Sabine Scholl: Die im Schatten, die im Licht Weissbooks

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Es ist der erste Roman, den ich von Sabine Scholl lese. Und er hat mich gefesselt und ich bewundere, wie gekonnt die Autorin ihre weiblichen Hauptfiguren lebendig macht und wie intensiv ich sie dadurch erleben darf. Sabine Scholl hat neun Frauen gewählt, die sie von kurz vor bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg begleitet. Sie lehnt ihre Heldinnen an wahre Biographien an und gibt ihnen durch ihre literarische Ausarbeitung eine Stimme. Dabei gliedert sie in drei Teile chronologisch von 1938/39 über 1944 bis 1946. Eingangs finden wir eine Liste der Protagonist*innen, die im Buch in Erscheinung treten zusammen mit einer Ortsangabe, an der sich die jeweiligen Personen überwiegend aufhalten. Es sind Orte in Österreich. Linz spielt eine tragende Rolle, auch wegen der Nähe zum Konzentrationslager Mauthausen. Ausgangspunkt der Geschichten ist unter anderem Grieskirchen, der Geburtsort der Autorin in Oberösterreich. Zu dieser Namensliste musste ich auch immer wieder zurückblättern, um die Person wieder einzuordnen, denn es sind viele Namen.

Die Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein. Jede bekommt abwechselnd in eigenen Kapiteln ihre Stimme und das kann Erzähltext sein, Tagebucheinträge und auch das Notat einer Tonbandaufnahme eines Interviews. Die Frauen kommen aus unterschiedlichen Kreisen, leben teilweise in der Nähe und sind einander doch größtenteils unbekannt: Rosi, Zugehfrau, Traudi, ledige Mutter und Dienstmädchen, Lotte, Tochter wohlhabender jüdischer Eltern mit Bekleidungsgeschäft, Elsa, jüdische Ehefrau eines Pastors, Vera, Gräfin auf einem Schloss, Huberta, Prinzessin und Lebefrau, Gretel, Schneiderin, Francine, Schauspielerin. Auf manchen liegt der Fokus mehr, alle Schicksale sind hoch interessant. Durch den Wechsel der Perspektiven entsteht zudem Spannung.

Einige Geschichten haben mich besonders berührt. Manche Frauen sind sympathisch und manche weniger. Doch jede geht ihren Weg. Manche sind Täterinnen, manche im Widerstand und manche machen einfach mit im Nationalsozialismus.

Elsa zum Beispiel, Jüdin und Ehefrau eines Pastors inszeniert ihren eigenen Selbstmord und flieht, um ihre Kinder nicht weiter den Anfeindungen der Dorfbewohner auszusetzen, die voll hinter dem System stehen. Die Kinder wurden drangsaliert und durften als Halbjuden keiner Gruppe beitreten, keinen Musikunterricht mehr nehmen etc.

„Mit einem Mal zeigen die Plakate im Dorf das Hakenkreuz über dem Dachstein aufgehen wie eine Sonne. Dieses hässliche, grauenvolle, spinnenartige Ding überzieht Papier, Fenster, Landschaft und Gehirne. Viele Leute glauben daran wie an einen Gott, einen Erlöser gar.“

Rosi, ihre Freundin wurde nicht eingeweiht und hält sie für tot. Sie betreut die Sommerhäuser der reichen Nazis und beherbergt zeitweise Flüchtlinge und arbeitet im Widerstand, in dem sie die Partisanen in den Bergen mit Nahrung und Informationen versorgt.
Vera ist Adelige und bewohnt das familieneigene Schloss und Anwesen. Weil ihr Mann immer wieder verhaftet wird, (weil er im Widerstand tätig ist) kümmert sie sich als Frau um die gesamten Geschäfte und schafft es immer wieder ihren Mann zeitweise aus der Haft zu holen. Von Haft zu Haft geht es ihm schlechter.
Da ist Gretel, die Schneiderin, die ab Kriegsbeginn fast keine Arbeit mehr hat, aber ihre alte Mutter versorgt. Als sie eine Stellenanzeige liest, in der Aufseherinnen für Lager gesucht werden, bewirbt sie sich. Hier beschreibt Scholl sehr eindringlich, wie sich Gretel von einer normalen jungen Frau zu einer grausamen Wärterin im KZ entwickelt. Weil sie ehrgeizig ist, schüttelt sie die anfänglich starken Skrupel ab, und steigt in der Hierarchie sehr schnell auf.

„Auch im Schneiderinnenberuf gab es Reste und Ränder, die dem Anspruch nicht genügten, Teil eines größeren Vorhabens zu sein. Das heute angelieferte Material ist in miserablem Zustand. Die Körper ausgemergelt und geschwächt, in Fetzen gehüllt. Manche tragen nicht einmal Schuhe. Das geht so nicht.“

Und da ist auch Kitty, Jüdin, auf der Flucht mit zwei Kindern, die sie versucht bei Verwandten in Sicherheit zu bringen, die selbst aber ins Lager gebracht wird. Ihre Schilderungen, der Zustände als Gefangene, erfahren wir aus einem Interview, das nach Kriegsende mit ihr, der Überlebenden, geführt wird. Der Interviewer fragt oft nach, da er das schreckliche Leiden kaum nachvollziehen kann.
Lotte, Jüdin aus Linz, (Kitty ist ihre Tante), das junge Mädchen, das eigentlich Tänzerin und Schauspielerin werden will, flieht mit den Eltern gerade noch rechtzeitig auf ein Schiff nach Shanghai. Doch auch dort wird die Familie zunächst in einem (Aufnahme-)Lager leben. Das Klima und die Zustände in der Enge des Lagers macht vor allem dem Vater zu schaffen, der erkrankt und bald stirbt. Lotte verdient zunächst Geld, in dem sie in einem Varieté als Sängerin auftritt. Bald findet sie und auch ihre Mutter Arbeit im Krankenhaus. Doch als Japan in den Krieg eintritt, wird es schwierig, werden sie plötzlich auch hier zum Feind, weil sie „Deutsche“ sind.
Francine lebt in Paris als Varietékünstlerin, wird aber bald auch als Schauspielerin gebucht. In Babelsberg zum Beispiel. Sie orientiert sich an Rollen, wie sie Marlene Dietrich spielte. Sie wird bekannt, ja berühmt. Sie verkehrt in Künstlerkreisen unter anderem mit Cocteau und Celine. Und sie liebt einen Offizier aus Deutschland, der in Paris als Besatzer stationiert ist. Durch ihn fehlt es ihr auch im Krieg an nichts. Scholl orientiert sich bei der Figur der Francine an der tatsächlichen Geschichte der Schauspielerin „Arletty“, wie ich aus dem Quellenverzeichnis erfahre.

„Francine weiß, dass sie sich hüten werden, ihr den Kopf zu scheren. Die berühmte dunkle Aufsteckfrisur zerstören. Diese Strafe blüht nur einfachen Frauen. Nicht der bestbezahlten Filmschauspielerin Frankreichs. Die Frauen müssen büßen für das, was die Franzosen während des Kriegs erlitten. Scheren sie ihnen die Köpfe, wachsen den Männern anscheinend die Eier nach, die sie verloren haben als Besiegte.“

Ich empfehle dieses Buch sehr. Es bildet ab, was Frauen schaffen, aber auch was sie erdulden müssen in Ausnahmesituationen, im Krieg – im Guten wie im Bösen. Im Anhang finden sich die Quellen, die aufschlussreich zeigen, welche wahren Personen hinter den Romanfiguren stehen. Ich wünsche Sabine Scholl viel mehr Leser für diesen so starken und gekonnt konstruierten Roman, der meiner Ansicht nach viel zu wenig präsent ist in den Kritiken. Ein Leuchten!

Das Buch erschien bei weissbooks. Eine Leseprobe gibt es hier: https://weissbooks.com/