Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen Klett-Cotta Verlag


Es ist mein erster Roman von Raphaela Edelbauer. Beim Bachmann-Preislesen 2018 gefiel mir ihr Text bereits sehr. Und der neue Roman wurde als „Wien-Roman“ angekündigt; das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Lange schon habe ich den Roman beendet und es doch nie geschafft darüber zu schreiben. Ich frage mich, wie es kommt, dass sich manche Bücher, obwohl sie mir gefallen, so sperren, besprochen zu werden. Ich versuche nun endlich das Buch in meine Worte zu fassen. Bereits im Klappen-Werbetext heißt es, dass der Roman an einem einzigen Tag spielt, und das ist auch das Einzige, was mich an dem Roman störte: Ich hätte zu gerne gewusst, wie es mit den drei jungen Protagonist*innen weiter geht. Doch von vorne:

Es ist der Tag vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, der 31.7.1914. Hans, Knecht auf einem Bauernhof in Tirol zieht es in die große Stadt. Er hat eine seltsame „Gabe“: er kann Gedanken, die andere gleich aussprechen werden, bereits vorab hören. Um dieses Phänomen abklären zu lassen, flüchtet er eines Nachts nach Wien, wo er bei einer bekannten Psychiaterin vorstellig werden will. Hans ist eigentlich bürgerlicher Herkunft, muss aber nach dem Tod des Vaters die Schule abbrechen und als Stallknecht arbeiten. Gleichzeitig ist er aber begierig nach Bildung. Durch einen glücklichen Zufall findet er einen Mentor in Form des Vikars seines Dorfes. Durch ihn bekommt er Bücher, mit ihm spricht er darüber, Philosophie und auch Politik füllen die Gespräche.

In Wien angekommen, ist Hans überwältigt von der Stadt: die Lautstärke, die vielen Menschen, die Gerüche. Überfordert macht er sich auf die Suche nach der Adresse jener Psychiaterin und findet tatsächlich Gehör bei ihr. Am nächsten Tag darf er zu einem Gespräch kommen. Doch was macht er bis dahin? Zufällig begegnet er im Treppenaufgang Klara und Adam, die ihn in ein Gespräch verwickeln und ihn, als sie von seiner Situation erfahren gleich unter ihre Fittiche nehmen. Klara und Adam haben ebenfalls „Therapiestunden“ bei Helene, weil sie mit eigenartigen Talenten ausgestattet sind, wobei sie bei Klara bis weit ins Private hineinreichen.

„Hans war aber noch so in Klara investiert, dass er kaum bemerkte, wie sich der Hagere, den er vorhin im Warteraum versehentlich applaniert hatte, zwischen ihnen hindurchschlängelte und vor sie stellte.“

Hans ist fasziniert von der klugen, selbstbewussten Klara, die Mathematik studiert (aus dieser Disziplin stammt auch der wundersame Buchtitel) und ganz unkonventionell auftritt. Adam, der Sohn einer adligen Familie, der sich der Musik verschrieben hat, soll am nächsten Morgen in den Krieg ziehen. So will es der Vater. Zunächst erleben wir Adam bei einer Probe mit seinen Mitstudenten – hier wird gerade Schönberg entdeckt –, die allerdings eskaliert, weil es um die Teilnahme am Krieg zu Streitigkeiten kommt. Adam kommt mit blauem Auge davon und nimmt Hans und Klara mit zu sich nach Hause. Hans kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie das palastähnliche Haus betreten. Hans darf baden und erhält frische Kleidung. Sie nehmen am Bankett teil, dass Adams Vater am Abend ausrichtet. Fast nur Offiziere mit ihren Frauen sind dabei. Es wird über die Notwendigkeit des Krieges diskutiert. Klara als Pazifistin kann das nicht mit anhören und mischt sich ein. Hans hält sich verlegen zurück.

„Nicht richtig, nicht richtig. Die Welt steht in Flammen, Menschenmassen werden sterben, und die Leute reagieren, als sähen sie einen spannenden Film, ein Unterhaltungsstück, wo man zur Zerstreuung die Partei eines Darstellers ergreift.“

Im Anschluss begleiten wir die drei durch das aufgewühlte nächtliche Wien. Wir gelangen durch Halb-, Dunkel- und Unterwelten und in Clubs und Varietés. Vieles ist Hans nicht geheuer – Frauen küssen Frauen, Männer tragen Frauenkleider – wenngleich er fasziniert ist von den Erlebnissen. Zum Schlafen kommen sie nicht. Es scheint, als würde die ganze Stadt dem Morgen zu fiebern. Überall auf den Straßen finden sich junge Männer, die sich freiwillig melden oder schon in Uniform stecken. Sie trinken sich Mut an, treffen ein letztes Mal ihre Mädchen und reden von nichts anderem als dem bevorstehenden Krieg. Fahnen werden geschwenkt, Lieder gesungen. Die Menschen feiern. Unverständlich. So unverständlich wie es mir auch aktuell erscheint, einen Krieg zu unterstützen.

„Nur die Fadisierten, die nie um ihr Leben kämpfen mussten, wollen in den Krieg ziehen, um einmal das Existenzielle zu erfahren. In den Vorstädten, wo das Wasser durchs Dach läuft, leben derweil die erzwungenen Materialisten.“

Da Klara am nächsten Morgen eine wichtige Prüfung hat, führt sie ihre Gefährten auch in ihr früheres Zuhause, ein Armenviertel, um dort Unterlagen zu holen. Mit ihrer Familie will sie nichts mehr zu tun haben. Auch hier ist Hans erstaunt, dass man hier in diesem Elend leben kann. Gegen Morgen machen sie sich auf den Weg zu Klaras Universität, doch es ist kaum ein Durchkommen, die Prüfung wird schließlich inmitten abgebrochen, da junge Männer in Uniform entscheiden, der Krieg sei wichtiger als eine Prüfung, zumal die einer Frau.

Ich finde Edelbauers teils exaltierte Art zu schreiben sehr stimmig für diesen Roman. Sie arbeitet die Unterschiede von arm und reich gut heraus, die letztlich auch heute noch so zu finden sind. Auch die seltsamen (Traum-)Sequenzen, die auf Unerklärliches Übernatürliches hinweisen, empfand ich passend. Vielfach wurde angemerkt, dass ihre Sprache zu altmodisch und überfrachtet sei, dass zu dieser Zeit keiner so geredet hätte. Für mich geht es sich aber gut zusammen aus, um es österreichisch zu sagen. Es geht sich alles aus. Auch die Geschichte, die natürlich offen lässt, wie es mit Hans weitergeht, ob er womöglich auch noch in den Krieg ziehen will. Nachdem die Psychiaterin Helene ihn seiner Illusionen bezüglich seiner besonderen Fähigkeiten beraubt hat, wäre auch das möglich … denn die Propaganda auf offener Straße ist immens. So gesehen, ist dieser Roman auch hochaktuell.

Der Roman erschien im Klett-Cotta Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Leo Lania: Land im Zwielicht Mandelbaum Verlag

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Leo Lania, 1896 in der ukrainischen Stadt Charkow geboren, war Journalist und Schriftsteller. In Österreich aufgewachsen, zog er als Freiwilliger in den 1. Weltkrieg, wandte sich danach der Kommunistischen Partei zu. Ab 1921 lebte er in Berlin. Als investigativer Journalist dokumentierte er Begegnungen mit der Nazi-Bewegung. Später engagierte er sich fürs politische Theater. 1933 floh er nach Frankreich, 1940 gelang ihm die Flucht nach den USA.

Der Mandelbaum Verlag mit Sitz in Wien und Berlin hat soeben eine Biografie über Leo Lania von Michael Schwaiger und den 1934 in England erschienenen, 1949 erstmals in Deutschland veröffentlichten Roman „Land im Zwielicht“ aufgelegt, für den Schwaiger auch ein aufschlussreiches Nachwort schrieb.

„Eine grenzenlose Trauer liegt jetzt in ihm. Ein Blick, der aus Jahrtausenden kommt und in Ewigkeiten zielt. So sieht er zu dem Offizier empor, er sieht durch ihn hindurch. Die braune Uniform wird transparent, …“

Anhand von zwei Hauptfiguren, der jüdischen Esther Mendel, die sich aus armen Verhältnissen befreit und zum Medizinstudium und zur Assistenzärztin aufsteigt, und dem jüdischen Anwalt Kurt Rosenberg, der im ersten Weltkrieg Leutnant wurde und Esther in ihrem polnischen Heimatdorf kurz begegnete, zeigt Lania die Entwicklungen Deutschlands vom Kaiserreich über den ersten Weltkrieg bis zur Machtübernahme der Nazis. Die Handlung beginnt 1916 und endet 1933 und verbindet historische Geschehnisse mit einer fiktiven Handlung. Lania hat die Atmosphäre und die Stimmungen der Menschen gut ausgearbeitet. Nur manchmal hängt mir Lanias Frauenbild etwas zu schief: „die kleinen Verkäuferinnen, die doch nicht mitzählten“ oder „Die bekannte Schauspielerin … war sogar gescheit“. Dennoch hat er (immerhin) Esther als willensstarke, unabhängige Frau beschrieben.

Als Kurt und Esther sich später in Berlin wieder begegnen, es sind die wilden 20er Jahre, scheint es, als würden sie zueinander finden, doch Kurt kommt aus „guten“ Verhältnissen, während Esther der Arbeiterbewegung näher steht. Obwohl sie heiraten, ein Kind bekommen, entscheiden sie sich bald, getrennt zu leben. Mit ihrer großen Liebe, dem verheirateten Professor für Anatomie, Dr. Graber, kommt Esther nicht zusammen, da man ihn von der Universität verweist, weil er als Pazifist nichts von der völkischen Soldatenverehrung hält.

„Noch war die Öffentlichkeit nicht abgestumpft gegen den politischen Mord, noch waren die Völkischen eine winzige Minderheit auf der Universität, noch wiegte sich die Linke in der Illusion, daß sie die Macht fest in den Händen hielt und daß es nur darauf ankam, ihre Stimme zu erheben, um die heranmarschierenden Haufen, für immer in die Flucht zu schlagen.“

Lania erzählt, dass aufgrund der Verfassung der Weimarer Republik die Literaten und Künstler endlich freier waren, sich mitzuteilen, sich direkt zu äußern, was auch die Studentenbewegungen nutzten. Interessant auch, die bildhafte Schilderung der Inflation, in der Esthers Vater, ein Schneider, binnen kürzester Zeit von Armut zu Reichtum und wieder zurück pendelt. Der sehr religiöse alte Mendel sieht das als gottgegeben an.

Einige Zeit nach dem Reichstagsbrand begegnen sich Graber und Esther in Berlin kurz wieder. Graber ist aus einem Konzentrationslager geflohen und schafft es nach Paris. Kurz darauf wird Kurt in seiner Villa am Wannsee von SA-Schergen totgeprügelt. Dies ist Auslöser für Esther mit ihrem Sohn und dem Vater ebenfalls Deutschland zu verlassen …

Der Mandelbaum Verlag ist eine feine Entdeckung und das vielseitige Programm mehr als einen Blick wert. „Land im Zwielicht“ ist sehr schön gestaltet mit einer Collage als Coverbild, in Halbleinen gebunden, gedruckt auf feinem Papier und mit Fadenheftung. Mehr über Autor, Buch und Verlag gibt es  hier .

Irene Diwiak: Liebwies Deuticke Verlag

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„Später würde die Geschichte anders erzählt werden.
[ … ]
Es ist aber nun mal die seltsame Eigenschaft der Zeit, Geschehenes in schwammige Erinnerung und schließlich in Lügen zu verwandeln.“

Mit diesen Sätzen beginnt und endet 334 Seiten später der Debütroman der 1991 in Graz geborenen Irene Diwiak. Ein wenig erinnert das an „Es war einmal … “ und in der Tat hat die Geschichte etwas märchenhaftes. Es ist jedenfalls ein zauberhaftes Buch!
Gut, dass Klaus Kastberger sein Wohlwollen für diesen Roman auf Twitter kund tat, sonst hätte ich ihn womöglich übersehen. Die Leseprobe hat mich dann vollends überzeugt, dass ich diesen Roman lesen will. Er hat eine Atmosphäre wie aus einer fernen Zeit, ein wenig wie aus der Welt gefallen. Dabei spielt er in Österreich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, also nach der k und k – Zeit und bereits hineinschlitternd in den Nationalsozialismus. Der genaue Schauplatz wird nicht genannt.

Schon der Titel hat Potenzial (ganz abgesehen vom zauberhaften Coverbild). Liebwies ist gleichzeitig ein schwer zugängliches Dorf im Gebirge, in dem die Geschichte beginnt und Liebwies wird der Nachname einer berühmten Opernsängerin, die eigentlich gar nicht gut singen kann. Liebwies erzählt von den Eitelkeiten und Eigenheiten der Menschen, von Leidenschaften und Lieblosigkeiten, von Schwächen und vor allem von Zufällen und wie daraus sich oft die skurrilsten Möglichkeiten eröffnen oder aber Träume zerfallen. Wie im Märchen gibt es gute Menschen und es gibt Bösewichte. Leider endet es nicht so wie im Märchen …

Wir treffen auf die Hauptfiguren Gisela, später Liebwies genannt und Ida Gussendorf, geborene Padinsky, um die sich sämtliche Geschehnisse drehen und die durch zusätzlich eingeführte sehr gelungene Charaktere ergänzt und durch die Handlung getragen werden – Diwiak hat ein Händchen für ihre Figuren.
Karoline, eine Bauerntochter in Liebwies wird eines Tages vom neuen Dorflehrer als Gesangstalent entdeckt. Da der Herr aus der Stadt, der sie fördern soll, aber die Schönheit seiner verstorbenen Frau in Gisela, ihrer wenig begabten Schwester entdeckt, wird die falsche in die Gesangsschule geschickt.

„Sie war ganz offensichtlich sehr stolz auf ihre Leistung. Sie strahlte über das ganze Gesicht, was sie noch hübscher, aber zu keiner besseren Sängerin machte.“

Nur aufgrund der wunderbar komponierten Oper „Die Gräfin der Stille“, in der sie nur ein Lied zu singen hat, wird sie berühmt. Dass auch hier wieder eine Verwechslung vorliegt, ein echter Betrug, ist ebenso tragisch. Ida, die mit dem wesentlich älteren Dichter und Möchtegernkomponisten Gussendorf verheiratet wurde, ist in Wirklichkeit diejenige die die Kompositionen geschrieben hat. Ihr eitler Ehemann gibt sie als die eigenen aus.

„Nun, da er selber schwanger war, und zwar mit einer Oper, hatte er keinen Bedarf mehr an Idas Körper. Er lebte in seiner Welt der Melodien, der mythischen Sagen und der wechselhaften Liebesgeschichten. Dabei vergaß er aber noch etwas. Er vergaß die Oper zu schreiben.“

Auch Ida verfällt der Schönheit Giselas, doch die egoistische Gisela ist auf ihren gesellschaftlichen Aufstieg und ihre Berühmtheit bedacht und wendet sich einem vielversprechenden Arzt zu. Dass sich Jahre später die Rollen, gerade auch in Sachen Schönheit, vertauschen, kann Gisela nicht ertragen. Sie sinnt auf Rache …

„Im besten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das viele Menschen begeistert. Im schlimmsten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das nur meine Mama interessiert.“

So sagt Irene Diwiak in einem Interview. Ich wünsche mir und ihr, dass recht viele Leser in den Genuss dieses Buches kommen. Mit „Liebwies“ ist der Autorin nämlich ein ganz und gar überzeugendes, unterhaltsames und auch sprachlich geglücktes Romandebüt gelungen. Mit sehr viel Humor und in charmant österreichischem Stil hat die Autorin eine so unwahrscheinliche wie geschickt entwickelte Geschichte erzählt, die zu lesen ein große Freude ist. Alles ist von vorn bis hinten stimmig. Diwiak beherrscht ihr Handwerk. Ein Leuchten!
Überhaupt scheint mir dieses Jahr ein Jahr der überraschend schönen Debüts zu sein.

„Liebwies“ von Irene Diwiak erschien im Deuticke Verlag. Eine Leseprobe und mehr über Buch und Autorin gibt es hier .