Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich Aufbau Verlag

9783351037390 Foto Gianna Molinari

Die 1988 geborene Schweizerin Gianna Molinari las im Jahr 2017 einen Auszug aus ihrem Debütroman bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Ihr Beitrag kam gut an und sie erhielt den 3Sat-Preis. Nun liegt der komplette Roman vor und er wurde sofort für die longlist des Deutschen Buchpreis 2018 nominiert. Das ist erstaunlich, doch es freut mich, denn es ist ein vom allgemein Üblichen abweichender Roman, der mich selbst sehr anspricht, mental und emotional.

Ein wenig naiv oder zumindest minimalistisch, wie auch die kleinen Zeichnungen im Buch, die die Hauptfigur während ihres Nachtwächterinnen-Dienstes anfertigt, wirkt diese Geschichte auf den ersten Blick. Das ist jedoch gerade das hinreißende an ihr. Was vielfach vergessen wird, ist, dass in der Naivität ja auch das Spielerische, Kindliche, Neugierige zum Tragen kommt. Und unter der scheinbaren Einfachheit der Geschichte finden sich unzählige doppelte Böden.

„Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.“

Die namenlose Heldin heuert in einer fast schon stillgelegten Fabrik als Nachtwächterin an. Nur ein Teil des Werkes produziert noch Wellpappe. Am Rest nagt der Zahn der Zeit. Aus der Ich-Perspektive wird erzählt, was die Hauptperson in den Nächten vor dem Monitor und bei ihren Rundgängen erlebt. Viel ist es nicht, wäre da nicht der Wolf, der bisher erst einmal auf dem Gelände gesehen wurde, von dem sie sich aber endlich Abwechslung verspricht. Denn hier „scheint noch alles möglich“ in dieser Brache, die die Welt außen vor hält, mit Zäunen mit Schlupflöchern. Der Chef hält es nicht für notwendig die maroden Stellen ausbessern zu lassen. Doch wegen des vermeintlichen Wolfs lässt er Fallen aufstellen und eine Grube ausheben.

„Der Wolf wird nicht gefürchtet, weil er in Containern wühlt und fressen will, sondern weil er eine Grenze überschritten hat. Er hat sein Umfeld verlassen und die Fabrik betreten. Das scheint Grund genug.“

Ein weiterer „doppelter Boden“ ist der M. d. v. H. f. Ein Mitarbeiter der Fabrik, Lose, der eine Sammlung zu einem ungewöhnlichen Ereignis aufbewahrt, wird zum Freund, ebenso wie Clemens, der jeweils die zweite Nachtschicht übernimmt. „Der Mann der vom Himmel fiel“ wird im Wald nahe des Flughafens und der Fabrik tot aufgefunden. Nach und nach stellt sich heraus, dass es sich vermutlich um einen Mann aus Kamerun handelt, der sich in einem Fahrwerk des Flugzeugs versteckte, doch während des Flugs in eisiger Höhe erfror. Als die Räder kurz vor der Landung ausgefahren wurden, fiel er zu Boden. Und genau diesen Moment sah Lose, der als Jäger auf einem Hochsitz saß und auf Wild wartete, aber nicht verstand, dass das fallende Etwas ein Mensch war.

„Seit ich weiß, dass nicht weit von meiner Halle ein Mann aus einem Flugzeug fiel und als Unbekannter gefunden wurde und ein Unbekannter blieb, scheinen mir die grundlegendsten Dinge nicht mehr sicher zu sein: die Zugehörigkeit zu einer Familie, der eigene Name.“

Die Nachtwächterin ist eine Sammlerin, eine, die Wissen und Fundstücke zusammenträgt, sich zum eigenen Verständnis Notate und Skizzen macht, eine die viel nachdenkt, fantasiert und hinterfragt und viel erkennt, erspürt. Eine, die noch nicht zum fremdgesteuerten Menschenroboter geworden ist, wie es die Gesellschaft verlangt, eine die noch spielen und ausprobieren und entdecken kann. Ich mag sie sehr, ich bin ihr sehr nah.

Und vielleicht ist es auch ein Märchen, das uns Gianna Molinari da erzählt. Vielleicht ist in solch einem Märchen der Wolf plötzlich da und kein Feind des Menschen, sondern ein sanfter Gefährte. Viel Weisheit und Tiefe strahlt aus diesem kurzen Text. Wenn Menschen vom Himmel fallen (diese Geschichte basiert auf einem tatsächlichen Ereignis), dann ist alles unsicher, dann ist alles möglich. Im Guten wie im Bösen. Dann mag es sogar möglich werden, dass Zäune und Grenzen durchlässig werden, dass Wölfe wieder einen gemeinsamen Lebensraum mit Menschen finden, dass die Natur und der Mensch wieder in Verbindung stehen,  dass Mensch und Mensch sich gegenseitig akzeptiert, dass Herkunft und Geschichte keine Rolle spielt.

Ein geglücktes literarisches Debüt! Ein flirrendes Leuchten!

Der Roman erschien im Aufbau Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier.

5 Gedanken zu “Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich Aufbau Verlag

    • Ich wünsche es mir, aber es ist schon eher ein polarisierender Roman, glaube ich.
      Die Zeit vergeht … am 11. gibts schon die Shortlist und ich habe nicht annähernd alles gelesen, was ich vorhatte. (dafür anderes;-)

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