Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter Suhrkamp Verlag

DSCN1158

„An einem Sonntagmorgen im August machten meine Eltern einen Spaziergang durch den Jardín Botánico. Als sie nach Hause zurückkehrten, legten sie sich krank ins Bett.“

So beginnt Anna Katharina Hahns neuer Roman, fast wie im Märchen „Es war einmal …“ und mit diesen zwei Sätzen nimmt die Geschichte ihren Lauf … Und was zunächst so unspektakulär beginnt, wird wahrhaftig märchenhaft und gleicht einer „Heldinnenreise“ auf dem Weg ins Erwachsensein. Mich erinnerte die Story in ihrer Inszenierung auch an Filme von Almodóvar oder Saura.
In Interviews erzählte Anna Katharina Hahn, dass die Idee zu diesem Roman aus einem ihrer Träume entstanden ist. Und es ist auch nachvollziehbar, aus solchen starken Bildern eine Geschichte zu kreieren. Es ist ausgesprochen gut gelungen – es ist ein überaus faszinierendes, spannendes, vielschichtiges und skurriles Buch. Ein Leuchten!

Die Handlung spielt im heutigen Madrid. Anita, um die 20, hat studiert und ist eigentlich Grundschullehrerin, doch ohne Arbeit. Ihre Lage ist prekär. Sie lebt noch bei ihren Eltern Blanca und Oscar, einem unkonventionellen Paar, da sie sich keine eigene Wohnung leisten kann. Mit ihrer Clique, genannt „La Plaga“, alles gut ausgebildete, studierte junge Menschen, die dennoch keine Arbeit finden, trifft sie sich draußen in Parks, denn für Kneipen oder gar Restaurants reicht das Geld nicht, sie erzählen sich Geschichten oder sie gehen zu Demos, um zumindest etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen. Der ältere Bruder ist bereits nach Deutschland gegangen, um dort an der Uni eine Anstellung zu finden, tatsächlich muss er sich als Bauarbeiter verdingen, was er den Eltern aus Scham verschweigt.
Katharina Hahn schildert sehr deutlich die wirtschaftliche Situation in Spanien, die noch viel gravierendere Aussichtslosigkeit spiegelt, als hierzulande.

An jenem Morgen also sind die Eltern krank. Deshalb fährt die Familie nicht wie üblich in das winzige Ferienhaus auf dem Land. Anita lässt sich durch die sommerlich heiße Stadt treiben, doch als sie, wieder zuhause, nach den Eltern sieht, sind sie tot.
Wie gelähmt und vollkommen unfähig sinnvolle Handlungen auszuführen und das zu tun, was man üblicherweise tut, kleidet sie die Eltern schließlich an und probiert selbst eines der Kleider ihrer Mutter, schminkt sich wie sie, bindet die Haare genauso und beginnt sich in die schöne Blanca zu verwandeln. Damit taucht sie allerdings auch gleich tief in das Leben und die Vergangenheit der Mutter ein und entdeckt Dinge, die sie niemals geahnt hätte.
Wer ist der Unbekannte, der ihrer Mutter SMS schreibt und ihr Geliebter zu sein scheint?
Wie kann es sein, dass die Nachbarin und die beste Freundin der Mutter sie für Blanca halten? Was sind das für Briefe, die im Schreibtisch des Vaters versteckt sind?

Anita hält sich zunächst aus Furcht vom Zimmer der Eltern fern, doch als sie es wieder betritt, bemerkt sie, dass die Eltern keineswegs den üblichen Weg allen menschlichen Fleisches gehen, sondern einfach nur schrumpfen. Klein wie Puppen werden sie im Laufe der Stunden und Anita zieht ihnen die Kleider der Puppen an, die sie einmal als Kind nach einer langen Krankheit geschenkt bekam. Sie erinnert sich auch wieder daran, dass es zu dieser Zeit eine Begegnung mit einem seltsamen Mann gab, und die Mutter sie plötzlich so oft allein zuhause ließ …

Und indem sie sich zeitweise in Blanca „verwandelt“, wird sie selbstbewusster. Nun ganz auf sich gestellt, erfährt sie nach und nach aus dem Vorleben der Eltern Begebenheiten, von denen diese nie erzählten, und die sie gar auch voreinander geheim hielten. Sie liest die aufbewahrten Briefe und verabredet sich schließlich als Blanca mit dem Geliebten der Mutter. Doch nicht nur die Mutter hatte ihre Geschichten, sondern auch der Vater, und offenbar hat der geheimnisvolle Schriftsteller Gert de Ruit, über dessen Bücher Oscar Rezensionen schrieb, ziemlich viel mit diesen Vorgeschichten zu tun. Wer ist dieser Mann, den man nicht zu Gesicht bekommt, von dem keiner weiß wie er aussieht und wo er sich aufhält, der, obwohl Deutscher zunächst vor allem in Spanien so großen Erfolg mit seiner Literatur hatte?

Klingt das alles etwas verwirrend? Keine Sorge! Beim Lesen passen schließlich alle Puzzleteile  zusammen und selbst wenn man sich zwischendurch einmal fragt, wie diese Geschichte wohl enden soll, findet die Autorin eine stimmige Lösung. Es gilt also, sich ihr anzuvertrauen und sich auf sie einzulassen. Ich verspreche ein auf jeden Fall außergewöhnliches Leseerlebnis …

Anna Katharina Hahn wurde 1970 geboren und lebt in Stuttgart. „Das Kleid meiner Mutter“ ist ihr dritter Roman, erschienen im Suhrkamp Verlag. Hier gibt es unter anderem eine Leseprobe:
http://www.suhrkamp.de/buecher/das_kleid_meiner_mutter-anna_katharina_hahn_42516.html

4 Gedanken zu “Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter Suhrkamp Verlag

Hinterlasse einen Kommentar