Jon Fosse: Ein Leuchten Rowohlt Verlag


Wie ich mich freue über dieses neue Buch von Jon Fosse, heißt der Titel des Buches doch „Ein Leuchten“. Und das passt ja zu meinem Blog einfach wunderbar. Wie meine Leser hier wissen, bekommen meine liebsten Bücher in der Besprechung immer dieses besondere Lob: Ein Leuchten! Und schon vor dem Lesen wusste ich, dass es bei diesem Buch wieder so sein wird. Jon Fosse hat in diesem Jahr den Literaturnobelpreis erhalten, worüber ich mich als langjähriger Fan des großen norwegischen Autoren sehr freue.

Es ist ein sehr schmaler Band. Vielleicht könnte man es eine Novelle nennen. Aber überraschendes und ungeheures oder vielmehr Surreales oder zumindest Traumhaftes passiert ja eigentlich durch den ganzen Text hindurch, wenngleich der Schluss schon ein wenig zu erwarten ist. Fosses Themen sind ja immer die gleichen, wie auch bei Handke. Er umkreist sie mit wenigen Worten und Sätzen, mit Wiederholungen und Verdichtungen. Seine Sprache ist einmalig. Man erkennt sie unter Tausenden wieder.

Der namenlose Held fährt aus Langeweile, die er eigentlich gar nicht kennt, mit dem Auto herum. Das Spiel, einmal rechts und dann wieder links abzubiegen ohne Ziel führt ihn schließlich in eine abgelegene Gegend. Mit dem Auto bleibt er auf einem Feldweg stecken. Vor ihm liegt ein Wald und er geht den Pfad entlang hinein, um Hilfe zu finden. Es beginnt zu schneien, es wird kalt, es wird dunkel …

„Ich gehe. Ich gehe einfach geradeaus. Ich denke, das geht im Leben nicht gut. Ich werde erfrieren. Wenn kein Wunder geschieht, erfriere ich. Und vielleicht bin ich genau darum in den Wald gegangen, weil ich erfrieren will. Aber das will ich ja nicht. Ich will ja nicht sterben. Oder will ich genau das. Aber warum will ich sterben.“

Was dem Protagonisten widerfährt, könnte tag- oder nachtgeträumt sein. Es kann ein bewusstseinserweiterndes Erlebnis sein. Es kann eine Meditation sein. Es kann eine Nahtoderfahrung sein, jedenfalls eine Begegnung mit dem Tod. Aber eben auch gleichzeitig mit dem Licht, etwa dem Leuchten einer Engelsgestalt. Es kann ein spirituelles Ereignis sein, ein Zeichen Gottes, was meiner Ansicht nach am besten passt, denn Fosse ist religiös, er trat zum katholischen Glauben über.

„Und jetzt leuchtet die ganze Gestalt. Nein das begreife ich nicht. Es ist auch nicht zu begreifen, es ist etwas anderes, vielleicht etwas, das man nur erlebt und das nicht wirklich geschieht. Aber geht es an, dass man so etwas einfach erlebt.“

Wenn meine Deutung des Themas Tod stimmt, so schildert Fosse das Sterben als eine eher wundersame aufrechte und lichtvolle Erfahrung im tiefverschneiten Wald. Nur anfangs ängstigend, bald behütend und stärkend begleitet und gestützt durch ein engelhaftes lichtes Wesen. Und bald schon losgelöst von aller Schwere schwebend in Stille und Leere. Ein befreiendes Leuchten!

Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Wie alle Romane Fosses, wurde auch dieser von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. In Bälde nach Lektüre folgt auch die Besprechung des letzten Bands der Heptalogie Ein neuer Name.

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Amy Waldman: Das ferne Feuer btb Verlag


Nur ein paar Tage ist es her, da jährte sich der Tag, an dem die USA ihre Truppen aus Afghanistan zurückzogen. Was seitdem in diesem Land passiert ist, wissen wir alle. Wie so oft, sind vor allem die Frauen die Leidtragenden. Gerade zu diesem Zeitpunkt las ich Amy Waldmans Roman „Das ferne Feuer“, welches viel zum Verständnis des Verhältnisses zwischen den USA und Afghanistan beiträgt. Zwar wurde es bereits 2019 veröffentlicht, doch sind die Geschehnisse stellvertretend für die Ereignisse im Land. Ich halte diesen Roman, genau wie schon seinen Vorgänger „Der amerikanische Architekt“ für brillant. Die amerikanische Journalistin hat einen ausgesprochen feinen Sinn für diese Thematik entwickelt und erzählt wirklich spannend, sehr klug und unvoreingenommen.

Hauptprotagonistin ist die Berkeley-Studentin Parvin Schams. Sie hat afghanische Wurzeln, ist aber mit den Eltern als kleines Kind in die USA gekommen. Nun studiert sie Medizintheorie. Eine weitere Hauptrolle spielt allerdings ein Buch. Und zwar eines, dass das Leben von Parvin komplett auf den Kopf stellt. Es beginnt damit, dass sie sich nach der Lektüre von „Mutter Afghanistan“, welches seit langer Zeit auf den Bestsellerlisten steht, entscheidet, selbst nach Afghanistan zu reisen. Und zwar in das Dorf, von dem der Autor Gideon Crane erzählt. Er erzählt von seinem humanitären Engagement, dass bis zum Bau eines Krankenhauses in diesem Dorf führte. Weil es zuvor kein Krankenhaus und keine Ärztin gab, verstarb die Frau, in deren Familie er Unterkunft fand, bei der Geburt ihres Kindes. Parvin ist so eingenommen von Cranes Berichten, dass sie in das abgelegene Dorf reist und selbst in dieser Familie eine Unterkunft sucht. Alles ist schwieriger, als sie es sich vorgestellt hat. Es dauert lange, bis sie das Vertrauen der Frauen gewinnt, die sie für ihr Studium über ihre Gesundheit befragen will. Doch was sie glaubt, für ihr Studium erforschen zu wollen, interessiert die Frauen hier gar nicht. Sie haben andere Sorgen.

„Sie hatte große Pläne, alle Frauen im Dorf nach ihrer Reproduktionsgeschichte zu befragen, und eigentlich gehofft, bei Bina anfangen zu können. […] und fragte, ob sie sich irgendwann die Zeit nehmen könne, über ihre Schwangerschaften und Geburten zu sprechen.
Bina sah sie ungläubig an und lachte rau auf. „Die Babys waren in mir drin, dann kamen sie raus. Jetzt haben wir darüber gesprochen.“

Langsam, aber immer deutlicher erkennt Parvin, dass immer mehr Details in Cranes Buch nicht stimmen. Es beginnt damit, dass das Krankenhaus zwar existiert, aber leer steht, da es keine Ärztinnen gibt. Einmal pro Woche kommt eine Ärztin aus Kabul über die üble Piste ins Dorf gefahren. Zudem stellt sich heraus, dass natürlich keiner im Dorf das Buch gelesen hat, weil kaum jemand lesen kann. Parvin übersetzt Teile davon und liest es den Frauen vor. Von allen Seiten erfährt sie nun, wie es wirklich war. Zuerst zweifelt sie daran, doch als sie mit dem Übersetzer von Crane reden kann, kommt eine Geschichte zu Tage, die den Helden Crane in ein ganz anderes Licht stellt.

„Und doch, fuhr die Ärztin fort, sei ein Land nie wirklich gesund, solange es von anderen Ländern abhängig war. Mit der ganzen Hilfe und dem ganzen Geld sei auch schrecklich viel Korruption ins Land gekommen. „Hier merkt man das nicht so“, sagte sie, „aber in den Städten –““

Hat Crane seine Geschichte so geschönt, dass er in einem guten Licht dasteht. Wurde die hochschwangere Frau gar nicht von ihm auf einem Esel ins Krankenhaus gebracht, wo sie verstarb? Hat Crane, der als Augenarzt wenig mit Frauenheilkunde zu tun hat, selbst als Arzt versagt? Hat er einzelne Bewohner des Dorfes in ein falsches Licht gerückt? Hat er die Fakten vollkommen verdreht, um mit seinem Buch einen Erfolg einzufahren? Erzählte er emotional und rührselig mit Happy End, weil das eben die Leserschaft so will? Als Parvin sich eingesteht, dass sie, wie alle anderen Leser einer Art Scharlatan aufgesessen ist, schreibt sie an ihre Professorin und berichtet über ihre Erkenntnisse und fragt sie, was jetzt zu tun ist. Muss das öffentlich bekannt werden oder würde das dem Dorf, den Frauen mehr schaden, weil keine Spenden und Fördergelder mehr kommen würden? Schließlich wird gerade eine neue Straße zum Dorf gebaut. Obwohl dem Rat des Dorfes eine Schule oder ein Bewässerungssystem für die Felder wichtiger wären.

Aufgrund der langen Wege, erfährt Parvin viel zu spät, dass ihre Professorin ihren Brief öffentlich gemacht hat. Der Stein kommt ins Rollen. Und nicht zum Vorteil Parvins. Die amerikanischen Soldaten, die den Bau der Straße überwachen, sehen Parvin als Verräterin. Der Sohn ihres Vermieters radikalisiert sich, ob der Verlogenheit der Amerikaner. Der Bau der Straße wird von Milizen unterbrochen. Die Stimmung wird gereizter. Die Ärztin auf dem Weg ins Dorf „versehentlich“ von amerikanischen Soldaten erschossen.

„In klaren Momenten verstand sie, dass die Amerikaner das Dorf benutzt hatten, um ihre Gutmenschenfantasien, ihre Sehnsucht nach Selbstvervollkommnung und dann auch ihre Herrschaftsgelüste auszuleben. Wie Trotter und Crane hatte auch sie sich dessen schuldig gemacht. Sie hatte hier die Anthropologin spielen wollen, aber es war nie mehr als ein Spiel gewesen, weil sie irgendwann ohne groß darüber nachzudenken ihre gesamte anthropologische Arbeit beiseitegeschoben hatte.“

Parvin steht zwischen den Stühlen. Sie ist erschüttert und merkt zum ersten Mal, dass es für die Dorfbevölkerung nicht unbedingt nur von Vorteil ist, dass die Amerikaner im Land sind. Die Frauen, die vorher unverschleiert waren, bevor Fremde ins Dorf kamen, um die Klinik zu bauen, müssen sich nun vollverschleiern. Der Bau der Straße zieht die Aufständischen an und bringt den Krieg immer näher ins Hinterland, das bisher verschont blieb.

Amy Waldman hat hier ein ganz starkes Buch zu einem brisanten Thema geschrieben, dass vollkommen unparteiisch aufzeigt, wie sich die Situation im Land verändert hat durch die Amerikaner. Sie zeichnet ihre Figuren höchst lebendig und schafft es die Stimmung im Dorf aufzuzeigen. Sinnlich und atmosphärisch dicht schildert sie das Erleben ihrer Heldin, die sich hin und hergezogen fühlt und nicht mehr weiß, wo genau sie nun hingehört. Wird sie zurückkehren in ihre Welt in den USA? Das Ende bleibt offen, zum Glück. Große Empfehlung!

Der Roman erschien im Schöffling Verlag und als btb-Taschenbuch. Übersetzt hat es Brigitte Walitzek. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren Dumont Verlag

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Ein neuer Roman von Judith Kuckart ist ein sicherer Ort! Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich bisher fast jeden ihrer Romane gelesen und gemocht. So auch diesmal. In „Café der Unsichtbaren“ geht es um die Unsichtbaren, die für ein Sorgentelefon arbeiten und den ebenso unsichtbaren Anrufern draußen am Telefonhörer lauschen. Zuhören, einfach zuhören, fragen, da sein und andererseits einfach jemanden zum Zuhören haben. Um Problemlösungen geht es hier nicht, nur um das Gefühl, nicht allein zu sein mit der eigenen Not.

„Irgendjemand musste es geben, der all diese Unglücklichen in den gleichen Regenmantel gesteckt hatte, an dem das Leben so schmerzlich abperlte.“

Berlin: Wir begleiten sieben grundverschiedene Menschen bei ihrer Arbeit für das Sorgentelefon. Alle haben zusammen eine zweijährige Ausbildung absolviert, um diese Tätigkeit ausüben zu können. Da ist Matthias, 45, Haustechniker, Emilia, 23, Bankangestellte, in die er sich verliebt, Rieke, die Theologie studiert und für die das Sorgentelefon eine Art Weiterbildung ist, Wanda, um die vierzig, die im Archiv des DDR-Museums arbeitet, Marianne, 55, die Buchhalterin, die mal etwas ganz anderes machen wollte, ehe sie sich verloren ging, Lorentz, der pensionierte Redakteur und als älteste Frau von Schley mit ihren achtzig Jahren. Sie ist auch die einzige Ich-Erzählerin in dieser Geschichte, die eigentlich aus vielen kleinen Episoden besteht, die sich auch in das Privatleben der Protagonisten ausdehnen. Unweigerlich, hängt ihre Tätigkeit, doch mit ihren speziellen Lebenserfahrungen eng zusammen. Wir Leser*innen beobachten, wie sich die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander gestalten, verändern, wie sie sich beeinflussen, sich verhalten, wenn sie sich in der Dienstküche beim Kaffeeholen oder nach der Nachtschicht beim Frühstück  begegnen.

Gleichzeitig hören wir von den Menschen auf der anderen Seite des Telefons Geschichten, die traurig machen, zeugen sie doch von soviel Einsamkeit, von der Notwendigkeit einer Gemeinschaft. Besonders viele Anrufe erreichen die Seelsorger von Menschen aus dem Osten Deutschlands, was mich nicht verwundert. Spannend wird es auch, wenn Rieke am Telefon plötzlich erschrickt, weil sie glaubt der Teufel persönlich spräche mit ihr. Und wie reagiert man beispielsweise auf den Hilferuf eines Mannes, der sich als pädophil outet?

„Als Matthias sich vor vier Jahren für das Ehrenamt bei Sorgentelefon e. V. beworben hat, hat er nicht erwartet, dass der größte Teil der Anrufer arm, schon älter, einsam und oft aus jenem Teil des Landes sein würde den der Westen als ehemaligen Osten bezeichnet, so als würde es die Himmelsrichtung Osten seit 89 nicht mehr geben.“

Judith Kuckarts Roman ist vor allem ein Roman über die Zeit. Darüber wie Vergangenheit, Gegenwart und womöglich auch Zukunft auf gleicher Ebene, im gleichen Raum geschehen. Geschickt spielt sie mit den Zeiten. Geräusche, wie Vogelgesang und Düfte durchziehen den Roman und schaffen Sinnlichkeit. Immer wieder werden Erinnerungen oder Zukunftshoffnungen beschworen. Zugleich legt der Roman immer wieder den Blick auf Religiöses, auf die hohe Symbolkraft der Theologie; er spielt zudem passend an einem Osterwochenende von Gründonnerstag bis Ostermontag. (Also großartig geeignet als Lektüre fürs kommende Wochenende)

So treffen sich am Ostersonntag die Nothelfer zum Osterfrühstück bei Lorentz in der Frankfurter Allee. Hier zeigt sich auch, wie sich Freundschaften, gar Beziehungen untereinander gebildet haben und wie brüchig diese dann andererseits wieder sind, weil die Vergangenheit winkt oder der Alltag im Jetzt auch allein schwer genug ist. Doch Sehnsucht haben sie alle. Immer noch und immer wieder.

„Doch sind ihm wie mir jene Gespräche die bedrückendsten, bei denen man sehr allein, aber doch an beiden Enden der Leitung gleichzeitig sitzt, weil der Anruf klingt, als käme er von einem selbst.“

Ich freue mich sehr über Judith Kuckarts reiche bildhafte Sprache. Man merkt, dass sie auch fürs Theater  arbeitet, Choreographien auch fürs Tanztheater macht. Im Buch finden sich außerdem Bezüge zu Shakespeare-Stücken. Großartig sind viele erfindungsreiche, manchmal auch etwas verrückte Wortverbindungen wie: „saß der Abend gegenüber auf dem Haus“ oder „ein Haus, das wie ein Kindermädchen aussah“ oder „durch das innere Wäldchen des Alters laufe(n) …“ oder „seinen Nachnamen bei der Vorstellung weggemurmelt hatte“. Ich hatte das Gefühl, das angenehm wenig passiert in diesem Roman und gleichzeitig auf einer tieferen Ebene ganz viel. Fazit: Roman wieder gelungen!

Das Buch erschien im Dumont Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ein wirklich schönes Interview mit Judith Kuckart auf dem „Blauen Sofa“ hänge ich hier an:
https://www.zdf.de/kultur/das-blaue-sofa/kuckart-blaues-sofa-leipzig-18-03-2022-100.html

Weitere Besprechungen von Judith Kuckarts Romanen hier auf dem Blog:

Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter Dumont Verlag

Ava Farmehri: Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen Edition Nautilus

Bereits der Buchtitel weißt auf die Geschehnisse in diesem Roman hin. Er ist einer Zeile aus Dante Alighieris Inferno nachempfunden. Und tatsächlich geht es hinein in die Düsternis, ins Gefängnis und ins Gefangensein in einer unfreundlichen Welt. Ava Farmehri (der Name ist ein Pseudonym) stammt aus dem Nahen Osten und lebt in Kanada. So spielt die Geschichte des Buches auch im Iran.

„Sie werden mich töten.
Mein Prozess hat drei Wochen gedauert. Und ich habe noch Glück, manch unglückliche Seele wartet jahrelang, nur um am Ende dieselbe Nachricht zu erhalten. […] und so kam die zügige Entscheidung nicht überraschend. Jedenfalls nicht für mich. Schließlich ist das hier Iran.“

Mit diesen Zeilen beginnt der Roman und die, die man töten, die man hängen wird, ist die zwanzigjährige Sheyda. Im Gefängnis wird sie mit Gewalt vor allem gegen Frauen konfrontiert. Und sie reflektiert ihre Geschichte. So erfahren wir Leserinnen, wie es zu dem Mord an ihrer Mutter, den sie ohne zu Zögern gestand, kam. Das ist hochspannend und in einer Sprache geschrieben, die melodiös und poetisch ist und in einer Schönheit, die sehr im Kontrast zum Inhalt steht.

Am ersten Tag der Islamischen Republik 1979 wird auch Sheyda geboren. Die Eltern, noch vom Schah beeinflusst, müssen sich plötzlich von ihrem freien Leben verabschieden und sich einer religiösen Regierung unterordnen. Sheyda, deren Eltern heirateten, weil die Mutter mit ihr schwanger war, spürt von Anfang an, dass ihr Leben nicht stimmig ist. Als Kind tanzt sie den Erwachsenen auf dem Kopf herum, lügt und bleibt ungezähmt, allerdings auch immer Außenseiterin im Gleichaltrigenkreis. Bereits als junges Mädchen verliebt sie sich unsterblich in den wesentlich älteren Sohn der Nachbarin. Als dieser Selbstmord begeht, will sich auch Sheyda das Leben nehmen, wird jedoch gerettet. Etwas ist fortan zerbrochen und unheilbar. Lange Zeit bleibt sie Bettnässerin. Die Eltern schleppen die Tochter zum Psychiater. Dort wird sie lange bleiben, jedoch nur selten die Wahrheit erzählen. Als der Vater bei einem Unfall stirbt, erfahren Mutter und Tochter, dass dieser ein Doppelleben mit einer anderen Frau führte und ihnen außer dem Wohnhaus nichts hinterlassen hat. Sheydas Verhältnis zur Mutter wird dadurch nicht besser. Die Mutter zerbricht fast vollkommen daran. Beginnt sich zu vernachlässigen und das Haus nicht mehr zu verlassen. Die Tochter ist bald auf sich allein gestellt.

„Die Stille war das wahre Grauen, die größte Gefahr für meine Psyche. Die Stille zwingt dich, den Blick von der Welt abzuwenden und ihn nach innen zu richten auf deine zerstörte, verrottete Seele, auf das Wrack, zu dem dich das Leben gemacht hat.“

Als älterer Teenager hat Sheyda eine Affäre mit dem verheirateten Lehrer. Später beginnt sie ein Studium, arbeitet nebenher in einer Buchhandlung, versucht sich freizuschwimmen, sich durch Lesen und Bildung aus ihrer Rolle zu befreien. Sie hat immer wieder Beziehungen, die meist nicht lange andauern, denn für Sheyda ist es schwer, einem Menschen tatsächlich zu vertrauen, dabei ist sie auf der Suche nach Nähe und Liebe.

„Bewacht wurden wir von Frauen. Jungen, hässlichen, erbarmungslosen Frauen. Ich hatte vorher nicht gewusst, zu welcher Grausamkeit Frauen fähig waren, vor allem gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen. […] Es fühlte sich wie Verrat an. […] Warum zerfleischen wir uns gegenseitig? Wir sind doch alle Opfer dieses Landes, dieser Welt. Alle Frauen innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern, wir alle sind Opfer der Männer und ihrer männlichen Götter!“

Farmehri lässt ihre im Gefängnis sitzende Heldin immer wieder zwischen Mut und Verzweiflung schwanken, immer wieder zwischen Haftalltag und Erinnerungen hin und her pendeln. Ein Besuch zweier Verwandter kurz vor dem Hinrichtungstermin wirft plötzlich eine neue Perspektive auf die Schuld der jungen Frau. Wie war das wirklich mit dem Tod der Mutter?

Es ist ein Roman mit dunkler Atmosphäre, der in seiner bildhaften Sprache gerade das Bittere der Geschichte zeigt. Die tragische Heldin ist, so wie viele Frauen im Iran, auch außerhalb des Gefängnisses kaum frei. Sie muss sich traditionellen Rollen, die von der Religionspolizei streng überwacht werden unterwerfen. Sie ist nicht immer sympathisch, doch kommt sie einem sehr nah, so dass man auch mit dem Schluss des Romans hadert. Und doch muss es so enden – „Die Freiheit“ – so die letzten Worte.

Das Buch erschien in der Edition Nautilus. Es steht auf dem 1. Platz der Litprom-Bestenliste Weltempfänger Winter 2020. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Eine Leseprobe gibt es hier. Dunkles Leuchten!

Anna Burns: Milchmann Tropen Verlag

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Anna Burns Roman „Milchmann“, für den sie 2018 den Man Booker Prize erhielt, hat mich in meine eigene Kindheit in den 70er Jahren versetzt. Nicht nur wegen dieses überwachten und traditionsbehafteten Aufwachsens, sondern auch weil ich mich selbst an Nachrichten erinnere, in denen der bürgerkriegsartige Nordirlandkonflikt (1969 – 1998) ständig präsent war. Ich wunderte mich dann immer, wie es sein kann, dass man die „falsche“ Religion (katholisch vs. protestantisch) haben kann, wenn man doch an denselben Gott glaubt. Und vor allem, wie man sich in seinem Namen gegenseitig bekriegen kann. Leider ist es ja bis heute so, zwar nicht mehr in Nordirland, aber anderswo. Und oft geht es um weit mehr als die Religionszugehörigkeit.

Anna Burns hat einen historischen politischen Roman geschrieben und einen, in dem irgendwie auch eine Emanzipationsgeschichte mitklingt. Sie zeigt, dass es eigentlich immer die Frauen sind, die „die Welt retten“ oder sie zumindest am Laufen halten. Die Frauen, die es hier in dieser Geschichte gegen jedes Macho-Gehabe schaffen, Familien mit vielen Kindern zu versorgen und zu ernähren, oft ohne einen Mann, da er entweder im Gefängnis sitzt oder gar bereits aus politischen Gründen ermordet wurde oder als verschollen gilt. Die meisten sind alles andere als emanzipiert und in ihrer Geschlechterrolle gefangen, aber es gab eben doch immer wieder einzelne, die es geschafft haben, das Bewusstsein der anderen zu wecken und aus dem jahrzehntelangen Albtraum der kriegerischen Auseinandersetzungen und den damit verbundenen vorgegebenen Einschränkungen auszubrechen und es schrittweise anders zu machen als üblich.

„Mit achtzehn wusste ich noch nicht, was unerwünschte Annäherung war. Ich hatte ein Gefühl, eine Intuition, eine unwillkürliche Abneigung gegen manche Situationen und Menschen, aber mir war nicht klar, […] dass es mein gutes Recht war, nicht jeden Dahergelaufenen zu mögen, dass es mein gutes Recht war, nicht auf ihn einzugehen, wenn er sich mir näherte.“

Die Autorin hat eine stimmige, mitunter durchaus komische Art gefunden, diese Geschichte zu erzählen. Alle Protagonisten sind namenlos, auch die 18-jährige Heldin, aus deren Sicht berichtet wird. So gibt es dann eben den „Milchmann“, „Vielleicht-Freund“, „Schwager Drei“, „Tablettenmädchen“ und „Irgendwer McIrgendwas“.  Sie lebt mit Mutter und drei kleineren Geschwistern „Kleine Schwestern“ zusammen. Die älteren Geschwister sind aus- oder weggezogen, der Vater tot. Gleich am Anfang lernen wir eine Macke der Heldin kennen, die sie schließlich auch auf die Liste der auffälligen Personen in ihrem Wohnbezirk gebracht hat: Sie liest im Gehen dicke Bücher, zumeist Klassiker des 19. Jahrhunderts. Sie geht gerne zu Fuß und sie joggt gerne und das weiß auch der „Milchmann„, der ihr immer wieder auflauert. Das schlimme daran ist für die Heldin seine subtile Manipulation, dass er scheinbar zunächst nichts wirklich von ihr will, sie kaum ansieht, auch nicht berührt, aber alles über sie weiß und unterschwellig Bedrohung und Tücke ausstrahlt. Und: diese Begegnungen schüren die Gerüchteküche. Etwas was zu dieser Zeit in diesem Umfeld die Wahrnehmung einer Person bestimmt.

„Die skandalöse Milchmannaffäre hatte sich explosionsartig verbreitet, sie grassierte wie wild, war der absolute Renner, und deswegen, wegen der Häufung der Grenzüberschreitungen, fühlte ich mich mehr und mehr in Inkohärenz und Ohnmacht gedrängt.“

Burns erzählt so, wie man eine Geschichte vielleicht mündlich erzählen würde. Sie schweift ab, kommt vom Hundersten ins Tausendste und findet irgendwann viele Seiten später wieder den roten Faden. Das fordert von Lesern höchste Aufmerksamkeit. Und auch die sehr fremd anmutenden Hierarchien dieser Lebensgemeinschaften aufgeteilt in Bezirke, Niemandsland (die Zehnminutengegend)

„Sie sagte, sie sei in „einer Viertelstunde und zehn Minuten“ da, was fünfundzwanzig Minuten bedeutete, was verständlich war, denn die Zehnminutengegend war so trostlos und unheimlich, dass niemand sie in seine normalen Berechnungen einbeziehen wollte.“

oder gefährlichen Zonen, die Zugehörigkeit zu Paramilitärs, Sympathisanten oder Regierungstreuen, das komplette Ausgrenzen von „denen auf der anderen Seite der Grenze“ oder gar „der See“ und das furchtbare Misstrauen jedes Einzelnen gegen den Anderen, macht dieses Buch zu einem höchst komplexen Unterfangen. Was meiner Meinung nach absolut gelungen ist. Mich hat das Buch nicht losgelassen, obwohl augenscheinlich nichts Spektakuläres passiert.

Erst gegen Schluss scheint sich etwas neu zu sortieren und vor allem in der Familie der Heldin in Gang zu kommen. Vergangene Ereignisse gelangen ans Licht und lösen lange währende Ungereimtheiten auf. Männerrollen dürfen sich verändern. Frauen wachsen an schwierigen Ereignissen und Kinder tanzen auf der Straße. Und manches bleibt auch gleich, hat sich bewährt und vielleicht bis heute nicht verändert … wenig hört man heutzutage noch von Nordirland. Mir hat dieser Roman in all seiner Eigenart und Fülle sehr gefallen. Ein Leuchten!

Der Roman der 1962 in Belfast geborenen Autorin erschien im Tropen Verlag. Übersetzt hat es Anna-Nina Kroll. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Hanne Ørstavik: Die Zeit, die es dauert Karl Rauch Verlag

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Es ist nun das dritte Buch von Hanne Ørstavik nach „Liebe“ und „So wahr, wie ich wirklich bin“, dass ich lese. Jedesmal fängt alles so still und harmlos an und dann fächert die Autorin nach und nach die ganzen dunklen Seiten ihrer Protagonisten und deren Lebenswelt auf. Und aus ist es mit der idyllischen Harmonie. Keiner kann das besser als sie.

Die Norwegerin Hanne Ørstavik, die selbst ganz oben im Norden geboren wurde, in einer Gegend, die nah an Finnland, aber auch an Russland grenzt, in der auch die samische Kultur lebt, weiß, was Dunkelheit ist. In einer Gegend, in der es im Sommer nicht dunkel und im Winter nicht hell wird scheint das Leben generell anders, als wir es hier kennen und bringt womöglich auch diese sehr spezielle Art von Literatur hervor.

Es ist die Vorweihnachtszeit, in der die Geschichte spielt. Die junge Signe ist mit der kleinen Tochter und ihrem Mann aufs Land gezogen. Die Eltern, speziell die Mutter, wünschen sich, dass sie mit der Familie an den Weihnachtstagen zu Besuch kommt, denn Weihnachten ist das extrem aufgeladene Fest der glücklichen Familie. Signe weigert sich. Sie möchte allein mit Mann und Kind sein.

Als mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, dass es möglich sei, Weihnachten für uns allein zu haben und diese schweren, wunden Tage zu umgehen, Weihnachten auf unsere Weise zu feiern, als mir klar wurde, dass dies tatsächlich möglich war, dass ich eine Wahl hatte, […] dass ich tatsächlich Nein zu etwas sagen konnte, […] hatte ich eine unglaubliche Erleichterung empfunden, ich hatte mich so mächtig gefühlt.“

In vielem fühlt sie sich überfordert in dem alten Haus, in dem noch viel gemacht werden muss. Das liegt jedoch vor allem an ihrem Perfektionismus, an dem „alles muss schön und harmonisch sein“, dass sie von Kindheit an gehört hat. Das jedoch erfahren wir erst im Laufe des Romans und zwar Stück für Stück. Ahnungslos gehen wir in diese Geschichte hinein und werden nach und nach zum Zeugen einer vollkommen zerrütteten Ehe und einer zerrissenen Kindheit.

„Etwas war passiert und sie hatte nicht aufgepasst, sie hatte einfach geschlafen, und da war die Mutter ganz allein gewesen. Signe dachte, dass sie aufmerksamer lauschen musste, um beim nächsten Mal rechtzeitig aufzuwachen.“

In den Rückblenden wird aus der Sicht der 13-jährigen Signe erzählt, der gläubigen, die sich auf Weihnachten freut, gerade erste Liebeserfahrungen macht und die sich nur wünscht, dass die Eltern gut miteinander sind. Doch der gewalttätige Vater, der eine psychiatrische Klinik leitet und die Mutter, eine Sozialarbeiterin, können eigentlich nicht mehr miteinander und schaffen es trotzdem nicht auseinander zugehen. Besonders der Vater hat ein überhöhtes Bild davon, wie eine Familie zu leben hat, wie sie perfekt zu funktionieren hat. Die Mutter wünscht sich weg in den Süden, wo es mehr Licht und mehr Lebendigkeit gibt. Die obligatorischen gemeinsamen Abendessen, die dem Zusammenhalt förderlich sein sollen, werden oft zum Tribunal, der übermächtige Vater als Ankläger der „schuldigen“ Mutter, der seine Frau sogar vor den Kindern schlägt. Signe versucht, immer wieder hoffnungsvoll, zu vermitteln, übernimmt viel zu viel Verantwortung für ihr Alter, sie und der Bruder versuchen auszuhalten, was nicht auszuhalten ist.

„Ihre Stimme war scharf. Signe schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass sie nicht darüber reden durfte. Niemand durfte etwas wissen. Dann wäre alles ruiniert, alles würde zerspringen und auseinanderfallen, die ganze Familie, alles.“

Signe verliert sich oft in Erinnerungen von Sommerferien in der eigenen Hütte in den Bergen, in denen vermeintlich noch alles gut war. Doch auch hier zeigten sich schon die Brüche.

Die Kunst der Autorin liegt darin, uns zunächst ganz im Unklaren zu lassen, worum es genau in ihrem Roman geht. Dann ganz still und leise, zunächst nur in Andeutungen, legt sie eine Spur, um dann nach und nach das ganze Ausmaß aufzuzeigen. Bedeutsames liegt oft zwischen den Zeilen, jenseits der Worte. Am Ende des Buchs, vielleicht sogar erst Minuten später kommt die Erschütterung und weicht so schnell nicht wieder. Es ist schwer zu erklären, wie sie das macht, wie sie immer und immer wieder mit ihren tiefen Geschichten und ihrer dichten Sprache überrascht und ja, mitunter auch schockiert. Nordlichtleuchten!

Der Roman erschien, wie alle von Hanne Ørstavik im Karl Rauch Verlag (ja, genau, der mit dem Kleinen Prinz) in wunderschöner Ausstattung: Haptisch, der blaue Einband, feines Papier und farblich passende Fadenheftung. Übersetzt hat es Andreas Donat. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Literaturreich.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Jon Fosse: Der andere Name Rowohlt Verlag

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Welch kostbare Lektüre! Welch Leuchten!

Von Jon Fosse, dem großen norwegischen Dramatiker, Lyriker und Romanautor, ist der erste Band seines auf 7 Bände angelegten Werks erschienen. Wie immer hat Hinrich Schmidt-Henkel brillant übersetzt, was bei Fosses Sprachduktus sicher alles andere als einfach ist. Andererseits erkennt man Jon Fosses Werk anhand dieser Sprachmelodie zumindest bei seinen Romanen sofort heraus. Ich bin auch gerade wegen dieser reduzierten, meditativen Sprache große Liebhaberin seiner Bücher und Stücke.

Jon Fosses „Der andere Name“ auf einen bestimmten Inhalt festzulegen, ist schwierig. Es gibt sicher wenige Autoren, bei denen das Werk so wenig plotorientiert ist. Die Geschichte lebt von der einfachen Sprache mit einer einzigartigen Rhythmik mit vielen refrainartigen Wiederholungen, die das Geschriebene trägt. Fosse selbst nennt es „Langsame Prosa“, was es ziemlich gut trifft. Was einem nicht-Fosse-Kundigen anfangs befremdlich scheint, wird im fortgeschrittenen Lesestadium zu einem einzigen Fluß ohne Halt, zu einer Reise durch Raum und Zeit (Fosses Roman hat keine Kapitel, keinen Punkt, nur Kommas – ein einziger langer Satz! Ich liebe es!). Fosse verhandelt hier die ganz großen Themen wie Liebe und Tod in einer Weise, wie sie nur im Kleinen, in den ganz einfachen Dingen des Lebens zu finden sind.

„ja, seltsam, denn groß ist die Entfernung nicht, der Abstand zwischen den Lebenden und den Toten, obgleich diese Entfernung unüberwindlich wirken mag, ist sie es nicht,“

Es geht um einen Maler, der seit seine geliebte Frau gestorben ist, allein in seinem alten Bauernhaus lebt, recht erfolgreich ist mit seinen Bildern, die ein Galerist in Bergen (Fosse schreibt den alten Stadtnamen Bjorgvin) für ihn verkauft. Beinahe der einzige mit dem er freundschaftlichen Kontakt hat, ist sein Nachbar, ein Fischer und Landmann, der ihm oft mit Arbeiten in Haus und Hof hilft. Ihre Gespräche bestehen fast immer aus den gleichen Themen. Keiner versteht so richtig die Lebensart des anderen und doch verbinden sie diese ritualartigen Treffen auf ganz eigene Weise. Der kleine Hund Brage, der unverhofft in des Malers leben auftaucht, ist mir durch Fosses zarte Beschreibung sofort ans Herz gewachsen.

„ich bin nie besonders gern bei Leuten zu Hause gewesen, dafür war ich immer zu schüchtern, ja mir ist dann, als ob ich etwas tun würde, wozu ich kein Recht habe […] als ob ich ihr Leben stören würde oder jedenfalls selbst gestört würde von ihrem Leben, das sich mir aufdrängt, ja als ob ich vom Leben der anderen ausgefüllt würde,“

Ab und an fährt der Maler nach Bergen und bringt neue Bilder, erledigt Einkäufe oder besucht einen Freund, bei dem es sich womöglich um ein Alter Ego des Malers selbst handelt. So ganz klar wird es nie, denn die Geschichte spielt letztlich auch außerhalb einer sicheren Realität, vielleicht in einem bewusstseinserweiternden Raum oder auf einer (oder mehreren?)Meta-Ebene. Darauf weist einiges hin, denn der Maler versinkt oft in Erinnerungen, die sich recht bildhaft zeigen. Hier verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Personen verwandeln sich oder finden sich gedoppelt.

In den Erinnerungen zeigen sich prägende Kindheitsszenen: Der Maler Asle hat schon als Junge so gut gezeichnet, dass er seine Bilder an Nachbarn verkaufen konnte. Der gute Bekannte Asle, der den gleichen Namen wie der Maler trägt, hat bereits in seiner Kindheit Tod und Missbrauch erlebt und fühlte sich schuldig, weil er die Verbote der Mutter missachtete.

Am schönsten sind die Szenen, in denen der Held von seiner Herangehensweise an das Malen seiner Bilder, ausschließlich Öl auf Leinwand, erzählt: Dazu gehört meditatives Sitzen und Eintauchen in das Bild, oft im Dunkeln, weil er im Dunkeln das Leuchten, das Licht in den Bildern erkennt. Dann sind seine Bilder gelungen, wenn sie, zumindest für ihn dieses Licht im Dunklen haben. Und das bringt er durch den Verkauf der Bilder hinaus in die Welt …

„und manchmal sorgt nur ein einziger Strich dafür, dass das Bild so sprechen kann, und das ist nicht zu begreifen, denke ich, und, denke ich, so ist es auch mit der Dichtung, die ich gern lese, nicht dass es wichtig ist, was über dies oder das gesagt wird, sondern etwas anderes, etwas das stumm in und hinter den Sätzen spricht“

Für mich ist der Roman eine Hommage an die Einfachheit, die Hingabe und ein zutiefst spirituelles, mystisches Buch. Ein Leuchten, ölbildfarbenes Leuchten!

Der Roman „Der andere Name“ erschien im Rowohlt Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich freue mich schon auf den nächsten Band, der hoffentlich bald übersetzt ist. Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar!

Weitere Besprechungen auf dem Blog zu Jon Fosses Roman „Trilogie“ und zu dem wunderbaren Gedichtband „Diese unerklärliche Stille“:
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/05/27/jon-fosse-trilogie-rowohlt-verlag/
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/03/12/jon-fosse-diese-unerklaerliche-stille-verlag-kleinheinrich/

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Linda Vilhjálmsdóttir: Freiheit Elif Verlag

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Auch in diesem Jahr kommt aus dem Elif Verlag, dessen kleines Programm immer beachtlicher wird, ein Lyrikband aus Island. Ganz eindeutig scheint die Zusammenarbeit  des engagierten Verlegers Dinçer Güçyeter mit Übersetzer und Islandexperte Wolfgang Schiffer reiche Früchte zu tragen.

„zwischen
himmel und erde
ist alles

wie es geschrieben steht“

Diesmal ist es Linda Vilhjálmsdóttir, die ihren Gedichtband „frelsi / freiheit“ nennt, der in Island bereits im Jahr 2015 erschien und großen Erfolg hatte. In einem einzigen strömenden Ton, teils anklagend, teils ermahnend, durchleuchtet sie unser heutiges Menschsein. Die 58-jährige Isländerin hakt nach und gibt sich nicht gleich zufrieden. Energisch, teils wiederholend und dringlich schiebt sie nach, ein gesellschaftskritisches Bild nach dem anderen. Wie sagt man so schön: Sie hält uns den Spiegel vor.

Im ersten Teil geht es um das Weltliche. Wir und unsere Bequemlichkeit, unser Wohlstand. Das ist nicht spezifisch isländisch, das gilt generell für die westliche Welt. Es geht um das, was wir haben, um unseren Besitz, sei es der Gasgrill oder das Fitnessgerät.

„das ziel ist es in einer woche
mindestens fünfhundert gramm
menschlichen fetts zu verbrennen.

dazu pumpen wir
auf der veranda und rackern uns ab auf dem crossstepper
und auf dem laufband in der garage

auf diese weise werden wir
in kürze alle bedingungen erfüllt haben
zur auferstehung des fleisches“

Der zweite Teil führt uns ins heilige Land. Doch auch hier ist nicht mehr alles heilig. Hier kämpfen die Religionen um ihre Vorherrschaft, auch hier geht es nicht mehr um den Glauben allein, nicht ums Religiöse. Hier herrscht Fanatismus und wieder geht es um Besitz. Wem gehört das Land? Welche Religion ist die Richtige?

„jahrhundert um jahrhundert durch marmor und metall
durch synagogen moscheen mauerwerk
hinein in die zerrissenen herzen der muslime und der juden
von denen keiner von beiden zögert den sohn des anderen zu opfern
im krieg um das alleinige recht den vorfahren zu ehren
um das alleinige recht in frieden zu leben im heiligen land.“

Der dritte Teil erzählt von der verschwindenden Natur, der Politik des Konsums, der gesellschaftlichen Forderungen, wie wir sein und uns verhalten sollen, das Streben nach immer mehr, immer schneller, immer weiter …

„gut beraten
in andacht
der festansprache zu lauschen

über unverbrauchte ressourcen
ungefangene makrelen ungebändigte energie
unberührte weiden und unbegrenzte möglichkeiten

in andacht zuzuhören
wenn in den kiefern der minister der knisternde markt
zusammenfließt mit dem lukrativen krachen des schmelzenden eises
in nördlichen gebieten und sich das ende der bewohnten welt
in einen strudel neuer weltsicht wandelt.“

„Freiheit“ ist eine zweisprachige Ausgabe, aus dem Isländischen übertragen von
 Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Freiheit in schlichtem Karton mit japanischer Bindung. Mehr über Buch und Autorin findet sich hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Akwaeke Emezi: Süsswasser Eichborn Verlag

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„Aber ich bin nicht gänzlich gegen den Wahnsinn, nicht, wenn er mit dieser Form der Klarheit einhergeht. Die Welt in meinem Kopf war bisher viel realer als diejenige außerhalb – vielleicht ist das die exakte Definition von Wahnsinn, wenn ich darüber nachdenke.“

Über das Thema Traumatisierung und Missbrauch in der Kindheit ist ja schon oft geschrieben worden, aber noch nie auf diese Art und Weise. Noch nie aus solcher Perspektive, noch nie in einer solch poetisch-feinen Sprache. Wenn die verschiedenen inneren Anteile einer Person geisterhaft eine Geschichte erzählen, ist das ungewöhnlich. Hier bleibt nichts eindimensional. Die nigerianisch-tamilische Autorin Akwaeke Emezi nennt das in ihrem Roman „die andere Seite“, was ich viel stimmiger finde, als von Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Die Erlebnisse aus der Kindheit werden abgespalten und verdrängt. Doch jeder Anteil erhebt in diesem Roman seine Stimme. Wenn der Schutzmechanismus um zu überleben, die Verdrängung, nicht mehr funktioniert, zeigt sich die psychische Krankheit. Nicht immer ist das nur pathologisch zu sehen, sondern weist auf eine Verbindung mit etwas Höherem hin. Darauf läuft Emezis Geschichte hinaus, die auch eine Art der spirituellen Entwicklung aufzeigt. Deshalb freue ich mich riesig über diesen Roman. Die Autorin schreibt mit einer Selbstverständlichkeit über dieses So-Sein, das es für mich nichts mehr Schreckhaftes hat. Erst kürzlich ließ George Saunders in „Lincoln im Bardo“ die Geister der Toten sprechen. Doch konnte er mich rein gar nicht damit überzeugen. Das sieht hier bei Emezi ganz anders aus: Sie kann mich sprachlich begeistern, sie schreibt in einem besonders ausdrucksstarken, sehr eigenen Stil.

Emezi erzählt davon, das es nicht leicht ist mit solch einem Makel oder einer Gabe durchs Leben zu kommen. Ihre Heldin ist eben nicht „normal“, versucht den Schein nach außen hin aber unbedingt zu wahren. Ada kommt in diesem Roman selten selbst zu Wort. Häufig erzählen die Ogbanje, die Geister die in ihr, durch sie leben. In mehreren Schüben baut sich die Ver-rücktheit auf, bis die große Gegenspielerin des Göttlichen, Asughara im „Marmorzimmer“, in Adas Kopf auftaucht, und sich in deren Leben unangenehm und penetrant einmischt. Auslöser ist die Vergewaltigung durch einen Kommilitonen.

„Ogbanje sind Schwellenwesen – Geist und Mensch, gleichzeitig beides und keines von beidem. Ich bin hier und doch nicht hier, real und unwirklich, Energie, in Haut und Knochen gepresst. Ich bin meine anderen; wir sind eins, und wir sind viele.“

Wir begleiten Ada in kurzen Sequenzen durch ihre Kindheit, später durch ihre Studienzeit. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter im Ausland gearbeitet, die Kinder zunächst allein in Nigeria zurückgelassen. Unter der Obhut des älteren Bruders, kommt es wiederholt zu Gewalt und Mißbrauch. Später schickte sie ihre Kinder zum Studium, Ada in die USA, an eine Provinzuniversität in Virginia. Mit Selbstverletzungen durch Ritzen und mit unzähligen Affären versucht Ada sich selbst zu spüren, später sogar mit einem Selbstmordversuch auf die „andere Seite“ zu gelangen.

„Und so bricht man ein Kind, wisst ihr. Schritt Nummer eins: Nimm ihm die Mutter weg.“

Als schließlich auch noch ein eher zarter, junger männlicher Geist namens Saint Vincent in ihr auftaucht, wandelt sich Ada in ein Richtung Männlichkeit driftendes Wesen, fühlt sich zu Frauen hingezogen und lässt sich sogar die Brüste verkleinern. Zu echter Nähe kommt es jedoch nie, vor zuviel Gefühl und Intimität scheut Ada zurück. Obwohl sie glaubt, zu lieben, bleibt jede Beziehung an der Oberfläche. Doch auch Yshwa, Jesus Christus, bleibt bei ihr, oft im Kampf um die Vorherrschaft über Adas Geist und Verstand.

Die Geschichte, über der immer die Frage schwebt „Wer bin ich wirklich?“, endet mit einer Art Erlösung, einer Befreiung. Ada darf sich selbst erkennen, auch wenn es ein langer Weg ist. Die Angst vor dem Leben, vor dem eigenen Inneren, weicht mehr und mehr, je weiter sie in ihre Herkunft eintaucht, ihre afrikanischen Wurzeln und die Stärke darin erkennt. Ein Leuchten!

Der Roman der 1987 geborenen Akwaeke Emezi erschien im Eichborn Verlag. Übersetzt wurde er aus dem Amerikanischen von Annabelle Assaf und Senthuran Varatharajah, der selbst tamilische Wurzeln hat und einen gleichfalls sehr empfehlenswerten Roman namens „Vor der Zunahme der Zeichen“ geschrieben hat. Eine Leseprobe zu Süsswasser gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Sätze & Schätze.

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer Galiani Verlag

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„Wegen des Hustens war ihr verboten worden zu lesen und zu schreiben. Lesen und schreiben lösten ja bekanntlich die schlimmsten Hustenanfälle aus. Sie langweilte sich entsetzlich.“

Welch großes Glück, dass solche Zeiten vorbei sind! Unerträglich wurde mir beim Lesen die Narrenfreiheit die den Männern zu jener Zeit gewährt wurde, unerträglich die Unterdrückung der Frauen, die bestenfalls mit Handarbeiten still dasitzen durften, als Ehefrau jedes Jahr ein Kind bekommen mussten und denen man jeglichen Verstand, jedes Rederecht absprach. Was die lebhafte, begabte Dichterin Annette von Droste-Hülshoff empfand, wie furchtbar es für sie war in solch einem Korsett gefangen zu sein, keine Eigenständigkeit zu besitzen und dass man ihr großes Talent unbeachtet ließ, ja geradezu unterdrückte und klein hielt, kann ich schmerzlich nachvollziehen.
Und die errungenen Frauenrechte dürfen wir uns nie wieder absprechen lassen. Nie wieder darf es so werden, wie in jener Zeit in der Karen Duves biografischer Roman über die Droste spielt. Schon an der Einteilung des Romans kann man erlesen, wie wenig Platz Fräulein Nette einnehmen durfte und wie viel Raum dem männlichen Ego zustand. Annettes Dichtung kommt auch im Roman wenig zum Zuge – niemand mit dem sie darüber reden konnte. Der Roman hat einen langen Vorlauf, in dem vor allem die Männer in Annettes Leben auftreten dürfen, Verwandte und befreundete Künstler wie etwa die Gebrüder Grimm. Ein Spiegel der Zeit.

Die Handlung von Duves Roman spielt zwischen 1817 und 1821 im Westfälischen. An dieser Gegend lässt Duve kein gutes Haar. Und tatsächlich tun sich die Familien um Droste-Hülshoff schwer mit der neuen Zeit. Sie sind frömmelnde Adelige, die von Gleichberechtigung und Industrialisierung wenig halten, alles Neue verteufeln, sich an das vermeintlich unumstößliche Gottgewollte halten, obgleich sie in der Tat mit ihren langsam zu Grunde gehenden Gütern nicht mehr viel Staat machen können.

„Wollen Sie meine Meinung dazu hören: Eine Frau, die schreibt, setzt ihre Weiblichkeit aufs Spiel. Sie verkauft ihre Seele für Eitelkeit und falsches Kritikerlob, vernachlässigt ihre Pflichten und gewinnt dabei doch nichts.“

Für Männer scheint die Droste ein Schrecknis. Sie haben Angst vor ihr und müssen sich durch Sarkasmus und Scherze auf ihre Kosten vor ihr schützen. Und wenn das nicht mehr hilft, wird sie verklärt, zur Seherin, zur Frau mit dem zweiten Gesicht oder zur Zauberjungfer, dann kann man sie auf einen Sockel stellen. Was „mann“ offenbar nicht kann, ist, sie als gleichwertige kluge, talentierte Person zu sehen. Und derjenige, der es dann schließlich  kann, ist der wenig ansprechend aussehende bürgerliche, mittellose perücketragende Dichter Heinrich Straube, angeblich fast so talentiert wie Goethe. Und Annette nimmt dies dankbar an. Endlich einer, der sich für ihr Schreiben interessiert, ihre Verse schätzt, sich ihr im Gespräch zuwendet. Dass sich eine Heirat zwischen dem Bürgerlichen und dem Freifräulein nicht schickt, ist allen klar. Mit einer Intrige schafft es dann auch der gut aussehende, streng gläubige Arnswaldt, ein Freund von Straube, die beiden zu trennen. Er erreicht sogar, dass Annette tief in ihre Schuldgefühle sinkt und sich von Gott zurecht bestraft sieht.

„Es dauerte Monate, bis sie sich zum ersten Mal gestattete, die Angelegenheit mit Arnswaldt und Straube aus einer anderen Perspektive als vom Boden einer Grube aus zu betrachten und in Erwägung zu ziehen, dass man die Schuld manchmal auch bei anderen suchen durfte, dann zum Beispiel, wenn andere die Schuld hatten.“

In kurzen Zwischenkapiteln berichtet Duve von zeitgeschichtlichen Themen passend zur Handlung, wie etwa die Angriffe auf jüdische Mitbürger, die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue und die Gerichtsverhandlung Heinrich Heines aufgrund eines verbotenen Duells mit Pistolen. Überhaupt ist der Roman tief in die deutsche Geschichte eingebettet. Es ist die Zeit zwischen Romantik und Aufklärung. Die Autorin hat extrem viel recherchiert. Das bereichert den Roman sehr. Duves kluger Witz und die geschickten Wendungen von damaliger in heutige Sprache finde ich äußerst gelungen. (So wandelt sie den heutzutage gängigen Spruch „Hätte, hätte, Fahradkette“ um in „Hätte, hätte, Epaulette“.)

Karen Duve steht meiner Meinung nach mit diesem Buch auf der Höhe ihres schriftstellerischen Könnens. Sie hat einen Roman geschrieben, der mich sprachlich beglückt, inhaltlich vollkommen einnimmt und der trotzdem, auch wenn ich dieses Wort ungern benutze, ein Pageturner ist. Etwas, was wirklich selten zusammen kommt. Sapperment! Ein Leuchten!

Der Roman erschien im Galiani Verlag. Im Einband vorne und hinten finden sich Stammbaum der Droste und eine Karte der Orte, zwischen denen die unzähligen Kutschfahrten stattfinden.

Wer mehr über die Droste erfahren will, dem seien diese informativen Seiten empfohlen:
https://www.nach100jahren.de/  und  https://www.droste-portal.lwl.org/de/