George Orwell/Fido Nesti: 1984 Graphic Novel Ullstein Verlag

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Vor einiger Zeit lief bei einem Themenabend „Demokratie“ der Film „1984“ in der SW-Version von 1956 im Fernsehen. Auch diese ältere Verfilmung verfehlte ihre Wirkung beim Ansehen nicht: Beklemmung angesichts der Aktualität. George Orwell schrieb seinen dystopischen Roman von 1946-48.

Wesentlich ausführlicher und noch weniger optimistisch ist der Roman zu lesen und auch diese Graphic Novel von Fido Nesti. Seine Bilder zum für diese Ausgabe angepassten Text sind eindrücklich, düster und teils drastisch. Die Farbpalette geht von Rot bis Schwarz in ihren jeweiligen Abstufungen. Der Band ist DIN A4 groß und der Buchblock in einen stabilen Karton eingebunden. Teilweise klassisch comicartig mit Sprechblasen zu den Dialogen, teilweise mit beschrifteten Einzelbildern. Manche Bilder sind ganzseitig groß und wirken entsprechend gruselig. Zwischendurch gibt es einzelne Kapitel ausschließlich mit Text, immer dann, wenn Winston aus dem verbotenen Buch liest. Dann erfahren auch wir, was es mit den drei großen Staaten und dem endlosen Kriegszustand auf sich hat. 

1984: Wir lernen eingangs Winston Smith kennen, den Hauptprotagonisten. Er lebt in London, das inzwischen Hauptstadt der Provinz Ozeanien ist. Das Land führt dauerhaft Kriege gegen die anderen zwei Provinzen der Erde. Big Brother ist die absolute, unantastbare oberste Instanz. Ihm gebührt aller Dank, er denkt für alle, er sieht alles. Im zerbombten London gibt es das Ministerium für Liebe, für Wahrheit, für Frieden und für Überfülle, die sich mit genau dem jeweiligen Gegenteil befassen. Winston gehört zur Gruppe der äußeren Partei. Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Winston hat in seiner Arbeit Nachrichten zu betreuen. Dabei muss er Nachrichten so verändert schreiben, dass das von der Partei unerwünschte durch Erwünschtes, sprich Lügen, ersetzt wird. Seine ganze Abteilung ist tagein tagaus mit dem „Verbessern“ der Nachrichten beschäftigt. Zuhause beginnt er Tagebuch zu schreiben, was nicht erlaubt ist und was nur gelingt, weil der Monitor von Big Brother, der alles sieht und der in jeder Wohnung installiert ist, eine blinde Stelle hat. Privatheit gibt es nicht mehr. Als eine Kollegin sich in Winston verliebt, suchen die beiden sich geheime Freiräume, um sich zu zweit unbeobachtet zu treffen, was jedoch irgendwann auffliegt, denn es mangelt in diesem System nicht an Denunzianten.

Beide werden verhaftet und es beginnt ein langes Martyrium. Winston weiß nicht mehr, ob Stunden, Tage oder Monate vergehen. Er wird in Einzelhaft gefangen gehalten und in Abständen immer wieder in die Folterkammer gebracht, wo er die schlimmsten Leiden erfährt und sein Wille gebrochen werden soll. Tatsächlich gelingt es sein Denken auszuschalten, nicht aber sofort sein Fühlen. Sein Folterknecht, einer aus der inneren Partei, kennt aber letztendlich Mittel und Wege auch das Fühlen auszuschalten und in einem letzten Schritt ist Winston sogar bereit seine große Liebe Julia zu verraten. Als nun vollkommen automatisch funktionierendes Wesen erhält er eine neue, niedrigere Arbeit und ist schließlich sogar überzeugt davon, Big Brother zu lieben. Selbst als er Julia noch einmal trifft und erfährt, dass auch sie ihn verraten hat, ändert sich nichts, beide sind füreinander verloren. Ein bitteres Ende.

Gerade im letzten dritten Teil geht es in den Bildern sehr schlimm zu, wie ich finde, die Gefängnis- und Folterszenen haben es in sich und sind nichts für schwache Nerven. Nesti zeichnet das zwar brillant und sehr vielschichtig in unterschiedlichsten Dimensionen, aber eben auch drastisch.

Mich hat die Lektüre tatsächlich sehr erschreckt, denn manches aus den ersten beiden Teilen des Buches empfinde ich gar nicht mehr als dystopisch, manches bildet sich schon derzeit in unserer Gesellschaft ab. Wo es bei Orwell noch die täglichen „Hass-Minuten“ gibt, wird in den sozialen Medien tagtäglich alles andere als nur 4 Minuten gehetzt. Wo es die strikte Trennung zwischen Parteiangehörigen, inneren und äußeren, mit entsprechenden Privilegien und dem normalen Volk, den Proles, die trotz anstrengender Arbeit in Armut und Elend lebt, gibt, macht sich in unserer Realität auch bereits eine Spaltung bemerkbar, eine Zweiklassengesellschaft, ein Arm oder Reich und kaum mehr etwas dazwischen. Und auch die Privatsphäre wird mehr und mehr durchleuchtet und überwacht, sei es durch die Algorithmen der sozialen Medien oder durch die neuen Gesundheitsapps und digitalen Zertifikate. Von Datenschutz kann vielerorts kaum mehr die Rede sein. Sogar die Gedankenpolizei scheint in unserer Gegenwart angekommen … Und über allen „Big Brother“. Wie hellsichtig Orwell war, ist schon sehr erstaunlich.

Im Anhang findet sich eine mehrere Seiten lange Appendix, die das „Neusprech“ erklärt, einer sehr einfach gehaltenen Sprache, die man sich als Literatur- und Sprachfreundin nicht wirklich wünscht.

Das Buch erschien im Ullstein Verlag. Es wurde aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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