Peter Stamm: Weit über das Land S. Fischer Verlag

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Dieser Roman von Peter Stamm ist faszinierend! Ein Leuchten!
Als stete Stamm-Leserin war ich etwas müde geworden. Mit seinem neuen Roman hat der Autor mich wieder. Es begann damals mit „Agnes“, Stamms beeindruckendem Debüt, welches nun auch verfilmt wurde und bald in die Kinos kommt. Weiter ging es mit „Blitzeis“ – auch mit seinen Erzählungen überzeugte mich Stamm – bis zum Roman „Sieben Jahre“. Pause.
Und nun dies.

Eine Familie, Mann, Frau, zwei Kinder, kehren aus dem Sommerurlaub in Spanien zurück. Alles scheint nun wieder in geregelte Bahnen zu kommen. Familienroutine. Alltag.
Doch noch am Abend der Rückkehr geht der Mann; verlässt das Grundstück, die Siedlung, den Wohnort. Geht einfach weg. Keiner weiß wie, weshalb, wohin. Nicht einmal er selbst, wie es scheint.

„Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab.“

Nun kommt die faszinierende Erzählart Stamms ins Spiel. Wechselweise und leicht zeitversetzt berichtet er aus der Perspektive des Mannes und der Sicht der Frau. Zuhause geht beinah alles weiter wie zuvor, es braucht sogar eine ganze Weile, bis die Frau, Astrid, merkt, dass der Ehemann, Thomas, nicht mehr da ist. Und auch dann erscheint mir die Art der Umgehensweise mit dem Verschwinden merkwürdig. Ich stelle ihr/mir Fragen, während ich seine Berichte mit einer gewissen Zustimmung lese. Ich denke, dieser Mann hat Mut. Hat er das? Oder ist er doch feige, weil er Haus und Familie zurücklässt? Ich komme auch gar nicht dazu, mich zu fragen, warum er geht. Ich akzeptiere sein Gehen und verfolge seine Wege mit Spannung.

Der Arbeitgeber fragt nach, die Kinder sind verwirrt. Erst dann gibt Astrid eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Zunächst heißt es dort: Die meisten kommen nach ein paar Tagen zurück. Prüfen sie die Kontobewegungen. Wir können nicht viel tun. Als Astrid tatsächlich Abbuchungen der Kreditkarte feststellt, in einem Laden am Zürichsee, fährt sie los und erfährt, dass ihr Mann eine Wanderausrüstung gekauft hat. Die Polizei macht sich mit einem Suchhund auf den Weg, doch die Spur verliert sich wieder. Thomas bewegt sich inzwischen immer weiter weg von zuhause und doch bleibt die innere Verbundenheit, die auch Astrid spüren kann. Nach einem Monat steht ein Polizist vor der Tür mit der Nachricht: `Wir haben ihn gefunden`. Der Fall scheint geklärt …

Doch was Stamm jetzt aus der Geschichte macht ist ausgesprochen faszinierend (zumindest für Leser wie mich, die sich durch Literatur gerne verwirren und aus der sogenannten Realität werfen lassen). Er eröffnet den Raum der Möglichkeiten und damit die Fantasie des Lesers. Das ist extrem gut gemacht, denn ich „erlebe“ die Geschichte, ich bin dabei, ich betrachte nicht nur von außen. Dabei bleibt er bei dem wechselseitigen Blick der beiden Hauptprotagonisten und ich bin sehr nah an beiden dran.
Mir scheint, es ist nicht Stamms Sprache, nicht die Handlung an sich, die mich so gewogen macht, sondern das Spiel mit Wahrheit und Erfindung und die Bewegung die dabei im Kopf passiert.

Und, ist es Zufall oder nicht?, es ist wieder ein Buch übers Gehen. übers Wandern, in Bewegung kommen, übers Verlassen und hinter sich Lassen, über den Wunsch nach Veränderung im Außen und letztlich dadurch im Inneren.

Spannend ist hier auch in der Tat, welche verschiedenen Lesarten dieser Roman bietet, nie war es spannender andere Rezensionen dazu zu lesen. Schade allerdings, dass manche viel zu viel interpretieren und damit vorab eigene Ideen einschränken.

Der Roman „Weit über das Land“ des 1963 geborenen Schweizers Peter Stamm ist im S. Fischer Verlag erschienen.

17 Gedanken zu “Peter Stamm: Weit über das Land S. Fischer Verlag

  1. Und, ist es Zufall oder nicht?, es ist wieder ein Buch übers Gehen. übers Wandern, in Bewegung kommen, übers Verlassen und hinter sich Lassen, über den Wunsch nach Veränderung im Außen und letztlich dadurch im Inneren.

    meine persönliche erfahrung: wenn man seinen blog einige zeit führt, jahre möglicherweise, läßt sich aus dem archiv, dem gelesenen, tendenziell die befindlichkeit zu jeweiligen ‚epochen“ ablesen, das, was einen besonders anspricht, weil es in diesem moment resonanz findet….

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    • Ja, ja… ich weiß, was du meinst. Ich habe jetzt nach einem Jahr schon gemerkt, wie transparent ich mich durch meine Lektüren mache. Auch mir selbst gegenüber …
      Eigentlich spannend. Tatsächlich stehen zur Zeit einige Veränderungen an …

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    • meinst du? ich denke, das war einfach rainer zufall, daß da zwei bücher diesen zusammenhang zeigten. anderes würde ich selbst als offensichtlicher einschätzen: die vielen bücher, die sterben und tod zum inhalt haben… die frage einer freundin: liest du denn nie was einfaches, leichtes, einfach nur zur entspannung?

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      • Aber du liest ja auch generell viele Bücher übers Judentum oder Religion im Allgemeinen.
        Die vielen Bücher über den Tod und das Sterben, das ist mir auch aufgefallen, aber das finde ich sehr sympathisch. Ich beschäftige mich auch viel damit, auch im eigenen Schreiben und im künstlerischen Ausdruck. Und ich finde das sehr sinnvoll, so verliert der Tod die Fremdheit und ein Teil von mir/uns ist er ja ohnehin.
        Thema: Leichtes lesen – da war ich schon als Buchhändlerin verrufen, weil ich fast nur „schwierige“ Literatur las. Aber für mich ist das vermeintlich schwierige, das was mich inspiriert und herausfordert und letztendlich weiterbringt …

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  2. ja, das stimmt. das schwierige ist eine aufgabe, einer herausforderung. andererseits jedoch bin ich aber auch der einzige (?) blogger, der in nennenswertem umfang auch erotische literatur vorstellt und bespricht. sagt das etwas über mich aus, und wenn: was? eine frage, die ich mir in der tat öfter stelle…

    du, ich habe diesen satz von dir: ..so verliert der Tod die Fremdheit und ein Teil von uns ist er ja ohnehin. gerade in einer besprechung, die ich morgen online stelle, zitiert, ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber er gefällt mir gut und er passt so schön zu dem, was ich selbst geschrieben habe…

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    • Geht klar. Da bin ich jetzt gespannt auf das Buch.
      Eros und Thanatos? Sind das nicht die stärksten Kräfte in unserem Leben? Ich sehe da keinen Widerspruch, sich mit beidem intensiv, auch gerade durch Literatur und Kunst, zu beschäftigen.

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  3. na ich bin gespannt wie es in der zweiten Hälfte weitergeht… laut der gehörten Interviews ändert sich da ja noch einiges, und wirklich wissen ws es für eine Geschichte ist kann man ja erst am Ende der Geschichte… ich werd mir aber Zeitlassen, weil ich nicht weiter so durch die Seiten stürzen mag wie auf der ersten Hälfte, wo ich keinen Ankerpunkt für mich fand.

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  4. Das was Sie faszinierend nennen, hat mich verwirrt und bis zu der Stelle, „Wir haben ihn gefunden!“, habe ich das Buch auch faszinierend und äußerst spannend gefunden, das der Polizist Thomas plötzlich an einen Ort, wo er wahrscheinlich nicht mehr zuständig ist, mit einem Suchhund suchen geht, habe ich schon unlogisch gefunden, aber äußerst spannend diese Bergwanderung in vier Tagen.
    Dann gibt es aber plötzlich ein Begräbnis ohne eine Leiche und das Ganze spannt sich über zwanzig Jahre und man weiß nicht recht, ist das jetzt real oder denkt sich Astrid das nur aus und ich bin ja eigentlich für realistische Romane!
    Liebe Grüße aus Wien, jetzt lese ich ein Jugendbuch und dann bleibe ich in Österreich und lese das, was ich von der dortigen Shortlist habe, nämlich Daniela Emminger, Peter Waterhouse, Anna Mitgutsch und Kathrin Röggla, den Kaiser-Mühlecker habe ich ja schon gelesen.
    Und trotz einiger schlechter Kritiken, Ihnen hat das Buch ja, glaube ich, auch nicht so gefallen, hat es Sabine Gruber auch auf die Shortlist geschafft.
    Anne Cotten geht mir dort ab, haben Sie ihr Versepos gelesen?
    https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/10/11/die-oesterreichische-kurzliste/

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