Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Edition Nautilus

geb_SU

„Assomonns les pauvres“ – „Erschlagen wir die Armen“
Diese Zeile ist einem Prosagedicht Charles Baudelaires entlehnt und es könnte für dieses Buch keinen passenderen Titel geben.

Ich bin froh, diesen Roman von Shumona Sinha gelesen zu haben. Er ist bereits 2011 in Frankreich erschienen und erhielt mehrere Preise. Sinha, in Kalkutta geboren und seit 2001 in Paris lebend, wurde damit schlagartig als Autorin bekannt, verlor allerdings ihre Arbeit als Übersetzerin bei der Einwanderungsbehörde. Dass dieses Buch gerade in Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise so erfolgreich ist, ist kein Wunder. Ich aber finde es aus ganz anderen Gründen extrem wichtig und lesenswert.

Zum einen ist da Sinhas Sprache, die mich beeindruckt. Dass sie in Französisch schreibt und ich darin auch die starken Bilder ihrer Herkunftssprache, ihres Landes finde, ist ziemlich gelungen und ein möglicherweise gewollter Kontrast zum Inhalt. Viele Kritiker fanden gerade hier etwas auszusetzen, aber ich glaube weder an eine schlechte Übersetzung noch an überzogene Sprachbilder, sondern eher an Authentizität.
Als Beispiel für eine ausgesprochen gelungene Metapher erscheint mir die wiederholte Verwendung der Begriffe blickdichtes Glas, Milchglas oder Mauern aus Glas in den Büros der Behörde, die ganz deutlich auf vermeintliche Transparenz bei gleichzeitiger Undurchsichtigkeit hinweisen.

Ein weiterer Grund findet sich darin, dass es tatsächlich ein politisches Buch ist. Es klagt an. Es geht um die Kluft, die die westliche von der östlichen, die „erste“ von der „dritten“ Welt trennt und die die Notwendigkeit von Emigration ja erst hervorbringt. Es geht um die Kluft zwischen Arm und Reich (Erschlagt die Armen!). Es ist eine Klage, die keine Lösungen anbietet, aber uns die Situation ins Bewusstsein holt.

Und für mich ist es vor allem auch ein Buch, dass aus der Sicht einer Frau erzählt, die aus einem Land stammt, in dem viele Frauen keinerlei Rechte und kaum Möglichkeiten haben. Sinhas Roman ist ein Plädoyer für die Gleichberechtigung und gegen die Unterdrückung der Frau. Und ich meine, dass ist überall dringend nötig, egal auf welchem Kontinent, egal ob arm oder reich. Sinha kommt aus einem Land, in dem die Situation der Frau eine der schlimmsten auf der Welt ist. Ich denke beispielsweise an das Kastensystem und die Massenvergewaltigungen von Frauen in Indien. Vor diesem Hintergrund ist mir die Wut, die durch ihr Buch strömt, absolut begreiflich. Viel zu wenig Romane gibt es, hinter denen eine so starke Dringlichkeit und Kraft steht, diese Zustände öffentlich zu thematisieren.

„Sie durften meine Arbeit kritisieren, weil eine echte Frau nicht arbeitet. Keine Frau, die sie von Nahem oder Weitem kannten, keine Nachbarin im Dorf, war so tief gesunken, dass sie sich der Welt aussetzte und ihren Lebensunterhalt mühevoll alleine verdiente, als gäbe es auf der Welt keine Männer mehr! Und dann erdreistete sich diese Frau, sie, die Männer, auszufragen. […] Es war absurd, dass eine Frau Fragen stellte uns sie, die Männer antworteten.“

Inhaltlich lehnt sich Sinhas Roman zunächst an eigene biografische Daten an. Die Heldin des Romans ist nach Frankreich immigriert und arbeitet in der Einwanderungsbehörde als Dolmetscherin. Sie übersetzt die Geschichten ihrer geflüchteten Landsleute für die französischen Sachbearbeiter, auch in Gerichtsprozessen. Die Geschichten sind oft unglaubwürdig, es sind erkaufte, erfundene Geschichten, die helfen sollen Asyl zu bekommen, denn nur politische oder Kriegsflüchtlinge werden anerkannt. Die meisten Bewerber aber wollen der Armut entfliehen, sie wollen eine bessere Zukunft. Doch die Versprechungen der Schlepper treffen selten ein.

Die namenlose Protagonistin sitzt zwischen den Stühlen, fühlt sich weder der einen noch der anderen Seite richtig zugehörig. Man spürt permanent ihre Zerrissenheit. Sie wünscht sich nichts mehr, als in diesem Land, dessen Sprache und Kultur sie liebt, integriert zu werden, doch schon aufgrund ihrer Hautfarbe scheint dies unmöglich. Mit „weißen“ Männern hat sie Affären, in ihre blonde schöne Arbeitskollegin verliebt sie sich. Als sie endlich eine Verabredung mit dieser arrangieren kann, passiert auf dem Weg zu ihr das Unglaubliche: Als ein dunkelhäutiger Mann sie in der Metro beleidigt und übergriffig wird, packt sie die Weinflasche in ihrer Tasche und schlägt zu.

„Manchmal wurde meine Angst zu Wut. Nach einem ganzen Jahr in diesen Büros war mein Leben zweigeteilt: Angst und Wut. Vielleicht war es meine Wut, die mir Angst machte. Ich fürchtete mich vor mir selbst.“

In Rückblenden wird nun erzählt, wie es zu diesem Akt der Gewalt kommen konnte. Wie viel angestaute Aggression dahinter steckt, wie viel verdrängte Wut, wird in dem Gespräch, welches die „Täterin“ in der Haft mit dem Beamten Herrn K. führt, sehr schnell ersichtlich und in gewisser Weise beinah verständlich.

Das Ende der Geschichte bleibt offen. Ich erfahre weder, was mit dem „Erschlagenen“ passiert ist (lebt er?), noch ob es zu Anklage oder Verurteilung kommt.

Ich bin tief beeindruckt von diesem Buch. Und ich erwarte gespannt Shumona Sinhas zweites Buch „Kalkutta“ in deutscher Sprache, welches im August ebenfalls in der Edition Nautilus erscheinen wird. Die Übersetzung stammt von Lena Müller.
„Erschlagt die Armen“ ist nominiert für den Internationalen Literaturpreis 2016:
Nachtrag: und hat ihn auch gewonnen!
Eine Leseprobe gibt es hier .

2 Gedanken zu “Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Edition Nautilus

  1. Liebe Marina,
    mich hat das Buch beim Lesen – und danach – auch zutiefst beeindruckt. Es kommt so schmal daher und ist in seiner Geschichte mit den sehr unterschiedlichen Konfliktebenen (Asylrechte in Europa, Einwanderung, weil es sich in manchen Ländern nicht mehr leben lässt, Probleme der Integration, manchmal auch Unwilligkeit, Probleme der Gleichberechtigung, die bis nach Europa reichen usw., usw.) so unglaublich komplex. Und sprachlich so überzeugend, weil die Autorin ja auch Lyrikerin ist und weiß, wie sie die Worte setzt (und dies hat die Übersetzung dann eben auch geleistet). Dann drücken wir jetzt mal ganz fest die Daumen, dass es mit dem Interrnationalen Literaturpreis etwas wird.
    Viele Grüße, Claudia

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  2. […] Ebenso spannend wir sicherlich die Lesung mit Shumona Sinha in der Buchhandlung Volkshaus. Die indisch-französische Autorin ist zur Zeit “Writer in Residence” in Zürich und hat für ihr Buch “Erschlagt die Armen” den Internationalen Kulturpreis erhalten. Eine meiner Kolleginnen war sehr begeistert von diesem Werk, genauso wie Marina von literaturleuchtet. » Hier geht es zu ihrer Besprechung. […]

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