Irene Diwiak: Sag Alex, er soll nicht auf mich warten C. Bertelsmann Verlag


Nach ihrem Romandebüt „Liebwies“ das mich sehr begeistert hat und dem zweiten Roman „Malvita“, gibt es nun von der Österreicherin Irene Diwiak einen neuen Roman: „Sag Alex, er soll nicht auf mich warten“, der sich an einer historischen Figur orientiert und der ebenso gelungen und fesselnd ist, ist jedoch aufgrund der Thematik wesentlich ernster. Es ist schon erstaunlich, wie die Autorin solch unterschiedliche Themen gekonnt meistert. Der Roman erschien bewusst am 22.2.23 zum 80. Todestag von Hans und Sophie Scholl. An diesem Februartag 1943 wurden die Geschwister beim Verteilen ihrer Flugblätter des Widerstands gegen den Nationalsozialismus an ihrer Universität in München vom Hausmeister an die Gestapo verraten. Kurz darauf wurden sie hingerichtet. Der Titel des Buches entspricht wohl den Worten, die Hans kurz nach der Festnahme einer Freundin zugerufen haben soll. Mit diesem Ende beginnt die Autorin ihren Roman.

Da muss man doch etwas tun!, und wir haben doch etwas getan, aber nie genug, niemals ist es genug, und wenn es schließlich Sophie ist, die es ausspricht: So geht es nicht mehr weiter. Wir müssen die Flugblätter auf die Universität bringen. Ja, am hellichten Tag.“

Irene Diwiak hat sich mutig eines Stoffs angenommen, von dem man niemals genug lesen kann. Zudem hat sie diesen wirklich feinfühlig und sorgfältig behandelt, nah an historischen Daten, aber eben doch fiktional eigen. Sie nimmt in ihrem Roman eine andere Perspektive ein, als die, die man sonst über die „Weiße Rose“ liest. In den meisten Büchern und Filmen ist Sophie im Fokus. Sie beginnt mit Hans Scholl, der beim Appell des Wehrsports 1941 auf den ebenfalls Medizin studierenden, aber eigentlich in Richtung Bildende Kunst orientierten Alexander Schmorell trifft. Schnell verbindet sie eine enge Freundschaft. Beide waren bereits 1940 als Sanitätsoffiziere an der Front und sind nun zunächst fürs Studium freigestellt. Sie treffen sich abends oft mit Freunden und Studienkollegen und diskutieren über Philosophie, Kunst, Literatur, Musik. Anfangs nimmt die politische Situation nur wenig Platz ein, doch als ein Architekt, der ihnen während seiner Arbeitsabwesenheit seine Räume für die Treffen zur Verfügung stellt, von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, von der Verfolgung und Ermordung der Juden, die er mit eigenen Augen gesehen hat, erzählt, ändert sich etwas grundlegend. Es erschüttert Hans und Alex so sehr, dass sie beginnen über Veränderungen nachzudenken.

In Rückblenden erfahren wir mehr aus dem Leben und der Familie von Hans und Alex, die Zeit, die sie geprägt hat. Alexander hat russische Wurzeln und ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen. Er hat seine russische Mutter verloren. Er studiert Kunst und hat mit Philosophie wenig am Hut. Hans, der früher ein glühender Freund des Nationalsozialismus war, in der Hitlerjugend, obwohl der Vater, durch und durch Pazifist und religiös, dies nicht erlauben wollte, denkt nun in Richtung Widerstand. Zusammen mit Alex plant er Flugblätter mit aufrüttelnden Texten.

„Ob Hans glaube, fängt der Vater donnernd an, dass es lustig sei, Krieg zu spielen, ob er denn die Unmenschlichkeit kenne, ob Hans etwa im Krieg gewesen sei oder ob das nicht viel eher er selbst gewesen sei, der Vater? Und dass es nur der Anfang sei, Andersdenkende mit der Faust zu bekämpfen, dass bald schon Gewehre und Bomben zum Einsatz kommen werden, das sei es nämlich, was dieser Hitler wolle, und ob Hans denn wirklich zu dumm sei, um das zu verstehen?“

Bald jedoch werden sie erneut als Sanitätsoffiziere ins Lazarett an der Front, diesmal nach Russland abgerufen. Alex, der Russisch spricht, findet hier Freunde und spürt, dass dies sein Heimatland ist. Er schwört, niemals zu schießen und erlebt sich als vollkommen anderer Mensch – er scheint nach Hause gekommen. Als Sanitätsoffiziere sind sie nicht so stark gefährdet, erleben aber bei einem Zwischenstopp in Warschau den Wahnsinn des Warschauer Ghettos. Als sie nach Monaten Heimaturlaub bekommen, überlegt Alex sogar, sich den russischen Partisanen anzuschließen. Eine Erkrankung verhindert das.

„Wenn sie von zerstörten Städten und Dörfern erzählen. Wenn sie erzählen, dass Russland brennt. Wenn sie erzählen, dass es ihnen nicht leidtut, dass noch mehr brennen muss, dass die Russen keine Menschen sind, kein Recht auf Leben haben, weniger wert seien als Tiere. Dann, ja, dann würde Alex ganz weit ausholen und dem Halbgefrorenen im Krankenbett ganz unverfroren ins Gesicht schlagen müssen.“

Während Alex nun eher halbherzig bei der Herstellung und Vervielfältigung der Flugblätter mitmacht, können sie einen Universitätsprofessor überzeugen mitzuwirken und Sophie wird wichtiger Teil der Gruppe. Enge Freunde schließen sich an. Besonders auch Willi, ein Mitstudent, der sich an seine christlichen Glaubensfreunde wendet. In ganz Deutschland, ja sogar bis ins Ausland versuchen sie nun neue Gruppen aufzubauen, doch es scheint als wollen sich die Menschen nicht aufrütteln lassen, als wäre es immer zu wenig, was sie tun. Stehen wirklich alle trotz jahrelangem Krieg hinter diesem fanatischen Führer? Haben die Menschen einfach nur Angst und wollen irgendwie überleben? Als Leserin stellt man sich natürlich gleich stellvertretend die Frage: Wäre ich damals so mutig gewesen und Teil des Widerstands geworden?

Obwohl man die Geschichte kennt, obwohl man weiß, wie es ausgeht, vermag die Autorin einen doch unglaublich zu fesseln. Es entsteht ein Lesefluss, fast könnte man das Buch einen Pageturner nennen. Das liegt sicher auch daran, dass wir die Hauptfiguren genauer kennenlernen und ihnen nahe kommen. Die einzelnen Charaktere sind gut herausgearbeitet. Ich bin verblüfft, wie sehr ein Perspektivwechsel gleich ein neues Licht auf das Thema wirft. Diwiaks Erzählart ist auf sprach- und inhaltlicher Ebene absolut gelungen. Große Empfehlung!

Im ausführlichen Nachwort erzählt die Autorin über ihre Herangehensweise an das Thema und über ihr Schreiben und auch wie plötzlich der Krieg während der Arbeit am Roman wieder aktuell in die Nähe rückte. Ich selbst war und bin sehr erschrocken, wie stark sich die Entwicklungen damals und heute ähneln (siehe obige Zitate) und wie wenig Menschen doch aus der Geschichte lernen. Ich werde das nie verstehen. Frieden! Peace!

Das Buch erschien im C. Bertelsmann Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

Irene Diwiak: Liebwies Deuticke Verlag

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„Später würde die Geschichte anders erzählt werden.
[ … ]
Es ist aber nun mal die seltsame Eigenschaft der Zeit, Geschehenes in schwammige Erinnerung und schließlich in Lügen zu verwandeln.“

Mit diesen Sätzen beginnt und endet 334 Seiten später der Debütroman der 1991 in Graz geborenen Irene Diwiak. Ein wenig erinnert das an „Es war einmal … “ und in der Tat hat die Geschichte etwas märchenhaftes. Es ist jedenfalls ein zauberhaftes Buch!
Gut, dass Klaus Kastberger sein Wohlwollen für diesen Roman auf Twitter kund tat, sonst hätte ich ihn womöglich übersehen. Die Leseprobe hat mich dann vollends überzeugt, dass ich diesen Roman lesen will. Er hat eine Atmosphäre wie aus einer fernen Zeit, ein wenig wie aus der Welt gefallen. Dabei spielt er in Österreich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, also nach der k und k – Zeit und bereits hineinschlitternd in den Nationalsozialismus. Der genaue Schauplatz wird nicht genannt.

Schon der Titel hat Potenzial (ganz abgesehen vom zauberhaften Coverbild). Liebwies ist gleichzeitig ein schwer zugängliches Dorf im Gebirge, in dem die Geschichte beginnt und Liebwies wird der Nachname einer berühmten Opernsängerin, die eigentlich gar nicht gut singen kann. Liebwies erzählt von den Eitelkeiten und Eigenheiten der Menschen, von Leidenschaften und Lieblosigkeiten, von Schwächen und vor allem von Zufällen und wie daraus sich oft die skurrilsten Möglichkeiten eröffnen oder aber Träume zerfallen. Wie im Märchen gibt es gute Menschen und es gibt Bösewichte. Leider endet es nicht so wie im Märchen …

Wir treffen auf die Hauptfiguren Gisela, später Liebwies genannt und Ida Gussendorf, geborene Padinsky, um die sich sämtliche Geschehnisse drehen und die durch zusätzlich eingeführte sehr gelungene Charaktere ergänzt und durch die Handlung getragen werden – Diwiak hat ein Händchen für ihre Figuren.
Karoline, eine Bauerntochter in Liebwies wird eines Tages vom neuen Dorflehrer als Gesangstalent entdeckt. Da der Herr aus der Stadt, der sie fördern soll, aber die Schönheit seiner verstorbenen Frau in Gisela, ihrer wenig begabten Schwester entdeckt, wird die falsche in die Gesangsschule geschickt.

„Sie war ganz offensichtlich sehr stolz auf ihre Leistung. Sie strahlte über das ganze Gesicht, was sie noch hübscher, aber zu keiner besseren Sängerin machte.“

Nur aufgrund der wunderbar komponierten Oper „Die Gräfin der Stille“, in der sie nur ein Lied zu singen hat, wird sie berühmt. Dass auch hier wieder eine Verwechslung vorliegt, ein echter Betrug, ist ebenso tragisch. Ida, die mit dem wesentlich älteren Dichter und Möchtegernkomponisten Gussendorf verheiratet wurde, ist in Wirklichkeit diejenige die die Kompositionen geschrieben hat. Ihr eitler Ehemann gibt sie als die eigenen aus.

„Nun, da er selber schwanger war, und zwar mit einer Oper, hatte er keinen Bedarf mehr an Idas Körper. Er lebte in seiner Welt der Melodien, der mythischen Sagen und der wechselhaften Liebesgeschichten. Dabei vergaß er aber noch etwas. Er vergaß die Oper zu schreiben.“

Auch Ida verfällt der Schönheit Giselas, doch die egoistische Gisela ist auf ihren gesellschaftlichen Aufstieg und ihre Berühmtheit bedacht und wendet sich einem vielversprechenden Arzt zu. Dass sich Jahre später die Rollen, gerade auch in Sachen Schönheit, vertauschen, kann Gisela nicht ertragen. Sie sinnt auf Rache …

„Im besten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das viele Menschen begeistert. Im schlimmsten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das nur meine Mama interessiert.“

So sagt Irene Diwiak in einem Interview. Ich wünsche mir und ihr, dass recht viele Leser in den Genuss dieses Buches kommen. Mit „Liebwies“ ist der Autorin nämlich ein ganz und gar überzeugendes, unterhaltsames und auch sprachlich geglücktes Romandebüt gelungen. Mit sehr viel Humor und in charmant österreichischem Stil hat die Autorin eine so unwahrscheinliche wie geschickt entwickelte Geschichte erzählt, die zu lesen ein große Freude ist. Alles ist von vorn bis hinten stimmig. Diwiak beherrscht ihr Handwerk. Ein Leuchten!
Überhaupt scheint mir dieses Jahr ein Jahr der überraschend schönen Debüts zu sein.

„Liebwies“ von Irene Diwiak erschien im Deuticke Verlag. Eine Leseprobe und mehr über Buch und Autorin gibt es hier .