Frans Eemil Sillanpää: Hiltu und Ragnar Guggolz Verlag

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„Doch jetzt erst einmal betrachtete er, mit angenehm leerem und klarem Gewissen, den frühen Herbstmorgen, den er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben derart direkt angesehen hatte; zumindest nicht mit denselben Augen wie jetzt. Langsam legten sich auch diese unwillkürlichen Schauer, je weiter der Tag voranschritt.“

Mit diesem Absatz beendet Sillanpää die Geschichte von Hiltu und Ragnar.
Es sind nur etwa 100 Seiten. Es ist ein kleines Bändchen aus einem kleinen Verlag. Aber es ist ein großes Stück Literatur!

Ich habe mich gefragt, ob ich überhaupt darüber etwas schreiben kann oder ob ich gar das Geheimnis dieser Geschichte nur für mich selbst zu erkunden versuche. Ich weiß auch jetzt noch nicht, ob ich die richtigen Worte finde.

Der Inhalt der Geschichte, die im Jahr 1906 in Finnland spielt ist schnell erzählt. Hiltu, sie wird etwa 13 Jahre alt sein, stammt aus einer armen Familie vom Land und wird in die Stadt in eine Villa als Dienstmädchen geschickt. Die Villa am See wird bewohnt von einer „Rektorenwitwe“, die im Haus ein strenges Regiment führt und ihrem 20-jährigen Sohn Ragnar, der in der Stadt studiert.
Durch die wechselnden Dienstmädchen im Hause, werden in Ragnar erotische Fantasien geweckt. Das neue Dienstmädchen ist allerdings ein sehr scheues, unscheinbares Wesen. Als Ragnar merkt, dass er aber gerade deshalb Macht auf das Mädchen ausübt, plant er, wie er sie verführen kann. Die Chance dazu bietet sich, als die Mutter verreist und er drei Nächte mit Hiltu alleine im Haus sein wird. Da er in der ersten Nacht nicht ans Ziel kommt, trinkt er sich mit drei Freunden in der Stadt Mut an und lädt diese zu sich nach Hause ein. Die unerfahrene Hiltu wird inzwischen vollkommen von Gefühlen überschwemmt, hin- und hergerissen, die Annäherung Ragnars zuzulassen oder abzuwehren und erschrickt zu Tode, als „der junge Herr“ mit seinen trunkenen Freunden auftaucht.
Der Leser glaubt zu wissen, was nun passieren wird, ahnt Schreckliches. Doch das Schreckliche kommt in anderer Weise, als man vermutete…

„Weil die Gedanken nicht einmal einen Anfang fanden. Weil überall der Weg verstopft war und jeder Atemzug alles noch mehr verengte. Selbst die Zeit mit ihrem Fortschreiten stellte ein fremdes, feindseliges Phänomen dar; sie ließ die Nacht zum Morgen werden, ohne Rücksicht auf die Erschöpfte, drohte mit einem gewaltigen Tag, an dessem Ende es keine weitere schützende Nacht  mehr geben würde. Der anbrechende Tag tötet, ohne jedoch das Leben zu nehmen…“

Die Erzählung hat mich unversehens in ihren Bann gezogen und mir den Atem verschlagen. Es entstand ein Gefühl in einem Kokon in einer sehr speziellen Atmosphäre eingeschlossen zu sein. Wie geht so was? Was macht Sillanpää (oder vielleicht auch die Übersetzerin) mit mir als Leser? Ich weiß immerhin, es liegt an der Sprache und an der Inszenierung und womöglich doch auch am Inhalt. Es ist als wäre der Autor (oder die Übersetzerin) in die jeweiligen Protagonisten hineingeschlüpft und hätte selbst genau gefühlt, was sie fühlen und es so aufgeschrieben. Für mich ist das große Schreibkunst. Ich kann jedem nur empfehlen, dies Büchlein zu lesen und selbst dem Mysterium dieser Geschichte nachzuspüren.
Über Kommentare zu eigenen Leseerlebnissen würde ich mich gerade hier sehr freuen.

Frans Eemil Sillanpää lebte von 1888-1964. Er kam aus einfachen Verhältnissen, studierte zunächst, brach das Studium aber ab, um zu Schreiben und lebte lange in finanziell prekärer Situation.  1939 erhielt er als bisher einziger Finne den Literaturnobelpreis.
Nach Alkoholmissbrauch und Aufenthalt in der Psychiatrie schrieb er nicht mehr.
„Hiltu und Ragnar“ ist 1923 in Finnland erschienen. Die vorliegende Ausgabe wurde von Reetta Karjaleinen übersetzt und ist schön gestaltet im Guggolz Verlag erschienen.

 

3 Gedanken zu “Frans Eemil Sillanpää: Hiltu und Ragnar Guggolz Verlag

  1. Deine Rezension ist sehr stimmungsvoll und geht unter die Haut!
    Alles, was du zu dem Buch sagst, erinnert mich sofort an den Roman „Frommes Elend“ vom selben Autor, ebenfalls bei Guggolz erschienen (2014). Auch eine Geschichte, die lange nachklingt.

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