sich um Reste der Fruchtblase, die beim Neugeborenen noch über der eigentlichen Haut meist am Kopf anhaften. Das ist aber nicht das einzige Märchen, das in diesem Roman zu finden ist. Es tauchen immer neue Märchenmotive auf und Teile des Romans könnte man auch dem magischen Realismus zusprechen. Hensel mischt Realität munter mit Märchen und das ergibt einen besonderen Roman der in der Zeit von 1804 bis ins 21. Jahrhundert reicht.

Der Roman spielt im Erzgebirge und erzählt von Wilhelmina/Minna Leichsenring, die in einer Glückshaut in eine arme Familie hineingeboren wird. Der Vater, ein Schachtarbeiter verunglückt. Großmutter und Mutter schaffen es kaum die Familie durchzubringen. Minna hingegen ist ein aufgewecktes Mädchen und wird sogar zur Schule geschickt, lernt Lesen und Schreiben.

„Und eigen war das Mädchen! Es besuchte gern die Dorfschule, wo ihm der Pfarrer allerhand einbläute: Rechnen, Lesen, Schreiben, Bibelsprüche. Außerdem plapperte das Minel nicht wie jedermann, sondern sprach Deutsch ohne ortsübliches Grollen und Knarzen. Ein helles Mädchen, meinte der Pfarrer.“

Dennoch sieht ihre Mutter keinen Ausweg, das Kind wegen Armut im Alter von 9 Jahren beim Pilzesuchen im Wald auszusetzen. Hier findet sich, wenn man will, das Hänsel und Gretel-Motiv. Minna allerdings landet nicht im Hexenhäuschen, sondern im Häuschen der 7 Zwerge, denen sie den Haushalt führt, bis alle bis auf einen wegsterben. Mit diesem einen bekommt sie ein Kind, der Zwerg stirbt, das Kind läuft bald davon. Eine sprechende Krähe fliegt Minna zu und berichtet ihr von draußen in der Welt, auch davon was ihr Sohn Johannes/Hans so treibt. –>Das „Hans im Glück“-Motiv.

In Zeitsprüngen erzählt Kerstin Hensel ihre Geschichte, die zwischen Vergangenheit und Zukunft springt, aber zusätzlich mit diversen irren Traumsequenzen und fantastischen Elementen angefüttert ist. Das könnte anstrengend sein beim Lesen, hat mir aber eher großes Vergnügen bereitet. Als Beispiel: ein neuer junger Dorfpfarrer, der die Hostien selbst bäckt, dabei allerdings Fliegenpilzpulver mit in den Teig rührt und somit nach dem sonntäglichen Abendmahl einen großen Aufstand der Dorfbevölkerung vor dem Schloss der Reichen hervorruft, der aber leider nur mit Halluzinationen endet, nicht mit einer Revolution.

Eines Tages beschließt Minna, ihren Sohn zu suchen. Das Häuschen im Wald taugt nicht mehr und ein großes Glück ist trotz Glückshautgeburt für sie bisher nicht eingetreten. Für ihren Sohn aber laut Krähenberichten offenbar schon. So begleiten wir Minna auf einem abenteuerlichen Weg, der sie aus dem Wald ins Dorf, aus dem sie stammt führt, und weiter über Dresden bis nach Chemnitz. Eine Zwischenstation ist dabei die Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein in Pirna, wo Minna wegen ihrer Verwirrung kurzzeitig eingeliefert wurde. Mit 100 Jahren und kaum dass sie ihren Sohn gefunden hat, der als wohlhabender Kommerzienrat Leichsenring überall bekannt ist, ereignet sich ein Unglück und Minna kommt zu Tode.

Es kommt zu einem größeren Zeitsprung. Wir befinden uns wieder auf dem Sonnenstein in Pirna, nur dass die Heilanstalt mittlerweile, wir schreiben das Jahr 1940, in eine Tötungsanstalt umgewandelt wurde, in dem die Nationalsozialisten „unwertes“ Leben versammelten und umbrachten. Hier arbeiten Nachkommen von Minna und Hans, deren Nachkommen wir wiederum durch die Nachkriegszeit (mit Märchenmotiv „Der süße Brei“) begleiten bis in die DDR, durch die Wendezeit, nach der die Villa des Kommerzienrats in Chemnitz, zwischenzeitlich Karl-Marx-Stadt, endlich seinen rechtmäßigen Erben zugeführt wird.

Der erste wesentlich längere historische Teil der Geschichte hat mir besser gefallen als die folgenden und abschließenden. Für mich passen die Märchenmotive und die Fantastereien, die den Roman für mich tragen, am besten in das erzgebirgische Wald- und Dorfbild und in den Miriquidi, den Finsterwald. Manches lokalspezifische habe ich dabei womöglich überlesen, da ich mich mit den Traditionen aus diesem Teil des Landes nicht auskenne. Zeitweise sprechen die Protagonisten im ersten Teil auch den Dialekt des erzgebirgischen Dorfes. Der Teil, der in der Zeit des Nationalsozialismus spielt, hätte gerne ausführlicher sein dürfen und die kurze Phase DDR-Zeit war für mich zu knapp, als dass sie prägend hätte wirken können. Nichtsdestotrotz habe ich hier eine etwas andere „Familiengeschichte“ gelesen, die sich ideenreich, voller Witz und auch sprachlich aus der Menge abhebt. Den Ton des Genre Märchen trifft die Autorin perfekt und ich als Leserin, glaube ihre Erzähllust durch die Zeilen hindurchstrahlen zu sehen.
Empfehlung für dieses Buch über die Suche nach dem Glück!

Der Roman erschien im Quintus Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Die Autorin stellt ihren Roman morgen Abend in der AdK Berlin vor.

Valerie Fritsch: Zitronen Suhrkamp Verlag


Valerie Fritsch ist eine meiner allerliebsten Autorinnen. Von ihr würde ich jedes neue Buch unbesehen lesen. Bereits seit ihrem Gewinn beim Bachmannpreislesen in Klagenfurt 2015 (Text ist noch abrufbar, Link unten) warte ich auf jedes neue Buch von ihr. Die 1989 geborene österreichische Autorin reist sehr viel, wie man auf ihren social Media-Kanälen mitunter sehen kann. Hier entstehen Polaroid-Fotografien und auch zum neuen Roman Zitronen gibt es einige Bilder, wie man auf der Website des Suhrkamp Verlags sehen kann (siehe link unten). Auch dieser Roman hat mir so sehr gefallen, dass ich deutlich mehr Passagen als sonst für Zitate hier im Beitrag markierte. Ich liebe diese Sprache, sie ist so voller Schönheit und Eleganz. Diese Erzählstimme würde ich aus Tausenden erkennen.

„August Drach erinnerte sich merkwürdig unsicher daran, was für ein Kind er gewesen war, und es fiel ihm manches Mal schwer, sich selbst als noch kleiner vorzustellen, als er sich ohnehin schon fühlte in schlechten Momenten.“

Es geht um August Drach, der in einem kleinen Dorf aufwächst, in einem Haus mit Garten mit seinen Eltern. Der Vater versucht sich als Flohmarktverkäufer, die Mutter war früher Altenpflegerin und betreut nun den Sohn. Schnell wird klar, dass der Vater ein Trinker und gewalttätig ist. Er liebt seine Hunde mehr als den eigenen Sohn. Die Mutter kann wenig dagegen ausrichten. Fritsch schildert all das in einer unglaublichen sprachlichen Dichte.

„Und doch gewöhnte er sich an nichts. Wie ihn der Vater immer kleinmachte und daran groß wurde. Wie er die Kälte zelebrierte, nicht ablassen konnte von einem vermeintlichen Fehler. Wie er kein Herz hatte, aber eine Hand.“

Als der Vater von einem auf den anderen Tag verschwindet, hoffen beide auf eine bessere Zeit. August blüht auf, er ist den ganzen Tag mit seinen Freunden im Dorf unterwegs. Das passt der Mutter wenig, sie fühlt sich ungesehen und als August sich einmal eine Grippe holt, genießt sie die Pflege und die Nähe des Sohns, der dann auf sie angewiesen ist. Für August beginnt nun ein Martyrium. Wir kennen das Phänomen, das in der ärztlichen Fachsprache „Münchhausen-Stellvertretersyndrom“ genannt wird. Um sich Augusts Liebe zu versichern, ihn ständig bei sich zu haben und von sich abhängig zu machen, verursacht seine Mutter durch Tablettengabe eine ständige Erkrankung. So erhält sie auch von außen Zuspruch und Anerkennung für ihre Hingabe.

„Sie besaß die Traurigkeit jener Menschen, die Großes vorhaben, aber kaum hoben sie die Hand, schrumpften die Dinge unter den Fingern, verzwergten sich, scheiterten an der Wirklichkeit. Sie war eine von der Welt Überrumpelte, eine wirre Prinzessin, ewig ungekrönt, eine vom Leben zu Fall gebrachte, die, wenn sie sich aufmühte, stets überrascht auf einer Stufe unter jener stehen blieb, von der der Wind sie herabgeweht hatte.“

Erst als die Mutter Lily und der Arzt Otto sich kennenlernen und zusammenleben, könnte sich daran etwas ändern, wie es auch schon bei einem gemeinsamen Sommerurlaub in Italien der Fall war. Doch der Arzt, der die Taten Lilys irgendwann herausfindet, schweigt um der lieben Harmonie willen. So lebt August bis zu seinem 17. Lebensjahr vollkommen abhängig, geht kaum zur Schule, leidet und weiß nicht warum. Die Situation ändert sich erst, als bei einem Gewitter eines Tages der Blitz im Garten in ihn einschlägt und der Stiefvater Otto ihn nach Gesundung von der Mutter fernhält und für sein weiteres Leben und Auskommen in der Stadt sorgt.

„Für einen Wimpernschlag hatte er gedacht, dass nicht das Wetter, aber ein Gott in ihn einschlug, eine heilige, hohe Gewalt in ihm Obdach fand, ihn mit ihrer Größe anzündete, entfachte wie ein Streichholz, bevor sie in den Boden entwich.“

August arbeitet fortan in einer Bar hinter der Theke und hier verliebt er sich in Ada, eine Künstlerin. Was zuerst als große Liebe zu einer schnellen Hochzeit führt, wird auf Dauer immer schwieriger. Augusts Vergangenheit, die Kindheitstraumata holen ihn ein. Er, der nie eine sichere Bindung hatte, hat einerseits Angst vor zu großer Nähe, andererseits vereinnahmt er Ada total, er ist misstrauisch und wird später sogar selbst gewalttätig. Ada trennt sich von ihm, als er das erste Mal zuschlägt. Sie hat Erfahrung damit und kann August doch nicht retten. Wochenlang nach der Trennung vollkommen haltlos, beschließt er zurück zu kehren in sein Heimatdorf. Dort findet er nur noch die pflegebedürftige Mutter vor – und entdeckt ihr Geheimnis.

Die Autorin hat viel recherchiert zu den Themen ihres Buches. Es ist eine schier unglaubliche Geschichte und doch gibt es solche Szenarien oft genug im wirklichen Leben. Valerie Fritsch erstaunt mich immer wieder mit ihren Geschichten, die meist von großer Traurigkeit sind, eine Erlösung ausschließen, aber doch ganz und gar faszinierend sind. Sie verwandelt selbst Traurigkeit, Traumata, Angst, Schuld aber auch die große Macht der Liebe in eine Sprache, die diesen Zuständen noch mehr Tiefe bringt. Eine Sprache die über allem steht. Über der Handlung und über einem Plot. Fritschs Texte sind für mich in Sprache gegossene Liebeserklärungen an Menschen, seien sie auch noch so beschädigt, abgehängt, chancenlos, eigenbrötlerisch oder unnahbar. Dies ist besonders auch in den Nebenfiguren in diesem Roman zu erkennen. Ein zitronengelbes Leuchten!

Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt über den Link unten. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

https://www.suhrkamp.de/hintergrund/zitronen-von-valerie-fritsch-eine-fotostrecke-b-4309

https://bachmannpreis.orf.at/v2/stories/2716219

Ebenfalls von der Autorin hier besprochen:

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson Suhrkamp Verlag

Valerie Fritsch: Winters Garten Suhrkamp Verlag

Inger-Maria Mahlke: Unsereins Rowohlt Verlag


Es ist mein erstes Buch von Inger-Maria Mahlke und es gefiel mir sehr. Im Laufe des Lesens wurde mir bewusst, dass es mir besonders deshalb gefällt, weil es nicht in der heutigen Zeit spielt, weil es mich nicht mit dem mir derzeit fast unerträglichen Zustand dieser Welt konfrontiert und schon gar nicht eine noch schlimmere dystopische Zukunft schildert. Dass man „Unsereins“ in Verbindung bringt mit Thomas Manns Buddenbrooks – geschenkt. Denn es ist ein durchaus für sich selbst stehendes Werk einer wunderbaren Erzählerin.

Wie so oft, leitet der Klappentext ein wenig auf eine falsche Spur. Denn ich hatte nicht den Eindruck, dass hier die Frauen im Mittelpunkt der Geschichte stehen. Etwas was ich schade fand. Das was über die Frauen erzählt wird, zeigt aber deutlich, wie wenig Rechte Frauen zu dieser Zeit hatten, zumindest, wenn sie nicht einer gewissen Oberschicht angehörten. Doch selbst dann waren sie alles andere als selbstbestimmt. Zumindest in dieser kleinen Stadt am Meer. Was mich auch wunderte: Laut Klappentext wird die Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft diskriminiert. Im Text merke ich nichts davon. Womöglich bin ich da nicht sensibel genug. Die Geschichte spielt von 1890 bis 1906 überwiegend in Lübeck.

So begegnen wir den Mitgliedern der alteingesessenen bürgerlichen Lübecker Familie Lindhorst. Der Patriarch Friedrich, Rechtsanwalt, seine Ehefrau Marie, die Tochter eines deutschlandweit berühmten Dichters ist und die doch sehr fragil ist, mit manischen, mit depressiven Phasen, damals vermutlich unter die Kategorie Hysterikerin fiel. Kein Wunder vielleicht auch, wenn man acht Kinder gebärt. Von Anfang an war ich froh, dass es gleich voran ein Personenregister gab, denn Mahlke fährt eine unglaubliche Menge an Personal auf. (Waren es bei den Buddenbrooks auch so viele?) Einerseits fand ich es interessant, wie sie die Vielfalt der Protagonisten ausarbeitet, dadurch ein Gesellschaftsporträt zeichnet, andererseits war es mir dann manchmal zu wenig zu den jeweiligen Personen, die dann teilweise wieder von der Bildfläche verschwanden. Mahlke durchleuchtet schön die Beziehungen zwischen „Gnädigen“ und Personal. Auch kurze politische Abzweigungen gibt es. Und natürlich kommt auch Thomas Mann vor, der mit einem der Söhne in die Klasse ging.

„Oder Tomy und Otto. Der Pfau und sein Schatten. Den Pfau lassen die meisten in Ruhe. Die Lehrer, weil er einer von den Vater Senators ist, die Älteren, wegen seines Bruders , Heinrich, der im Herbst von der Schule abgegangen ist, jetzt in Dresden eine Lehre macht und den die Primaner ehrfurchtsvoll den König von Tittisee nennen.“

Besondere Gestalten waren für mich einige Nebenfiguren wie etwa der Ratsdiener Isenhagen, der aus Liebeskummer beginnt Geranien zu züchten, das Hausmädchen der Lindhorsts, Ida, dass schuftet und schuftet und trotz fortgeschrittenen Alters doch noch versucht aus diesem Dasein auszubrechen und nebenher Stenographie und Maschinenschreiben lernt. Helene fällt auf, Tochter einer befreundeten Familie, die sich als eher emanzipiert entpuppt und bald ihren eigenen Weg geht, dank eines Erbes und ihres schriftstellerischen Talents. Und irgendwie auch Otto, der aus kleinen Verhältnissen stammt und „Tomy“ Mann in der Schule wie ein Schatten begleitet. Alma, die älteste Tochter, wird, als sie die Schule verlässt, gleich als Hausvorstehende „eingeteilt“, was sie ohne Widerstand erfüllt. Die im Klappentext explizit genannte letztgeborene Tochter Marthe, taucht viel zu wenig auf, als dass man ihr einen Charakter zuordnen könnte.

Die Söhne spielen eigentlich die Hauptrollen. Sie werden Nachfolger des Vaters, studieren auswärts, arbeiten in London und Japan, sind teilweise künstlerisch begabt, sind mehr oder weniger erfolgreich, einer erkrankt an Syphilis und bringt sich um. Man begleitet alle in unterhaltsamer Weise in die Sommerfrische, teils an die See, teils in die Berge. Die Hausherrin verbringt bald viele Monate in diversen Sanatorien. Der Hausherr hat das Heft in der Hand und doch heißt es einmal, um den Konkurs zu vermeiden, umziehen in ein kleineres Haus in weniger guter Lage. Aus einem für einige mehr für andere weniger traurigen Anlass versammeln sich die Geschwister am Schluss und teilen ihre Erinnerungen.

Obwohl es vielleicht so scheint, als hätte ich einiges auszusetzen an diesem Roman, habe ich ihn sehr gemocht, fand ihn direkt unterhaltsam und bin gerne in diese Zeit eingetaucht. Das Buch erschien im Rowohlt Verlag.

Romane und Erzählungen im Frühjahr – Eine kleine subjektive Auswahl aus den Verlagsvorschauen Frühjahr 2024 – Teil 1: Große Verlage


Schon zu einer schönen Gewohnheit geworden: Neue Romane und Erzählungen aus den Frühjahrsvorschauen, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Heute: Große Verlage auch Publikumsverlage genannt. Es gilt: Es ist eine vollkommen subjektive Auswahl. Rein zufällig (wie schön) sind hier die Autorinnen in der Mehrzahl. Viel Freude beim Entdecken! Im nächsten Beitrag folgen die Unabhängigen Verlage, darauf die Lyrik. Durch Klick auf den jeweiligen Verlag gelangt man zu weiteren Informationen.

Lieblingsautorinnen:

Ich bin großer Fan von Valerie Fritsch und freue mich sehr auf den neuen Roman. „Sprachgewaltig, in packenden Bildern und Episoden erzählt Valerie Fritsch in ihrem neuen Roman von der Ungeheuerlichkeit einer Liebe, die hilflos und schwach macht, die den anderen in mentaler und körperlicher Abhängigkeit hält. Ein Entkommen ist nicht vorgesehen, es sei denn um den Preis, selbst schuldig zu werden.“ (Verlagstext) Zitronen erscheint am 12.02.24 im Suhrkamp Verlag. Von ihr zuletzt auf dem Blog besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2020/03/22/valerie-fritsch-herzklappen-von-johnson-johnson-suhrkamp-verlag/

Kaiserin ist, wer sich selbst für eine hält. Irene Diwiaks Roman sprüht vor Witz, Biss und Fantasie. Mit liebevoller Ironie und immerwährendem Augenzwinkern schenkt sie ihrer Protagonistin einen letzten großen Auftritt, der es in sich hat. (Verlagstext) Die allerletzte Kaiserin erscheint am 24.04.24 im C. Bertelsmann Verlag. Von ihr zuletzt auf dem Blog besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2023/04/05/irene-diwiak-sag-alex-er-soll-nicht-auf-mich-warten-c-bertelsmann-verlag/

„Am Sund angekommen, ahnt die Erzählerin nicht, welche Geheimnisse die Gegend birgt. Von der nahegelegenen Insel Lykke schwappen nachts seltsame Gesänge über das Wasser ans menschenleere Festland – oder ist das nur Einbildung? Auf der Insel merkt sie schnell, dass dort trotz des vermeintlichen Idylls etwas nicht stimmt. «Sund» ist der entschlossene Versuch einer Geisteraustreibung, der ebenso frei und unangepasst voranschreitet wie seine Erzählerin selbst.“ (Verlagstext) Laura Lichtblaus zweiter Roman erscheint am 15.02.24 im C.H.Beck Verlag. Ihren Debütroman mochte ich sehr: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2020/08/17/laura-lichtblau-schwarzpulver-c-h-beck-verlag/

Ich bin sehr gespannt auf den zweiten Roman von Deniz Ohde. „Ich stelle mich schlafend“ erzählt von den dunklen Seiten einer Liebe – und die Geschichte einer Befreiung. Ein eindringlicher Roman über den Versuch einer Auslöschung und über die Frage, ob es eine Berührung gibt, die den Kern eines Menschen unwiederbringlich verändert.“ (Verlagstext) Deniz Ohdes zweiter Roman erscheint am 11.03.24 im Suhrkamp Verlag. Ihren Debütroman habe ich hier besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2020/09/08/deniz-ohde-streulicht-suhrkamp-verlag/

Nordische Autorinnen:

Das Schlimmste passiert dort, wo wir uns sicher fühlen: in der eigenen Familie. Was nach dem plötzlichen Tod des Vaters zunächst wie ein Erbstreit zwischen Geschwistern aussieht, wird für die ältere Schwester Bergljot zu einem Kampf um die jahrzehntelang verdrängte Wahrheit. Es geht nicht um Geld und Besitz. Es geht darum, wem die Vergangenheit gehört. Mit unverwechselbarer Konsequenz erzählt Vigdis Hjorth von der Sehnsucht nach Anerkennung, von der Kraft der Befreiung und von der Frage, ob wir unserer eigenen Geschichte vertrauen dürfen. (Verlagstext) Ein falsches Wort erscheint am 13.03.24 im S. Fischer Verlag. Ihr vorheriger Roman hat mir sehr gut gefallen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2023/11/02/1000-blogbeitrag-vigdis-hjorth-die-wahrheiten-meiner-mutter-s-fischer-verlag/

„Eine Abiturientin verlässt ihre Geburtsstadt Helsinki, um in der fernen Schweiz die Liebe und Anerkennung zu finden, die ihr in ihrem sozialistischen Elternhaus versagt geblieben ist. Doch in der Fremde erkennt sie, dass ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit sie immer enger in ihrem Korsett verschnürt, statt sie daraus zu befreien. Die vielfach ausgezeichnete finnische Autorin Pirkko Saisio findet eine einzigartige Sprache für die Kraft und den Mut, den es braucht, um die Gesetze der Kindheit zu durchbrechen und die eigene Bestimmung zu finden.“ (Verlagstext) Gegenlicht erscheint am 16.03.24 im Klett Cotta Verlag. Ihren Roman „Das rote Buch der Abschiede“ mochte ich sehr: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2023/11/24/pirkko-saisio-das-rote-buch-der-abschiede-klett-cotta-verlag/

Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt. (Verlagstext) Arctic Mirage erscheint am 29.01.24 im Hanser Berlin Verlag.

Schweden in den 1950er Jahren. Else-Maj ist sieben Jahre alt, als sie das vertraute Leben im Sámi-Dorf und die wärmende Gegenwart ihrer geliebten Rentiere hinter sich lassen und in ein sogenanntes Nomadeninternat gehen muss. Im Land der Rentiere wird eine Gruppe von Kindern ihrer Welt entrissen und in ein entlegenes Internat verbracht, wo sie sich großen Herausforderungen stellen müssen. Eine unvergessliche Geschichte über dunkle Geheimnisse, Hoffnung und Zusammenhalt und die Rückkehr ins Licht. (Verlagstext) Die Zeit im Sommerlicht von Ann-Helén Laestadius erscheint am 04.04.24 im Hoffmann & Campe Verlag.

Nochmal nordisch:

Lappland 1944: Nachdem die Truppen der deutschen Wehrmacht aus Finnland vertrieben wurden und dabei alles zerstörten, was auf ihrem Weg lag, müssen zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen. Wie ein großer Strom nimmt Rosa Liksom in ihrem neuen Roman ihre Figuren auf, treibt sie immer weiter, wie das Leben selbst, bettet sie ein in den Lauf der Jahreszeiten und verknüpft dabei meisterhaft die Geschichte einer Flucht mit einer einfühlsamen Coming-of-Age-Erzählung. (Verlagstext) Über den Strom erscheint am 26.06.24 im Penguin Verlag.

Kopenhagen, Hochsommer: Fünf Jugendliche und die namenlose Erzählerin leben nach längeren Aufenthalten in der Psychiatrie in einem betreuten Wohnheim, das ihnen den Weg zurück in den Alltag erleichtern soll. Die Abläufe sind einfach, aber nicht selbstverständlich: Kochendes Wasser ist für Tee, nicht zur Selbstverletzung gedacht, und ein offenes Fenster ist keine Einladung zum Sprung. (Verlagstext) Weiches Königreich von Fine Gråbøl erscheint am 19.03.24 im Ecco Verlag.

Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 19. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? Erst als sein Vater auf dem Totenbett liegt, fragt ihn Lars Saabye Christensen nach jener Zeit, die seine Großeltern im fernen Osten verbrachten. Er begibt sich auf eine Spurensuche, die Überraschungen bereit hält. Weder Phantasie noch Vermutungen können die Leerstellen und Lücken füllen, die sich bei der Recherche auftun. Doch indem er sich akribisch an die vorhandenen Quellen hält, zeichnet Lars Saabye Christensen ein umso faszinierenderes Gemälde einer Zeit, einer Familie, eines Paares, einer Frau (Verlagstext) Meine chinesische Großmutter erscheint am 13.03.24 im BTB Verlag. Zuletzt von Christensen auf dem Blog: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/05/25/lars-saabye-christensen-magnet-btb-verlag/

Autorinnen, übersetzt

Ein Londoner Künstler und ein französischer Linguist landen im Sommer 1979 auf einer abgelegenen irischen Insel. Der Künstler ist angereist, um die zerklüfteten Klippen im Atlantik zu malen, der Linguist, um den Niedergang der irischen Sprache zu verfolgen. Jeder der Männer will die unberührte Insel und seine Bewohner für sich alleine haben. Vor dem Hintergrund Nordirlandkonflikts, erzählt der Roman vom harten Leben der Inselbewohner und von ihren Träumen – die sie über die harschen Grenzen ihrer abgeschiedenen Realität hinausführen. (Verlagstext) Das Habitat von Audrey Magee erscheint am 21.05.24 im Nagel und Kimche Verlag.

Dieses Buch ist ein eindrucksvolles Fresko von Rom, der verführerischsten Stadt von allen: widersprüchlich, in ständigem Wandel und ein Zuhause für diejenigen, die wissen, dass sie nicht ganz dazugehören können, sich aber trotzdem dafür entscheiden. «Das Wiedersehen» ist ein meisterhaftes Werk einer der großen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Jhumpa Lahiri hat es in ihrer geliebten Wahlsprache Italienisch verfasst und erzählt wie keine andere von Heimat und Zugehörigkeit. (Verlagstext) Erscheint am 14.05.24 im Rowohlt Verlag. Ihren letzten Roman habe ich hier besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2020/07/16/jhumpa-lahiri-wo-ich-mich-finde-rowohlt-verlag/

Gaea Schoetersʼ preisgekrönter Roman ist von einer außerordentlichen erzählerischen Wucht. Die Tiefenschärfe, mit der sie die Geräusche und Gerüche der Natur beschreibt, lässt einen sinnlich erleben, was einen moralisch an die Grenzen zwischen Richtig und Falsch führt. Hunter, steinreich, Amerikaner und begeisterter Jäger, hatte schon fast alles vor dem Lauf. Endlich bietet ihm sein Freund Van Heeren ein Nashorn zum Abschuss an. Hunter reist nach Afrika, doch sein Projekt, die Big Five vollzumachen, wird jäh von Wilderern durchkreuzt. (Verlagstext) Trophäe erscheint am 19.02.24 im Zsolnay Verlag.

Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede. Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu. (Verlagstext) Mein Name ist Estela von Alia Trabucco Zerán erscheint am 19.02.24 im Hanser Berlin Verlag.

Autoren und last but not least ein Sachbuch über Autorinnen

„Der Kampf eines Mannes, der nichts zu verlieren hat. Gegen die Welt und sich selbst. Einst war Konrad Widuch begeisterter russischer Revolutionär, kämpfte in der Reiterarmee. Unter Stalins Herrschaft verliert er alles, den Glauben an die Sowjetunion, seine junge Familie, die Zukunft. Szczepan Twardoch schickt seinen Helden auf eine zum Zerreißen spannungsvolle Lebensreise. Russland, der hohe Norden, das 20. Jahrhundert in all seinen Abgründen prägen diesen Weg.“ (Verlagstext) Kälte erscheint am 16.04.24 im Rowohlt Berlin Verlag. Bereits auf dem Blog besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/07/25/szczepan-twardoch-drach-rowohlt-verlag/

„In überraschenden Wendungen erzählt Bakker von einem Mann, dessen Leben wider seinen Willen Fahrt aufnimmt. Der Sohn des Friseurs ist ein berührender Roman über Sehnsucht, das Bedürfnis nach Nähe und die Notwendigkeit, die Grenzen des Bekannten zu durchbrechen.“ (Verlagstext) Gerbrand Bakkers neuer Roman erscheint am 12.02.24 im Suhrkamp Verlag. Von Bakker habe ich bereits auf dem Blog besprochen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/10/07/gerbrand-bakker-jasper-und-sein-knecht-suhrkamp-verlag/

„Im August 2022 wird Salman Rushdie während einer Lesung in New York auf offener Bühne mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Mehr als dreißig Jahre, nachdem das iranische Regime wegen seines Romans »Die satanischen Verse« die Fatwa gegen ihn ausgesprochen hat, holen ihn diese Ereignisse ein. Salman Rushdie überlebt den Anschlag und hält seinem Angreifer das schärfste Schwert entgegen: Er verarbeitet diese unvorstellbare Tat zu Weltliteratur.“ (Verlagstext) Knife erscheint am 16.04.24 im Penguin Verlag.

Nicole Seifert erzählt die Geschichte der Gruppe 47 aus einer neuen Perspektive: der der Frauen. Ihr Ergebnis kommt einer Sensation gleich. Ein kluges, augenöffnendes Buch, das sofort große Lektürelust entfacht. Schriftstellerinnen wie Gisela Elsner und Gabriele Wohmann müssen neu gelesen, Schriftstellerinnen wie Ruth Rehmann, Helga M. Novak und Barbara König neu entdeckt werden.  Ein ganz neuer Blick auf die Gruppe 47 und die Nachkriegsliteratur, der uns bis in die Gegenwart führt. „Einige Herren sagten etwas dazu“ erscheint am 08.02.24 im Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Auf dem Blog Zeichen & Zeiten gibt es eine weitere Vorschau aufs Frühjahr.

Silvie Schenk: Maman Hanser Verlag

„Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.

Eines der vielen Bücher, die in dieser Saison mit dem Thema Mutter-Tochter-Beziehung aufwarten, ist Silvie Schenks Roman Maman. Bereits ihr Roman „Schnell, dein Leben“ hat mir gut gefallen. Schenk ist gebürtige Französin, Jahrgang 1944, lebt aber seit langem in Deutschland.

Silvie Schenk versucht das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Die Mutter selbst erzählte nie etwas, wie das in dieser Generation oft der Fall war. Für Fragen, die immer wieder aufgeschoben wurden, war es irgendwann zu spät. Das Wenige was sie weiß, verbindet sie mit Fiktivem. Sie fühlt und denkt sich gerade zu hinein in die Mutter. Sie beginnt bei ihrer Großmutter, die ihre Tochter unehelich geboren hat in einem Krankenhaus für Arme. Sie starb bei der Geburt.

„Die Hilfsarbeiterin eines Seidenproduzenten, die Wäscherin, das Dienstmädchen eines bürgerlichen Hauses konnte ihre Kinder nicht von ihrem Lohn ernähren. Im Ersten Weltkrieg sowieso nicht. Prostitution war gang und gäbe. Die Männer bumsten und zahlten. Die Frauen entbanden und starben.“

Die Tochter blieb einige Zeit in der Obhut eines Säuglingsheims und wurde dann an eine Pflegefamilie gegeben. Schenk hat unglaublich viel recherchiert. Sie erfuhr, dass es dem Kind in der ersten Pflegefamilie nicht gut ging, in der zweiten aber hatte sie es gut getroffen. Die neue Pflegemutter sorgte gut für die Bedürfnisse des Mädchens, sie wurde geliebt und sie erfuhr Bildung. Trotzdem wird sie sich immer ein wenig verloren und fremd fühlen.

„Sie lebt schon immer in der Unwissenheit. Eine alte durchlöcherte Unwissenheit in Bezug auf die Vergangenheit und eine glatte, noch entfernte Ignoranz in Bezug auf die Zukunft. Sie ahnt dunkel, dass Wissen diejenigen zerstört, die sich dafür nicht eignen.“

Später wurde für sie ein Ehemann ausgesucht. Einen eigenen Willen scheint sie kaum entwickelt zu haben. Doch mit der Ehe stieg sie weiter auf: der Ehemann ist Zahnarzt. Ob es Liebe gab zwischen den beiden, ist schwer zu sagen. Sie bekommt fünf Kinder. Darunter Silvie, die ihren eigenen Kopf entwickelt.

Ich finde erstaunlich, wie gut die Autorin aus den wenigen Fakten ein Leben zusammenbaut. Immer weiß man beim Lesen, es könnte auch etwas anders gewesen sein und doch war ich fasziniert, wie Schenk aus Biographischem hervorragende Literatur macht. Gerade das etwas Unklare und Undurchschaubare macht den Reiz aus und gibt der Sprache einen besonderen Raum. Schenk stellt sich Fragen und beantwortet sie in literarisch interessanter Weise. Deutlich besser beispielsweise, als Durs Grünbein, dessen neuen Roman „Der Komet“ ich gerade lese, und der auch fiktiv auf wenigen bekannten Daten basierend, aus der Biographie seiner Großmutter erzählt.

„Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase. Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als ein angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht.“

Dabei kommt eine Schlüsselszene vor, die heraussticht, weil hier so etwas wie ein Aufbruch stattfindet, ein eigener Wille sichtbar wird: der einzige Seitensprung, eigentlich die eigennützige Verführung von Seiten eines Bekannten, der die Mutter so überwältigt, dass sie ihre Sachen packt und weg vom eigenen Mann zu dem verheirateten angehimmelten Mann reist, dafür sogar ihren Verlobungsring versetzt, da sie keine eigenes Geld hat. Da er längst aus Frankreich weg gezogen ist, bleibt nichts als die demütigende Rückkehr zu Ehemann und Kindern. Und damit wieder in die eingefahrene vorgesehene Rolle. Die ewig strickende, schweigende, wenig gebildete, unglückliche Mutter, die hinter ihrem Mann verschwindet.

Silvie Schenks Roman hat mich sehr beeindruckt. Er erschien im Hanser Verlag, er stand auf der diesjährigen Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Mayjia Gille: Landgang kul-ja! publishing


Mayjia Gille ist eine Gesamtkünstlerin: Sie schreibt Romane und Gedichte, macht Musik, singt, malt und macht vieles mehr. In ihrem Roman Landgang mit dem bezaubernden Coverbild, dass Gille selbst gemalt hat, erzählt sie vom (autobiographischen?) Werdegang ihrer Protagonistin Magdalena, die mit ihrer Mutter mit zwölf Jahren aus der DDR nach dem Westen ausreist. Ein wenig erinnerte mich die Geschichte auch an Julia Francks „Welten auseinander“. Die Ich-Erzählerin spricht gleich eingangs von einer Wiedergeburt im Zug zwischen West und Ost.


So begegnen wir den beiden im Zugabteil, wo sie von den Mitreisenden gleich als „von drüben“ erkannt werden. Sie überstehen die Grenzkontrolle und rollen gen Westen, wo der Mann lebt, den Magdalenas Mutter heiraten will. Wegen ihm und für ihn hat sie den Ausreiseantrag aus der DDR gestellt. Es ist das Jahr 1986. Nach langer Wartezeit erhalten sie von heute auf morgen die Ausreisegenehmigung, wie das in der DDR so üblich war bei Menschen die ins nichtsozialistische Ausland wollten. Zunächst müssen sie ins Erstaufnahmelager Gießen. Dann geht es weiter nach München, wo Carl eine Zahnarztpraxis hat, er, der zwei Jahre zuvor aus der DDR ausreisen durfte.

Es ist eine verwirrende Geschichte, denn für die Mutter ist es eine Art Rückkehr. Sie wurde in München geboren, ging in die DDR, weil sie an der Ernst-Busch-Schauspielschule studieren wollte, was sie natürlich nicht durfte. Sie sollte erst ins „Arbeitsleben“: Sie wurde Büroangestellte, verliebte sich, bekam zwei Kinder, die Eltern trennten sich. Sie leben in Leipzig und Magdalena verbringt die Ferien beim Vater auf dem Land. Es ist eine unsichere Kindheit. Die Mutter oft unzuverlässig, kennt jede Menge Leute, auch aus Künstlerkreisen. Durch Tagebuchschreiben findet sie Stabilität und durch Wetterberichte:

„Ich beruhige meine Gedanken beim Lesen und Hören der Seewetter- und Küstenberichte, wenn es mir nicht so gut geht.“

Durch die Ausreise ändert sich alles. Von Heirat mit Carl ist plötzlich keine Rede mehr. Die beiden müssen sich alleine in einer sehr fremden neuen Welt zurechtfinden. Alles ist sehr viel teurer. Sie gehen nach West-Berlin, weil die Mutter dort Bekannte hat und die Tochter macht sich sehr früh selbständig. Magdalena muss ihm Verlauf mehrmals die Schule wechseln. Umzüge stehen immer wieder an. Sie findet schwer Anschluss. Bald schon gerät sie in die Punker-Szene, schwänzt Schule, lernt eigensinnige Leute kennen, löst sich mehr oder weniger von der Mutter ab. Doch die Mutter bekommt Krebs, was Magdalena in ein Tief versinken und immer schwächer werden lässt.

Immer wieder wird der Fließtext unterbrochen von Notizen, die auf Stasiakten beruhen: Die Familie wurde durchgehend observiert, selbst im Westen noch. Auch alte Briefe oder Seewetterberichte und Tagebuchnotizen Magdalenas und Sequenzen über die politische Lage fließen mit in die Geschichte ein. Das macht das Buch etwas unruhig, aber stimmig, denn Magdalenas Leben ist ebenfalls unruhig. Bis sie eines Tages (mit dem Christentum hatte sie schon länger Kontakt) beim Gespräch mit einem Pfarrer eine Art Erleuchtung erfährt, ein Erwachen, was sich in vollkommener Klarheit über ihre Zukunft zeigt. Alles wirkt deutlicher und dichter.

„Es ist so stark, dass ich weine.
Es scheint etwas von mir abzufallen. Ich spüre es körperlich. Erleichterung. […]
Ich bin in einem inneren, neuen Raum.
Spüre festen Boden unter den Füßen und zugleich ist der Raum unendlich ausgedehnt.“

Magdalena weiß nun, dass sie Schreiben, Singen, Theaterspielen wird, auch wenn sie erst eine Ausbildung abschließen soll. Das mit der Friseurlehre klappt nicht. Sobald sie achtzehn ist, steigt sie in den Zug. Leipzig ist das Ziel. Dort will sie wieder leben.

„Ich wurde im September 1986 in einem Zug in hessischer Landschaft geboren.
Mit zwölf Jahren.
Ich fahre jetzt aber trotzdem nach Leipzig.
Aber New York ist mein eigentliches Ziel.“

Landgang ist ein ganz wunderbares Buch einer persönlichen Entwicklung. Ein Mädchen, unsicher und allein, wächst in eine wunderbare Stärke hinein, die es aus sich selbst heraus gewinnt, durch Erfahrungen, Begegnungen, aber auch durch den selbst gefundenen Glauben an Gott (oder wie immer man es nennen mag). Mayjia Gilles Sprache ist fein und genau, sie begleitet und trägt die Geschichte. Und es ist unverkennbar, das die Autorin auch Lyrikerin ist. Als ergänzende Lektüre gab es bei mir deshalb die Gedichte des Lyrikbands „Seit Tagen warte ich in den Sarottihöfen„, die alle ziemlich nach Liebesgedichten klingen. Außer dieses:

„MAN MÖCHTE EINSAM SEIN
wenn man
die gesellschaften sieht
die die einsamen
nicht sehen“

Das Buch erschien im interessanten erkundenswerten Verlag kul-ja! publishing, wo auch ein weiterer Gedichtband Gilles zu finden ist. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Niviaq Korneliussen: Das Tal der Blumen btb Verlag

Bild von Bernd Hildebrandt auf Pixabay

Die 1990 geborene Niviaq Korneliussen erhielt als erste Grönländerin den Nordischen Literaturpreis. Das Tal der Blumen erzählt vom Leben in Grönland und vom Sterben in Grönland, denn die Insel hoch im Norden hat eine hohe Suizidquote, was Korneliussen in ihrem Roman ungeschönt benennt und beschreibt.



Die junge Heldin, die noch bei ihrer Familie in der westgrönländischen Stadt Nuuk lebt, ist frisch verliebt in Maliina. Doch das Studium in Dänemark steht an und sie hadert damit, ihre Freundin zurückzulassen. Diese hat einen Job und eine eigene Wohnung. Sie selbst will auch unbedingt aus dem Elternhaus weg. Tatsächlich fühlt sie sich aber in Aarhus im Studentenwohnheim und an der Uni nicht richtig wohl. Sie fühlt sich wie eine Außenseiterin, zwischen den dänischen Kommilitonen, was diese mitunter, ohne es zu bemerken, mit verursachen. Sie tritt von Lerngruppen zurück, geht nur noch zu Vorlesungen und stellt schließlich auch das ein. Menschen, die ihr helfen wollen, lügt sie an. Und auch Maliina sagt sie nicht immer die Wahrheit, hat sogar eine Affäre.

Die beiden wollen sich über die Weihnachtstage in Nuuk wiedersehen, doch als die Cousine von Maliina Suizid begeht, reist die Hauptfigur zu ihr in die ostgrönländische Stadt Tasiilaq, aus der Maliina stammt, um ihr beizustehen. Sie wird in der Familie herzlich aufgenommen. Der Ort mit seinen Bergen fasziniert sie und es zieht sie zum Friedhof, auf dem auch Gudrun begraben ist, das Tal der Blumen. Erschüttert darüber, dass dort nur namenlose Kreuze ohne Geburts- oder Sterbedatum, sondern mit Nummern stehen, beginnt sie zu recherchieren, wie viele Selbsttötungen es im Land gibt und welche Möglichkeiten die Kommunen zur Prävention anbieten. So erfährt sie auch, dass es bereits zwei Suizidversuche Gudruns vorab gab.

„Grönland ist todgeweiht, und wir sind rechtzeitig abgehauen, du hast überlebt, wir haben überlebt“, sagt sie. „Es ist der Lauf der Natur, ein Volk aussterben zu lassen, das auf dieser Erde nicht zurechtkommt, survival of the fittest, wie es so schön heißt, und du hast überlebt. Du bist eine Überlebenskämpferin, du bist stark, nicht du bist es, mit der etwas nicht stimmt, bei den anderen stimmt etwas nicht.“

Sehr gut klingt durch, wie wenig Hilfe es gerade auch für junge Leute dort gibt. Beratungsstellen und Therapieplätze sind rar und mit langen Wartezeiten verbunden. Alkohol ist ebenso ein Thema, wie Missbrauch und Gewalt. Die lange Dunkelheit abwechselnd mit der Zeit der ständigen Helligkeit scheint zu Depressionen und psychischen Problemen beizutragen. Es wird geschildert, wie hoffnungslos Jugendliche ihre Zukunft empfinden und wie wenige es schaffen ein zufriedenes Leben zu führen.

Auch die Hauptfigur schwankt und strauchelt, zweifelt an der Partnerin, an ihrer Liebe und vor allem an sich selbst. Auch in ihrer eigenen Familiengeschichte gab es Verluste, die sie prägten. Weil sie sich nicht gut genug fühlt, trennt sie sich von ihrer Partnerin von heute auf morgen und fliegt zurück nach Dänemark. Doch dort gibt es gar keinen Halt, sie wird zur Obdachlosen und stürzt immer tiefer ab. Gut, dass die Autorin das Ende offen lässt …

Sprachlich empfinde ich den Roman wenig spektakulär. Im Gegenteil war mir manches eher zu derb und zu grob, besonders was die Körperlichkeit anging. Und doch gab es auch kurze Sequenzen, die poetisch und feinsinnig waren. Es war dann aber eindeutig die inhaltliche Thematik und die ferne Welt im Norden (die Landkarte lag immer neben mir), die mich vom Buch überzeugt hat. Ich habe einiges mehr über Grönland erfahren.

Der Roman erschien im btb Verlag. Aus dem Dänischen hat Franziska Hüther übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Monika Helfer: Die Jungfrau 🎧 Der Hörverlag


Nachdem ich Monika Helfers letzten Roman ausgelassen hatte, bin ich mit „Die Jungfrau“ wieder dabei. (Links zu weiteren Besprechungen unten) Wie immer habe ich hier das Hörbuch gewählt, weil Helfer selbst liest und ich ihre etwas verwaschene raue Stimme mit dem leicht durchscheinenden Dialekt sehr mag.

„An meinem 70. Geburtstag bekam ich Post von meiner Schulfreundin Gloria. Als ich den Brief öffnete, sah ich, dass er von jemand anderem geschrieben worden war, von Glorias Nichte. Ihre Tante habe ihr aufgetragen, mit mir in Verbindung zu treten. Sie wolle mich noch einmal sehen, bevor sie sterbe. Es las sich wie ein Befehl. Obwohl kein Rufzeichen da war. Aber ich meinte die Stimme zu hören, die den Brief diktiert hatte.“

Diesmal geht es um eine enge Freundin aus Schulzeiten, die plötzlich, viele, viele Jahre, in denen sie sich nicht sahen, durch einen Brief nach Kontakt mit der Heldin verlangt. Das Treffen findet statt im villaähnlichen großen Haus mit Garten, dass die Freundin seit jeher mit ihrer Mutter bewohnte. Die Freundin scheint sich charakterlich kaum geändert zu haben. So richtige Nähe will sich nicht mehr einstellen. Doch Gloria teilt Moni ihr Geheimnis mit, dass sie bis heute noch Jungfrau ist. Was Monika wundert, denn sie hielt sie immer für die Hübschere und Begehrenswertere. Im weiteren Verlauf der Geschichte fragt sich die Leserin, inwiefern das tatsächlich stimmt …

In Rückblenden erfahren wir nun viel über die seltsame Freundschaft der beiden. Gloria, reich, Monika arm. Gloria im großen Haus mit riesigem Garten nur mit der Mutter allein und Monika in einer kleinen Wohnung mit zwei Geschwistern, Onkel und Tante mit Kindern. Wir lesen vom Staunen des Mädchens über die so ganz anderen Lebensumstände, vom Luxus, den Monika nicht kennt, z. B. dass es mehrere Sorten Tee gibt so etwa Earl Grey Tea. Gloria ist ein hübsches Mädchen, dass aber immer unter dem Verschwinden des Vaters leidet. Sie zimmert sich vieles zurecht, wie es ihr passt. Lügen, rumspinnen und schauspielern kann sie gut. Moni steht zur Seite, mitunter hintan. Auf den Spuren ihres Vaters will Gloria in die USA reisen, Moni soll mit. Da beide noch nicht volljährig sind, schaffen sie es natürlich nicht und verbringen einen verrückten Tag in Zürich. Gloria zahlt alles.

„Sie beide wären so gerne andere gewesen als sie waren.“

Moni schreibt und hat geheiratet, ein Kind bekommen. Gloria war Trauzeugin bei der seltsam lieblosen Hochzeit. Die beiden telefonieren, sehen sich kaum. Gloria will tatsächlich Schauspielerin werden, verliebt sich dort in Wien in ihren Schauspiel-Professor, der allerdings verheiratet ist. Ein Italiener, so katholisch, dass er nicht mit ihr schlafen will. Die Freundinnen sehen sich erst etwa zwanzig Jahre später wieder und auch diesmal geht es um Glorias Vater, der natürlich nicht in den USA lebt, wie die Mutter es vorgetäuscht hatte, sondern betagt im Pflegeheim. Moni hat inzwischen zum zweiten Mal geheiratet (Michael Köhlmeier) und vier Kinder. Gloria hat immer noch keinen Partner, keine Kinder.

Der Text ist laut Helfer nicht komplett biographisch, Gloria trägt aber die Züge einer tatsächlichen Freundin. Zwischendurch tritt die Autorin aus ihrer Geschichte heraus und flicht kurze Szenen mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier ein, mit dem sie sich übers Schreiben austauscht, was ziemlich witzig ist und die Story auflockert. Tatsächlich aber finde ich das erste Buch dieser autobiographischen Reihe „Die Bagage“ noch immer am besten.

Das Hörbuch erschien bei Der Hörverlag. Eine Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Der Hanser Verlag, bei dem das Buch erschien, hat eine informative eigene Seite zu Monika Helfer und ihrer Romanen eingerichtet, auf der sich auch Lese- und Hörproben befinden: https://www.hanser-literaturverlage.de/themen/monika-helfer