Warum ich lese oder Ich brauche Wahrheit und Aspirin

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Jetzt könnte ich mit Pessoa anfangen …

Aber ich fange anders an. Ich komme aus einer Familie, in der Lesen keine Rolle spielte. Es gab zuhause keine Bücher. Nicht mal Buchattrappen.  Es gab niemanden, der mir das Lesen oder Bücher nahe gebracht hat. Umso erstaunlicher ist meine Initiation …
Das Lesen- und Schreibenlernen in der Schule war Offenbarung.  Lesen war Reisen, Lesen war Flucht, Lesen war abseits der Wirklichkeit. Was war später naheliegender, als eine Ausbildung zur Buchhändlerin zu beginnen?
Ich hatte einen sehr guten Abschluss hingelegt, aber wirklich etwas über Literatur, wie sie funktioniert, wirkt und wie sie Leidenschaften wecken kann, habe ich erst einige Jahre später am besten Arbeitsplatz meines Lebens erfahren. Dort gab es einen Kollegen, der ein immenses Wissen hatte über Literatur. Und zwar tief verinnerlichtes Wissen, das Zusammenhänge schaffen kann, kreatives, nicht auswendig gelerntes Wissen, sondern gelebtes Wissen. Er erzählte mir von Autoren, von denen ich noch nie gehört hatte, er entfachte Leseleidenschaft und pflanzte mir die Liebe zur Lyrik ins Herz.

Und so lernte ich auch Fernando Pessoa kennen: „Ich brauche Wahrheit und Aspirin“ … der Titel eines bibliophilen auf wunderbarem Papier in besonderen Lettern gesetzter Band mit Gedanken und Versen des Portugiesen, welcher in einem winzigen Verlag erschien bei einem passionierten Verleger.

Ich habe mich nie wohlgefühlt, solange ich mich nicht ins Universum legte. *

Ich brauche Wahrheit und Aspirin … das hat mich immer begleitet seither. Es ist, als träfe das genau den Punkt. Meinen Lebenspunkt. Wahrheit als Metaebene und dann Aspirin gegen die Schmerzen vom zu vielen Nachdenken über Wahrheit und Wirklichkeit … Pessoas „Buch der Unruhe“ ist dann meine Bibel geworden durch die Buchhändlerzeit. 

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Literatur als Unruhestifter, als Denkanstifter. Lesen ist längst keine Flucht mehr. Lesen ist für mich niemals Unterhaltung. Darum geht es mir gar nicht. Ich brauche keine leichte Lektüre mit Happyend, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich liebe offene Enden, sie beflügeln die Fantasie.  Ich hasse lustige Bücher, weil sie selten klug sind. Bücher, die mir nicht gefallen, die mich nirgends berühren, lege ich rigoros un- oder halbgelesen weg. Außerdem lese ich fast ausschließlich Belletristik, Romane und immer mehr Lyrik. Sachbücher fast nie – non-fiction habe ich auch so genug.
Gute Literatur stößt den grenzenlosen Denkprozess an. Lesen ist Reibung am Text, Herausforderung und Arbeit. Arbeit an und mit mir selbst. Lesen braucht Mut und Zeit – Lyrik lesen noch mehr. Lesen bedeutet für mich Auseinandersetzung mit Sätzen, mit Wörtern, mit Themen, die mich treffen. Entwicklung ist das Stichwort …

Und als Buchhändlerin lag mir die Vermittlung am Herzen. Ich hatte es in der Hand, die Saat zu legen, die Lust aufs Lesen zu gießen und vielleicht keimen zu sehen. Das habe ich sehr lange getan. Ein Vierteljahrhundert. Inzwischen arbeite ich nicht mehr als Buchhändlerin, der Blog ist mittlerweile mehr als ein guter Ersatz. Zusätzlich bin ich auf die schreibende Seite gewechselt, vielleicht sogar aus dem Grund, weil ich wahnsinnig viel gelesen habe, kein Ende in Sicht…

Habe ich die Frage beantwortet? Nein?
Macht nichts. Vielleicht ist der Zauber des Lesens unerklärlich.
Die Frage stellte Sandro Abbate vom Blog Novelero in den Buchblogger-Raum.

*Zitat aus Fernando Pessoa: Ich brauche Wahrheit und Aspirin aus dem Verlag ctl-presse

 

15 Gedanken zu “Warum ich lese oder Ich brauche Wahrheit und Aspirin

  1. ein wunderbarer Bericht, sehr persönlich und tiefgründig mit vielen Facetten. Ich überlege, mich nun auch in die Reihe „Warum ich lese“ noch einzureihen. Ich denke, etwas Selbstreflexion kann nie schaden. Viele Grüße

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  2. Dieser Edit spricht mir nicht nur aus der Seele / ich finde mich in ihm wieder / und er ist sogar in Teilen ein Spiegel meiner selbst. Sehr sehr toll.
    Und nur durch zwei Menschen die mir diesen Zauber und die Magie des Lesens weitergaben ist es mir heute vergönnt in andere Welten zu tauchen & mich Umhüllen zu lassen von Autorischen Bildern und zuweilen ganzen Theatern.
    Und wie sie über Pesoa schreiben ist alleine Zauber und Poesie in Feinform. Dankeschön.

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  3. Extrem starker Text! Danach habe ich lange gesucht, sehr lange. Pessoa ist für mich eine Offenbarung gewesen. Bewusstseinsstrom. Prosalyrik, die sich streng an der Wahrheit des eigenen Ichs orientiert. „In echt“ verzichte ich auch gerne auf die Prosalyrik, wenn ich merke, dass ein Mensch sich radikal öffnet. Leider entstehen solche Bücher meist erst nach Krebsdiagnosen. Wolfgang Herrndorf ragt hier heraus. Und Joan Didion, wie sie den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter verarbeitet. In einer Welt, die so wahrhaftig zu mir ist, will ich bleiben!

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    • Danke!
      Tatsächlich ist es oft nur möglich, sich zu „ent-wickeln“, wenn einem Schlimmes widerfährt. Doch dann verwandelt sich das Schlimme vielleicht auch in Richtung des Echten, Wahrhaftigen. Dazu passt sehr gut das eingefügte kurze Zitat von Pessoa.

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  4. Ein sehr interessanter Einblick, Vielem stimme ich absolut zu. Nur das mit den lustigen Büchern sehe ich etwas anders. Komik kann doch sehr erhellend sein! Uwe Wirth schreibt in „Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens“ [Heidelberg (Winter) 1999, S. 49]: Das Lachen entdeckt die Nichtigkeit im Gültigen und die Gültigkeit am Nichtigen. Aufgrund dieser Erkenntnisleistung wird es auch zum Instrument der Wahrheit. Als Symptom des Zweifels kann es als philosophisches Lachen an diesen Zweifel zurückverweisen und ihn als Irritation zum Ausgangspunkt kritischen Denkens machen.“ Ich denke da zum Beispiel an Alexander Kluge, bei dem Komik eine Aufmerksamkeit erzeugt, die sensibel macht für Zusammenhänge, die nicht schon immer automatisch mitgedacht werden.
    Ich habe auch eine Vorliebe für gute Sprachwitze, Wortspiele, absurd komische Metaphern, weil sie zeigen können, wie Sprache und Denken zusammenhängen.
    Aber Du hast wahrscheinlich an ganz andere Bücher und an reine Unterhaltungskomik gedacht. Die oft gar nicht so komisch ist.

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    • Liebe Eva, ja, aus meiner Buchhändlererfahrung stammt das Grauen vor dem immer öfter sich zeigenden Wunsch, etwas lustiges, heiteres lesen zu wollen. Das sollte in der Tat immer Unterhaltungsliteratur sein. Ich habe in meinem Beitrag eingeschränkt, weil sie selten gut sind. Vermutlich habe ich mich da nicht präzise genug ausgedrückt … Falls du aber noch „gute“ Beispiele unter den Romanen kennst, sagst du sie mir?
      Diesen Satz „Das Lachen entdeckt die Nichtigkeit im Gültigen und die Gültigkeit am Nichtigen“ finde ich jedenfalls klasse!
      Viele Grüße!

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      • Mir würden, nach kurzem Bedenken, tatsächlich doch eher Gedichte einfallen, die ich als lustig und gut bezeichnen würde (von Heine, Gernhardt, Jandl, Morgenstern), auch Theaterstücke (von Shakespeare, Büchner, Kleist, Dorota Maslowska).
        Aber Romane, die ich direkt als „lustige Bücher“ bezeichnen würde? Meistens ist Komik ein Element, nicht unbedingt das ausschlaggebende.
        Fontane finde ich oft komisch (besonders Frau Jenny Treibel und Der Stechlin), Goethe (Wilhelm Meister, Die Wahlverwandtschaften), beide sind aber eher ironisch als brüllend komisch.
        Alexander Kluge, an den ich in erster Linie gedacht hatte, und auf den das Zitat von Wirth am besten passt, schreibt nicht wirklich Romane; Kluge ist ja seine eigene Gattung.
        Kafka ist auch sehr komisch, ich verstehe immer gar nicht, wieso viele ihn nur düster sehen. Vonnegut fällt mir gerade auch noch ein.
        Aber das sind natürlich alles keine lustigen Bücher, die nur unterhalten wollen.
        Ich habe mal in einem Buchladen ausgeholfen und sollte einer Kundin etwas Lustiges empfehlen. Alles, was ich lustig fand, gefiel ihr nicht. Meine Chefin hat ihr dann irgendwas dezidiert Lustiges gegeben, wo schon auf dem Cover steht, wie lustig es doch ist und das in Wirklichkeit wahrscheinlich absolut nicht komisch ist. Wenn einem sowas öfter passiert, kann ich schon verstehen, dass man eine starke Abneigung entwickelt.
        Das Buch von Wirth über Komik und Komiktheorie, aus dem das Zitat stammt, habe ich vor etwa acht Jahren gelesen und wenn ich mich recht erinnere, ist es sehr empfehlenswert. Ich habe nach der Lektüre viel besser begriffen, warum ich etwas komisch finde.
        Viele Grüße zurück!

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      • Danke, Eva. Genau diese Szenerie im Buchladen habe ich unentwegt erlebt … mir ging es dann ganz ähnlich mit meinen Vorschlägen.
        Bei Kafka stimme ich mit dir überein. Alexander Kluge kenne ich zwar, habe aber nie etwas umfassenderes von ihm gelesen. Nach dem Buch über Komik schaue ich mal in der Bibliothek. Die AGB ist ja gut sortiert.

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      • Liebe Marina, ich glaube, in der AGB haben sie das nicht. Sonst hätte ich es mir damals nicht in der FU ausgeliehen. Aber schau ruhig mal nach, vielleicht haben sie es inzwischen.

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