Carl-Christian Elze: Freudenberg edition Azur/Voland & Quist

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„Freudenberg musste an seine eigene Zunge denken, daran, dass sie ihm lästig war; schon immer. Schon als Kind hatte er instinktiv begriffen: ohne Zunge keine Sprache und ohne Sprache keine falschen Sätze und ohne falsche Sätze keine falschen Gedanken und Gefühle.“

Ich war sehr neugierig auf den Debütroman von Carl-Christian Elze, liebe ich doch seine Gedichte so sehr. Zwei seiner Bände habe ich hier bereits auf dem Blog besprochen. Doch ich muss es sagen, wie ich es empfinde: Der Roman „Freudenberg“ hat für mich nicht die Stärke und Schönheit seiner Gedichte erreicht. Anfangs war ich noch gut dabei: ein 17-Jähriger, der mit den Eltern an die polnische Ostsee in Urlaub fährt und der sich schnell von seinen Eltern abkapselt. Der Vater sehr dominant, die Mutter zurückhaltend, Freudenberg selbst sich immer fort fremd fühlend in der Welt. An einem abgelegenen Strandabschnitt stößt er auf die Leiche eines Jungen, der ihm sehr ähnelt und er entscheidet sich, dessen Identität anzunehmen, die des polnischen Marek. Das versprach spannend zu werden.

Ich habe absolut nichts gegen surreale Szenarien oder gegen magischen Realismus, aber hier fehlte mir die Einordnung. Es gibt viele symbolisch aufgeladene oder traumartige Szenen, wiederholte Zeichen, verrätseltes Schweigen: Sei es die Farbe grün für das Wasser oder rot für die Haarfarbe, die immer wieder zu großen weißen Turnschuhe oder die blauen Beeren. Die Sprache wurde dann zum Halt für mich, gerade auch weil im Inhalt des Romans so viel von fehlender Sprache die Rede ist. Aber obwohl sie schön ist, ist sie bei weitem nicht so wunderbar und verzaubernd, wie sie das in Elzes Lyrik ist.

„Das Meer sah von hier oben viel elender aus als von unten. Es hatte auch keine einheitliche Farbe mehr, wie es vom Strand aus den Anschein erweckt hatte. Bis weit vor die Küste mischte sich in das fleckige Hellblau der Sandbänke noch etwas Grünes hinein. Es war ein schmieriger Grünton, der vielleicht dem Wunsch entsprach, anders zu sein, aber nicht der Fähigkeit dazu. Nur in der äußersten Ferne gab es ein verlässliches unantastbar dunkles Blau, das Freudenberg beruhigte.“

Vielleicht habe ich einfach nicht alles verstanden, hatte zu hohe Erwartungen, kann mich nicht (mehr) in einen 17-Jährigen einfühlen, aber die Hauptfigur, Freudenberg, die sich in der Geschichte eine andere Identität aneignet, mit dieser dann aber auch nichts anfangen kann, hat an mir vorbei gelebt und mich in ihrer „Beschreibung“ nicht genug angeregt. Fragen wurden aufgeworfen: Womöglich ist der Tausch der Identität gar kein wirklicher, sondern findet nur in der Phantasie oder im Traum des Helden statt? Ist es nur ein Versuch der Flucht aus der ungeliebten Elternwelt, aus dem Falsch-sein in dieser Familie, die aus Gründen nicht funktioniert? Sind es Traumsequenzen oder Wahnvorstellungen? Ist es wieder ganz anders, vielleicht eine Nahtoderfahrung? Der Schluss, immerhin, bietet mögliche Lösungen an. Bleibt mir nur noch zu sagen: Es werden viele Zigaretten geraucht in dieser Geschichte.

Ein interessantes Gespräch zwischen Verleger Helge Pfannenschmidt und Carl-Christian Elze hänge ich an. Hier habe ich auch festgestellt, dass der Roman, vorgelesen vom Autor für mich besser funktioniert, als selbst gelesen. Und auch die Hintergründe der Entstehung erklären mir manches und einiges erscheint für mich in neuem Licht.

Der äußerlich schön gestaltete Roman erschien in der Edition Azur. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Nun freue ich mich auf den Sommer, wenn der neue Lyrikband Elzes mit dem schönen Titel „panik/paradies“ im Verlagshaus Berlin erscheint.

Damit ich aber wieder etwas Boden gut mache, lieber Carl-Christian Elze, verlinke ich hier – und empfehle leuchtend – die beiden Lyrikbände:

Carl-Christian Elze: langsames ermatten im labyrinth Verlagshaus Berlin

Carl-Christian Elze: Diese kleinen, in der Luft hängenden, bergpredigenden Gebilde Verlagshaus Berlin

Ein Gedanke zu “Carl-Christian Elze: Freudenberg edition Azur/Voland & Quist

  1. Ich mag deine Rezension. Sie vermitteln immer stark den Leseeindruck. Das Zitat fand ich seltsam unausgewogen. „Schmierig“ hat mich überrascht, und die Einheitlichkeit einer Farbe – das Meer ist doch schillernd, bewegt, tief und seltsam ruhig in seiner Bewegung und Vielseitigkeit. Ich schau mir mal die Gedichte an. Viele Grüße!

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