Aleš Šteger: Atemprotokolle Wallstein Verlag


„Das Unendliche kann man
Vielleicht beschreiben mit einem
Satz, der sich in alle Richtungen öffnet.“

Aleš Štegers Gedichte im Band Atemprotokolle sind wohl innerhalb eines Prozesses der Bewusstseinserweiterung entstanden. So jedenfalls lese ich sie. Diese erreicht man etwa durch Meditation, durch bestimmte Atemtechniken und durch bewusstseinserweiternde Mittel. Šteger selbst erzählt in den Gedichten davon. Von Schamanen und ihren Tränken ist da die Rede und immer wieder eben auch vom intensiven Atmen. Die Texte, die wohl gar nicht als literarische Texte geschrieben wurden, sind aber durchweg lesenswert und scheinen mir durchaus auch literarisch interessant. Da ich selbst ein Faible für Meditation und Atemtechniken habe, kann ich manches gut nachempfinden und einige der Passagen gefallen mir sehr.

Šteger benutzt im ersten Teil eine Art „Gebrauchsanweisung“ oder Aufruf in der Form „tu dies, mache das …“, wie es einige Autor*innen schon taten. Etwa Peter Handke genial mit „Geh über die Dörfer“ (siehe unten) oder kürzlich Ilma Rakusa sehr eindrücklich im „Gedicht gegen die Angst“. Bei diesen beiden ist es großartig gelungen, bei Šteger schwanke ich. Manches kommt sehr gut bei mir an, manches klingt mir bei ihm zu sehr nach Belehrung und Befehl. Beispiel:

„Wenn dich jemand fragt: Wie geht es dir?
Antworte nicht: Mir geht es gut.
Antworte: Ich suche.
Keine hohlen Worte mehr.
Wie geht es dir?
Ein kristallklarer Himmel. Das bin ich.“

Hier stimme ich dem Autor grundsätzlich zu. Ich antworte auf diese Frage nie mehr einfach: Es geht mir gut, wenn es nicht stimmt. Doch die Art, wie er es ausspricht, empfinde ich als überheblich. Vielleicht mein subjektiver Eindruck, aber ich mache hier ja keine professionelle Lyrikkritik, sondern schreibe über meine Eindrücke und Erfahrungen beim Lesen. Nun ein Beispiel für einen für mich gelungenen Vers:

„Jeder von uns ist einzig und allein.
Jeder von uns kam auf die Welt mit einer Aufgabe, die
nicht vollendet ist und die uns nie ganz ersichtlich wird,
außer im Tod, wenn wir sie als Seele weiterreichen.
Alle Vergleiche sind gegenstandslos und vernichtend.“

Im weiteren Verlauf erzählt Šteger direkt von dem Aufenthalt in einem Hotel und dem Workshop mit dem Schamanen. Er ist in Begleitung seiner Frau, die ihn wohl dazu anregte. Um aus anderer Richtung an die Worte zu kommen? Ohne Verkopftheit und Denken? Und es scheint auch zu funktionieren, wie wir im weiteren Verlauf miterleben. Drei Tage dauert das Event, in dieser Zeit schrieben sich diese Gedichte. Vielleicht so, wie ich es bei mir selbst oft empfinde? Dass sie mir einfließen, wenn ich in Verbindung bin mit etwas Höheren, mit etwas Göttlichen. Wie von selbst. So wie Sigmar Polke es bei einem seiner Gemälde geschah: Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen.

Die Gedichte schauen auch in Richtung Herkunft; Die Kapitel: Vater, Mutter, Vorfahren. Besonders gefällt mir letztgenanntes. Hier finden sich die Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits in ihrer ganz ureigenen Art ein. Hier werden sie aus der Erinnerung herausgeholt, wahrgenommen und gewürdigt. Und das gelingt Šteger ganz fein und wertschätzend.

„Ich bin nach Norden gereist.
Dort steht meine Großmutter Vida. Pura Vida.
Im Paradies geboren.
Eine Frau ohne Umarmung, ohne Berührung.
Die schönste Stimme in der Kirche St. Urban.“

Er schreibt vom Schloss Scheinburg, auf der das Seminar stattfindet. Er schaut sich dessen Geschichte an und die des Ortes. Er betrachtet die anderen Teilnehmer, die aus allen Ländern kommen und die ähnliches erleben. Und sucht das Gespräch mit der Partnerin. Mit den Schamanen. Und ist doch immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen.

Im letzten Kapitel „Autobiographie von Č “ fügt der Dichter Notizen und Gedächtnisschnipsel zu einem Alphabet zusammen. Von A-Z findet sich hier die Möglichkeit eines menschlichen Daseins aufgelistet in sehr kurzen Versen. Mehr braucht es nicht zum Menschsein. Letztlich endet alles in Fragen ohne Antworten. Fragen die gelebt werden müssen, wie es Rilke schon wusste.

„Ich trage das Unaussprechliche.
Ich bin Mensch.
Aber wozu?
Aber warum?“

Der slowenische Autor schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa. Der Gedichtband „Atemprotokolle“ erschien im Wallstein Verlag. Matthias Göritz hat ihn aus dem Slowenischen übersetzt. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Und hier Peter Handkes Geh über die Dörfer:

Geh über Dörfer

Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht

die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei

absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige

nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, lass dich ein und

verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern

bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei

erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die andern ins Tiefe,

sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem

Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig.

Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Lass dich ablenken.

Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein

Wasser. Kehr ein, so du Lust hast, und gönn dir die Sonne.

Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück

dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere,

pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück,

zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben,

bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird.

Geh über Dörfer. Ich komme dir nach.

Aus: Peter Handke: Über die Dörfer, Dramatisches Gedicht. Suhrkamp Frankfurt a.M. 1984

2 Gedanken zu “Aleš Šteger: Atemprotokolle Wallstein Verlag

    • Ich finde die älteren eigentlich auch besser. Das letzte Nennenswerte ist sicher die Obstdiebin. Danach kamen ja nur noch schmale Bändchen, die nicht so ins Gewicht fielen. Finde ich zumindest.
      Viele Grüße!

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