Ulrich Koch: Selbst in hoher Auflösung Jung und Jung Verlag

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„Jeden Morgen erwache ich wie jemand, der sein Empfehlungsschreiben verloren hat, und beginne fieberhaft zu suchen. Sobald ich etwas geschrieben habe, bin ich von seinem Gegenteil überzeugt. Dann stellt sich Heimweh ein.“

Mit diesen Worten eröffnet der 1966 geborene Lyriker Ulrich Koch seinen lang erwarteten neuen Gedichtband. War manches bereits in der Timeline eines Social-Media-Kanals zu lesen, ist es nun gebündelt und verdichtet zwischen zwei Buchdeckeln viel besser aufgehoben – das dichterische Werk. Obiger Auszug leitet die ersten Seiten ein, quasi als poetisches Vorwort, überschrieben mit dem Satz: In meiner Erinnerung riecht es noch immer nach Zukunft. Hier erliest sich schon eingangs mit welcher Reichweite, mit welchem Ton die Leser*innen rechnen dürfen.

„Der Apfelbaum auf der Streuobstwiese
hat den Funkkontakt verloren.“

Es sind Texte, die ich ziemlich gerne lese, Ein Klang, der für mich ein Weltklang im alltäglichen ist, ein Beispiel von Sprache in einer sich stetig wandelnden Welt, im Umfeld des Dichters herausgezogen oder gesogen aus den umgebenden Dingen und Ereignissen. Die Verse begegnen mir, als würde ich sie wiedersehen, als hätte ich sie als Kind schon kennengelernt. Ein Ton, wie ihn so eben nur Ulrich Koch kann. Spektakulär gut.

„Aus der Planierraupe ist ein Parkplatz geschlüpft,
nachtschwarze Flügelfläche,“

Koch stellt Dinge des Alltags in Konstellationen, wie sie eigentlich nicht vorkommen, stellt Natur und Mensch und Tier gegenüber und lässt sie aufeinander los. Ohne Wunden und Verletzungen kommt da keiner raus, wird aber vielleicht gleich wieder getröstet vom nächsten Vers. Wie außen, so innen – oder umgekehrt. Das Innen wird mitunter nach außen gestülpt. Von der Einsamkeit ist überproportional oft die Rede. Aber auch von der Schönheit.

„Die Mehrheit der Einsamen hält sich ein Haustier.
Fünf von vier Haustieren

hören schon seit Jahren nicht mehr zu.“

Kochs Gedichte stehen kaum still, aber erlauben die Stille. Sie lassen sich treiben, kennen kein genaues Ziel. Oft nehmen sie Fahrt auf, die Enden eine Vollbremsung. Und gleich weiter zum Nächsten. Wenn sie dann zum Anhalten einladen, bleibt dem Leser alle Zeit der Welt, um sich durch geheime Türen ins Verdichtete hineinzuschleichen, sozusagen ins Koch`sche Laboratorium und die Worte zu wiegen.

„Auf den Prosagedichten
führen die Befreiten
ihre Strichlisten: Birken,
die zu Reisern verknistern,
immer leiser werdend.“

Die Kapitel sind lose nach Themen geordnet – es lassen sich als Schwerpunkte Beziehungen oder Familie erkennen, es gibt einige Tiergedichte, die dann doch keine sind. Aber auch – ich interpretiere – ein „Wer bin ich, wenn ich bin“ oder „Wo bin ich verankert in der Welt“. Letzteres besonders im Kapitel „Elementare Gedichte“, welches ich auch für das schönste halte. Koch verwendet freie Verse, keine konkreten Formen, was sich reimt, tut es nicht nur aufgrund eines gleichen Klangs sondern aus unerklärlichen Gründen im Lesefluß. Im Ausklang des Buchs schreibt Koch unter anderem:

„Der Vorwurf der Unverständlichkeit eines Gedichts fällt auf den Leser zurück. Es sei denn, er kann glaubhaft machen, daß es dem Schreibenden möglich gewesen wäre, sein Gedicht zu lesen, bevor er es geschrieben hat.“

In diesem Sinne: Ich empfehle diese Gedichte als Leserin und Schreibende zugleich: Lyrisches Leuchten!

Ulrich Kochs Lyrikband „Selbst in höchster Auflösung“ erschien im Jung und Jung Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier.

11 Gedanken zu “Ulrich Koch: Selbst in hoher Auflösung Jung und Jung Verlag

  1. “Der Vorwurf der Unverständlichkeit eines Gedichts fällt auf den Leser zurück. Es sei denn, er kann glaubhaft machen, daß es dem Schreibenden möglich gewesen wäre, sein Gedicht zu lesen, bevor er es geschrieben hat.”
    Was für ein schönes Zitat. Alle Zitate gefallen mir. Schade, dass das Buch (noch) so teuer ist, aber ich muss es mir vielleicht bestellen….
    Schön, dass Du auch Gedichtbände besprichst! Es macht Spass Deinen Blog zu lesen & ich habe dank ihm schon zwei Bücher entdeckt („Löwen wecken“ und „Nach einer wahren Geschichte“) die ich beide sehr gerne hatte. Danke dafür! 🙂

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    • Das freut mich sehr! Es ist immer total schön, wenn Feedback kommt! Gedichtbände erscheinen ja in den seltensten Fällen später als Taschenbuch, dazu sind die Auflagen zu gering. Das muss dann schon jemand sehr bekanntes sein. Ich finde auch gerade diese mutigen kleinen Verlage, die sich trauen Lyrik zu verlegen, sollte man (im Rahmen der eigenen Möglichkeiten) immer unterstützen. Vielleicht gibt es auch eine Bibliothek, die es gekauft hat? Es ist jedenfalls eine Bereicherung.
      Viele Grüße!

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  2. Nicht nur das poetische Vorwort erweckt meine Neugier, auch dein eigener Leseeindruck. Liebe Marina, ich habe dank deines Blogs gleich zwei neue Schätze entdeckt, welche ich unbedingt lesen möchte. Einmal das Gedichtband von Ulrich Koch und das Norman-Areal von Jan Kjærstad. Bin gespannt!

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