Aris Fioretos: Nelly B.s Herz Hanser Verlag

Der 1960 im schwedischen Göteborg geborene Autor Aris Fioretos hat einen sprachlich meisterhaft gelungenen Roman geschrieben. Lange schon wollte ich einmal etwas von ihm lesen und habe mit „Nelly B.s Herz“ gleich einen Glücksgriff getan. Fioretos erzählt von Nelly Becker, die 1911 als erste Frau in Deutschland ihre Flugzeugführerlizenz erwarb. Er lehnt sich dabei an die reale Biografie der Amelie – Melli – Beese (1886 – 1925) an und ergänzt fiktiv die Zeit nach ihrer Fliegerlaufbahn in Johannisthal bei Berlin und vor ihrem Suizid 1925, über die man fast nichts weiß. Die Biografie Beeses selbst ist schon höchst interessant. Fioretos erzählt sie kurz als Anmerkung am Schluss des Buches.

„Der erste Pilot der Geschichte soll mit Schwingen aus Wachs zur Sonne aufgestiegen sein. Er ließ ein Labyrinth hinter sich, strebte nach offenen Himmeln. In dieser Sehnsucht nach Ungebundenheit erkenne ich mich selbst wieder. Als Mädchen habe ich niemandem erlaubt, mir zu helfen.“

Dem Autor ist es hervorragend gelungen, seine Hauptfigur im Kontext ihrer Zeit aufleben zu lassen. Er gibt ihr sehr viel Tiefe, Melancholie, aber auch eine kraftvolle Lebensfreude. Nelly wird in der Nähe von Dresden geboren, studiert Bildhauerei in Stockholm, bevor sie fasziniert von der Fliegerei mit dem Franzosen Paul Boutard im Fliegerhorst Johannisthal eine Flugschule gründet. Sie fliegt nicht nur, sondern kennt sich auch im technischen Bereich der Mechanik und Konstruktion bestens aus. Als selbständige Frau wird sie jedoch von den männlichen Kollegen oft schräg angesehen, sogar sabotiert. Nach dem 1. Weltkrieg, in dem Paul interniert wird und an Tuberkulose erkrankt, gelingt es ihnen nicht, die Schule erfolgreich weiterzuführen. Gleichzeitig bekommt Nelly die Diagnose einer Herzkrankheit. Sie darf nicht mehr fliegen.

Hier setzt nun die Haupthandlung ein. Nelly, die mittlerweile mit Paul verheiratet ist, trennt sich von ihm, nimmt eine Arbeit bei BMW Berlin an und verkauft Motorräder. Hier lernt sie Irma kennen. Sie verliebt sich in die wesentlich jüngere Frau und erlebt trotz des Flugverbots eine Zeit des Aufwinds, ein Gefühl der Verbundenheit, ja der Verschmelzung, dass sie bisher eigentlich nur oben am Himmel im Cockpit eines Flugzeugs fand. Nellys Herz soll genesen durch Ruhe und Medikamente und beginnt nun durch Irmas Anwesenheit weit zu werden. Im Erinnern an die Beziehungen zu zwei Freundinnen wird Nelly nun auch klar, dass sie bereits als junges Mädchen wusste, dass sie eine „Veilchenfrau“ ist. In der Erzählung der Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen zeigt sich auch die Sprachkunst und Sensibilität des Autors. Er verwendet im ganzen Text Wörter und Metaphern, die mitunter altmodisch anmuten, die aber perfekt zur Zeit und zu den beiden Frauen passen. Dabei spielt er mit Zahlen- oder Buchstabensymbolen, die Nellys komplexes Denken durchziehen.

„Ich muss an das Emblem der Flugschule denken. Sie und ich, einander zugewandt wie zwei Bs. Die Form eines perfekten Stundenglases.“

So musste ich das Wort „inklinieren“ suchen, was Fioretos mehrfach verwendet. Duden sagt dazu: „neigen; eine Disposition/eine Neigung haben, einen Hang/eine Tendenz haben, hinneigen, tendieren“. Das lässt sich nun natürlich hier auch für die Fliegersprache verwenden, nicht nur für die Zuneigung der beiden Frauen oder für die generelle Hinneigung von Frauen zu Frauen. Schnell bemerkt man, dass bei Fioretos Schreiben nichts dem Zufall überlassen wird. Die Geschichte lebt von gelungener Konstruktion, die aber niemals konstruiert wirkt, sondern vollkommen stimmig und leicht, was natürlich auch der großen Sprachsicherheit des Autors zu verdanken ist.

„Ob eine Frau sich nicht wie ein Mann verhalten könne, fragt Irma.
„Aber warum deshalb ein Mann sein wie ein Mann?“

Doch die Beziehung gestaltet sich nicht so einfach. Irma ist ein Kind ihrer Zeit, hat einen anspruchsvollen Job in einer Werbeagentur, will sich nicht festlegen, hat noch jemand anderen. Nelly erkennt das nur langsam und erkennt gleichzeitig was sie selbst will. Eine gemeinsame Flugreise, die sie eigentlich näher zusammen bringen sollte, stellt den Anfang vom Ende dar. Für Nellys Gesundheit zudem ein Desaster. Sie kann nicht mehr arbeiten, versinkt mehr und mehr in einer Welt von mal düsteren, mal klaren Wachträumen, hervorgerufen durch den Missbrauch drogenartig wirkender Medikamente. So wie die echte Fliegerin Mellie Beese, setzt sie ihrem Leben am 22.12.1925 ein Ende.

„Manchmal glaube ich, das ist der Sinn in allem: Als Mensch soll man sich mit seinem ganzen Sein nach außen und vorwärts strecken. Begrenzungen überwinden, dem Punkt entgegenstreben, an dem man endet – und sich danach an ihm vorbeibewegen.“

Aris Fioretos` komplexer Roman, der noch viel weiter reicht, als ich hier erzählen kann, ist für mich ein glückliches bleibendes Leseerlebnis gewesen. Aviatisches Leuchten!

Der Roman erschien im Hanser Verlag und wurde von Paul Berf aus dem Schwedischen übersetzt. Eine Leseprobe und ein interessantes Interview mit dem Autor gibt es hier. Der Roman steht außerdem vollkommen zurecht auf der Februar-Bestenliste des SWR.

Jan Peter Bremer: Der junge Doktorand Berlin Verlag

20190909_1202192085199343183585518.jpg

Als Jan Peter Bremers neuer Roman „Der junge Doktorand“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis landete, erinnerte ich mich, dass ich bereits „Der amerikanische Investor“ von ihm gelesen hatte. Ein Roman, der in einem Haus in Berlin spielt, das neu renoviert wird und einer Familie, deren Wohnung dadurch immer maroder wird, was sich auch im Familienleben spiegelt. Auch im neuen Buch geht es um Beziehungskonstellationen, die durch etwas aus dem Außen eindringendes komplett aus dem Ruder laufen.

Welch ein herrliches Buch! Ich habe mich köstlich damit amüsiert. Allein der Titel. Der junge Doktorand wird in dieser Geschichte zwar unentwegt genannt, spielt die Hauptrolle, obgleich er selbst eigentlich kaum vorkommt, geschweige denn etwas zu sagen hätte. Hätte wohl schon, aber man lässt ihn nicht zu Wort kommen.

Wir befinden uns in der alten ausgebauten Wassermühle des Malers Günter Greilach und seiner Frau Natascha. Der alternde Maler droht als Künstler in Vergessenheit zu geraten und so ist es beiden gerade recht, dass ihnen der Besuch eines jungen Doktoranden ins Haus steht, der seine Arbeit über Greilach Werk schreiben will. Das die Ankündigung von der ehrgeizigen Mutter des Doktoranden kommt und der junge Doktorand selbst immer wieder per Postkarte mitteilt (die Greilachs haben kein Internet), dass sein Kommen sich leider verzögere, finden die Greilachs in ihrer Vorfreude auf den Gast gar nicht seltsam, es steigert sogar ihre Anspannung.

Die Geschichte beginnt an dem verregneten Abend, als der Doktorand dann doch endlich auftaucht. Er wird vom Ehepaar Greilach vollkommen aufgeregt in Empfang genommen und schon in diesen ersten Minuten wird klar, dass es hier nicht um den jungen Mann geht, sonder einzig und allein um die beiden. Sofort entspinnt sich ein Dialog zwischen den Eheleuten, der den Doktoranden, die Hauptperson sogleich außen vor lässt, bei dem der Leserin sofort unwohl wird. Beide versuchen jeweils das Wort an sich zu reißen, den besten Eindruck zu hinterlassen und merken nicht, wie sie dabei ihren Gast vollkommen ausblenden. Sie werfen sich ruppige Worte an den Kopf, sie ereifern sich, sie führen ihre Dispute in gleicher Weise wie immer fort (nur endlich mit Publikum) und es wird klar, dass die beiden sich lange schon nicht mehr leiden können, nur noch aus Gewohnheit zusammen leben.

Nataschas Erwartungen sind hoch. Sie erhofft sich ein weiteres Aufblühen. Begonnen hat dieses Gefühl schon mit der Ankündigung des Gasts. Sie verklärt den jungen Mann vollkommen, fantasiert sich ein Bild und eine Biografie von ihm, die ihr zupass kommt, mit der sie vor ihrer Freundin in der Provinzstadt glänzen kann.

Greilach erhofft sich einen Bewunderer, einen den er sich zurechtbiegen kann, dem er womöglich die Doktorarbeit gleich selbst diktieren kann. Es ist seine Chance wieder in den Focus der Kunstwelt zu kommen.

Der junge Doktorand namens Florian, wie man recht spät erfährt, entspricht keiner der Erwartungen seiner Gastgeber. Er, der in der Schule einmal eine Lithografie Greilachs in einem Aufsatz besprach (weshalb die ganze Geschichte ins Rollen kam), hat gar keine künstlerischen Ambitionen mehr seit seine Mutter eine Affäre mit dem ehemaligen Kunstlehrer hat. Er will nicht studieren, ist nicht besonders ehrgeizig, sondern hat eine Aufgabe gefunden, bei der er sich geborgen und angenommen fühlt. Er kümmert sich freundschaftlich um Geflüchtete und arbeitet in einer Sprachschule, in der er Deutsch unterrichtet.

„Ohne seinen Blick vom Telefon zu heben, trat der junge Doktorand auf den Tisch zu, setzte sich auf den angebotenen Stuhl, legte das Gerät vor sich ab und zog seinen Tabakbeutel aus der Bauchtasche hervor.“

Zu lesen, wie die Greilachs es schaffen, den jungen Doktoranden als Anlass für ihre hanebüchenen gegenseitigen Beschuldigungen und Vorwürfe zu benutzen, die offenbar das Einzige sind, was sie noch verbindet, sich immer mehr in diese hineinzusteigern, ist enorm witzig und höchst traurig zugleich. Der junge Doktorand hingegen hält sich am Mobiltelefon fest, welches ab und an sirrt oder tutet, dreht Zigaretten und man ist nicht sicher, ob all die Dia- und Monologe ohne Schaden an ihm vorbeiziehen …

Bremer hat ein intensives, gekonnt konstruiertes Buch geschrieben, bei dem man nicht recht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Sicher ist jedoch, dass sich alles genauso abspielt, tagtäglich da draußen. Der Roman jedoch leuchtet!

„Der junge Doktorand“ erschien im Berlin Verlag. Er steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Mehr über Buch und Autor hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Ana Marwan: Der Kreis des Weberknechts Otto Müller Verlag

20190905_1643497759074903643569009.jpg

Womöglich der schönste Debütroman dieses Jahres: Er kommt von  der 1980 in Slowenien geborenen, in Wien lebenden Ana Marwan und erinnerte mich anfangs im Sprachstil und mit seiner skurrilen Hauptfigur gleich an die Romane von Anna Weidenholzer (hier besprochen: „Weshalb die Herren Seesterne tragen“), in seiner Intensität aber auch an Anna Baar (hier besprochen: „Als ob sie träumend gingen“). Im Laufe der Handlung entwickelt sich daraus eine wunderbare eigene Erzählart, die mit schrägem Humor auffällt, mit Sprache exzellent spielt und zudem noch ausgesprochen klug und so ganz anders als üblich mit Genderklischees umgeht.

Es geht um Karl Lipitsch. Und zwar ganz und gar. Lipitsch ist nämlich ein Egoist, ja womöglich ein Narzist, auf jeden Fall jedoch ein Misanthrop, wie er selbst stolz behauptet. Lipitsch schreibt an einem Buch. Einem philosophischen. Worum es geht, weiß man nicht so genau. Er möchte dabei jedoch möglichst wenig gestört werden. Vor allem nicht von einer Frau. Denn Frauen findet er anstrengend, Beziehungen wenig gewinnbringend. Lipitschs Frauenbild lässt allerhand zu Wünschen übrig. Also ein durch und durch unsympathischer Zeitgenosse.

„Wenn du es mal satt hast und aufhörst mich gut zu stillen, werde ich schreien, wenn du anfängst von Ent-wicklung zu reden, werde ich weinen und mir eine Neue suchen, die das besser macht. Ich werde auch aufhören, dich schön zu finden, mal schauen, ob du mich dann auch so schnell ersetzen kannst.“

Doch seine Nachbarin Mathilde, die er zufällig am Flughafen, bei der Rückkehr von einem Familienfest trifft, ist sehr freundlich zu ihm, wie er findet, bis zur Aufdringlichkeit. Auf keinen Fall will er mit ihr mehr zu tun haben. Doch Mathilde will Kontakt knüpfen, am Gartenzaun spricht sie ihn an, wo er doch gerade vertieft ist ins Schreiben. Mathilde lässt nicht locker und Lipitsch gesteht ihr sogar außer einem hübschen Aussehen ein wenig Klugheit zu, kennt sie doch immerhin Proust, weiß sogar Zitate daraus.

„Proust ist nicht jedermanns Sache“, öffnete Lipitsch gleich ein Ventil. Er betätigte regelmäßig die Ventile seiner Wut, die sich im Bereich der Zweideutigkeit befanden, damit alles unverrostet und gut gelüftet und gesund blieb, und offene Konflikte vermieden werden konnten.“

Es ist höchst spannend und amüsant als Leserin mitzuverfolgen, wie Lipitschs Innenwelt von seinem äußeren Verhalten Mathilde gegenüber abweicht. Denn innen entsteht langsam aber stetig eine Abhängigkeit von ihr. Er wartet auf Zeichen, auf Gesten, auf Einladungen zu ihren Salon-Abenden, um sich möglichst vorteilhaft zu zeigen, denkt ständig was er noch tun kann, um gut anzukommen. (Ein herrliches Beispiel dafür: Er überlegt sich ein kleines Mitbringsel für sie. Es darf nicht zuviel, nicht zu wenig sein. Er hat noch ein Glas Honig stehen, entfernt das Etikett und ersetzt es durch ein handgeschriebenes und gibt es als frischen Imkerhonig von einem Bekannten aus.) Doch nie gesteht er sich gänzlich zu, dass womöglich Zuneigung entstanden ist, dass er sich vielleicht gar verliebt hat. Mathilde gegenüber schon gar nicht. Ihr Angebot sich endlich zu duzen, lehnt er rundweg ab. Zuviel Nähe erträgt er nicht.
Dennoch vereinbaren sie für jeden Freitagnachmittag Kaffeetreffen.

„Die ersten Male wartete er mit großem Unbehagen, bestehend bald aus Angst, dass sie nicht kommen würde, bald aus vorzeitiger Wut, weil sie vielleicht nicht gekommen sein wird, oder aber auch aus mühsam vorgetäuschter Indifferenz, ob sie kommen würde oder nicht. Ihre Pünktlichkeit wiegte ihn jedoch bald in ein Gefühl von Sicherheit, denn sie wusste ihr Spinnennetz als Hängematte anzubieten.“

Eines freitags – es sind Monate mit regelmässigen Treffen vergangen, Lipitsch fühlt sich mittlerweile sicher und angenehm mit Mathilde, mehr braucht und will er nicht – erzählt Mathilde, dass sie für 2 Wochen in Urlaub fährt. Mit wem? Mit Arbeitskollegen (er weiß noch immer nicht, wo und was sie arbeitet!). Lipitsch fällt aus allen Wolken. Wie kann sie nur? Und so kurzfristig? Wie soll er das durchstehen?

Für Mathilde, die Kluge, ist der Urlaub schließlich ausschlaggebend um einen Schlußstrich zu ziehen. Klar erkennt sie, dass mit „Karl“ nichts weiter anzufangen ist und beendet ihre Treffen nach ihrer Rückkehr.

Lipitsch nun, geht durch alle Phasen einer echten Trennung. Sieht bei sich keinerlei Schuld am Scheitern. Wütet innerlich. Droht. Schreibt Briefe. Versucht erneut Kontakt zu knüpfen. Sieht letztlich ein, dass er es verpatzt hat. Dass aus alldem für ihn eine Erkenntnis reift, die er schriftlich darlegt. Dass er, der nie an so etwas wie Schicksal glaubt, plötzlich den Zufall als weltbewegend sieht und als ausschlaggebend für die Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, den ewigen Kreislauf des Lebens, ist erstaunlich (so klärt sich auch der ungewöhnliche Titel des Romans am Schluß). Aber wer weiß, vielleicht hat Lipitsch sich auch hier wieder in eine Theorie verrannt, die ihn vom echten Leben fern hält? Überlegt die Leserin …

Ana Marwan deckt die im Geheimen wirkenden Muster von Männern und Frauen auf. Sie hat eine brilliante Charakterstudie eines durch und durch unsympathischen Mannes geschrieben. Doch sie entlarvt ihn, durchleuchtet ihn und lässt ihn in einer großen freundlichen Geste an einer Frau, an einer Beziehung wachsen. Ich bin froh, das mir dieses Buch vom Otto Müller Verlag nahe gelegt wurde. Es ist eine erfrischende und amüsante, kluge und sprachlich hervorragende Entdeckung!

Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar! Eine aufschlußreiches Interview mit der Autorin und eine Leseprobe gibt es hier.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.