Kerstin Hensel: Die Glückshaut Quintus Verlag


Die 1961 in Karl-Marx-Stadt geborene Schriftstellerin Kerstin Hensel ist mir vor allem als Lyrikerin bekannt. Der neue Roman hat mich jedoch gleich angesprochen aufgrund des schönen Covers, aber auch wegen der Beschreibung. Bereits der Titel „Die Glückshaut“ weist auf ein Märchen der Brüder Grimm hin. In „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ kommt ein in einer Glückshaut geborenes Kind vor. Die Glückshaut gibt es tatsächlich, wenn auch bei wenigen Geburten. Der medizinische Fachbegriff dafür ist „caput galateum“ und es handelt sich um Reste der Fruchtblase, die beim Neugeborenen noch über der eigentlichen Haut meist am Kopf anhaften. Das ist aber nicht das einzige Märchen, das in diesem Roman zu finden ist. Es tauchen immer neue Märchenmotive auf und Teile des Romans könnte man auch dem magischen Realismus zusprechen. Hensel mischt Realität munter mit Märchen und das ergibt einen besonderen Roman der in der Zeit von 1804 bis ins 21. Jahrhundert reicht.

Der Roman spielt im Erzgebirge und erzählt von Wilhelmina/Minna Leichsenring, die in einer Glückshaut in eine arme Familie hineingeboren wird. Der Vater, ein Schachtarbeiter verunglückt. Großmutter und Mutter schaffen es kaum die Familie durchzubringen. Minna hingegen ist ein aufgewecktes Mädchen und wird sogar zur Schule geschickt, lernt Lesen und Schreiben.

„Und eigen war das Mädchen! Es besuchte gern die Dorfschule, wo ihm der Pfarrer allerhand einbläute: Rechnen, Lesen, Schreiben, Bibelsprüche. Außerdem plapperte das Minel nicht wie jedermann, sondern sprach Deutsch ohne ortsübliches Grollen und Knarzen. Ein helles Mädchen, meinte der Pfarrer.“

Dennoch sieht ihre Mutter keinen Ausweg, das Kind wegen Armut im Alter von 9 Jahren beim Pilzesuchen im Wald auszusetzen. Hier findet sich, wenn man will, das Hänsel und Gretel-Motiv. Minna allerdings landet nicht im Hexenhäuschen, sondern im Häuschen der 7 Zwerge, denen sie den Haushalt führt, bis alle bis auf einen wegsterben. Mit diesem einen bekommt sie ein Kind, der Zwerg stirbt, das Kind läuft bald davon. Eine sprechende Krähe fliegt Minna zu und berichtet ihr von draußen in der Welt, auch davon was ihr Sohn Johannes/Hans so treibt. –>Das „Hans im Glück“-Motiv.

In Zeitsprüngen erzählt Kerstin Hensel ihre Geschichte, die zwischen Vergangenheit und Zukunft springt, aber zusätzlich mit diversen irren Traumsequenzen und fantastischen Elementen angefüttert ist. Das könnte anstrengend sein beim Lesen, hat mir aber eher großes Vergnügen bereitet. Als Beispiel: ein neuer junger Dorfpfarrer, der die Hostien selbst bäckt, dabei allerdings Fliegenpilzpulver mit in den Teig rührt und somit nach dem sonntäglichen Abendmahl einen großen Aufstand der Dorfbevölkerung vor dem Schloss der Reichen hervorruft, der aber leider nur mit Halluzinationen endet, nicht mit einer Revolution.

Eines Tages beschließt Minna, ihren Sohn zu suchen. Das Häuschen im Wald taugt nicht mehr und ein großes Glück ist trotz Glückshautgeburt für sie bisher nicht eingetreten. Für ihren Sohn aber laut Krähenberichten offenbar schon. So begleiten wir Minna auf einem abenteuerlichen Weg, der sie aus dem Wald ins Dorf, aus dem sie stammt führt, und weiter über Dresden bis nach Chemnitz. Eine Zwischenstation ist dabei die Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein in Pirna, wo Minna wegen ihrer Verwirrung kurzzeitig eingeliefert wurde. Mit 100 Jahren und kaum dass sie ihren Sohn gefunden hat, der als wohlhabender Kommerzienrat Leichsenring überall bekannt ist, ereignet sich ein Unglück und Minna kommt zu Tode.

Es kommt zu einem größeren Zeitsprung. Wir befinden uns wieder auf dem Sonnenstein in Pirna, nur dass die Heilanstalt mittlerweile, wir schreiben das Jahr 1940, in eine Tötungsanstalt umgewandelt wurde, in dem die Nationalsozialisten „unwertes“ Leben versammelten und umbrachten. Hier arbeiten Nachkommen von Minna und Hans, deren Nachkommen wir wiederum durch die Nachkriegszeit (mit Märchenmotiv „Der süße Brei“) begleiten bis in die DDR, durch die Wendezeit, nach der die Villa des Kommerzienrats in Chemnitz, zwischenzeitlich Karl-Marx-Stadt, endlich seinen rechtmäßigen Erben zugeführt wird.

Der erste wesentlich längere historische Teil der Geschichte hat mir besser gefallen als die folgenden und abschließenden. Für mich passen die Märchenmotive und die Fantastereien, die den Roman für mich tragen, am besten in das erzgebirgische Wald- und Dorfbild und in den Miriquidi, den Finsterwald. Manches lokalspezifische habe ich dabei womöglich überlesen, da ich mich mit den Traditionen aus diesem Teil des Landes nicht auskenne. Zeitweise sprechen die Protagonisten im ersten Teil auch den Dialekt des erzgebirgischen Dorfes. Der Teil, der in der Zeit des Nationalsozialismus spielt, hätte gerne ausführlicher sein dürfen und die kurze Phase DDR-Zeit war für mich zu knapp, als dass sie prägend hätte wirken können. Nichtsdestotrotz habe ich hier eine etwas andere „Familiengeschichte“ gelesen, die sich ideenreich, voller Witz und auch sprachlich aus der Menge abhebt. Den Ton des Genre Märchen trifft die Autorin perfekt und ich als Leserin, glaube ihre Erzähllust durch die Zeilen hindurchstrahlen zu sehen.
Empfehlung für dieses Buch über die Suche nach dem Glück!

Der Roman erschien im Quintus Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Die Autorin stellt ihren Roman morgen Abend in der AdK Berlin vor.

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