Akwaeke Emezi: Süsswasser Eichborn Verlag

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„Aber ich bin nicht gänzlich gegen den Wahnsinn, nicht, wenn er mit dieser Form der Klarheit einhergeht. Die Welt in meinem Kopf war bisher viel realer als diejenige außerhalb – vielleicht ist das die exakte Definition von Wahnsinn, wenn ich darüber nachdenke.“

Über das Thema Traumatisierung und Missbrauch in der Kindheit ist ja schon oft geschrieben worden, aber noch nie auf diese Art und Weise. Noch nie aus solcher Perspektive, noch nie in einer solch poetisch-feinen Sprache. Wenn die verschiedenen inneren Anteile einer Person geisterhaft eine Geschichte erzählen, ist das ungewöhnlich. Hier bleibt nichts eindimensional. Die nigerianisch-tamilische Autorin Akwaeke Emezi nennt das in ihrem Roman „die andere Seite“, was ich viel stimmiger finde, als von Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Die Erlebnisse aus der Kindheit werden abgespalten und verdrängt. Doch jeder Anteil erhebt in diesem Roman seine Stimme. Wenn der Schutzmechanismus um zu überleben, die Verdrängung, nicht mehr funktioniert, zeigt sich die psychische Krankheit. Nicht immer ist das nur pathologisch zu sehen, sondern weist auf eine Verbindung mit etwas Höherem hin. Darauf läuft Emezis Geschichte hinaus, die auch eine Art der spirituellen Entwicklung aufzeigt. Deshalb freue ich mich riesig über diesen Roman. Die Autorin schreibt mit einer Selbstverständlichkeit über dieses So-Sein, das es für mich nichts mehr Schreckhaftes hat. Erst kürzlich ließ George Saunders in „Lincoln im Bardo“ die Geister der Toten sprechen. Doch konnte er mich rein gar nicht damit überzeugen. Das sieht hier bei Emezi ganz anders aus: Sie kann mich sprachlich begeistern, sie schreibt in einem besonders ausdrucksstarken, sehr eigenen Stil.

Emezi erzählt davon, das es nicht leicht ist mit solch einem Makel oder einer Gabe durchs Leben zu kommen. Ihre Heldin ist eben nicht „normal“, versucht den Schein nach außen hin aber unbedingt zu wahren. Ada kommt in diesem Roman selten selbst zu Wort. Häufig erzählen die Ogbanje, die Geister die in ihr, durch sie leben. In mehreren Schüben baut sich die Ver-rücktheit auf, bis die große Gegenspielerin des Göttlichen, Asughara im „Marmorzimmer“, in Adas Kopf auftaucht, und sich in deren Leben unangenehm und penetrant einmischt. Auslöser ist die Vergewaltigung durch einen Kommilitonen.

„Ogbanje sind Schwellenwesen – Geist und Mensch, gleichzeitig beides und keines von beidem. Ich bin hier und doch nicht hier, real und unwirklich, Energie, in Haut und Knochen gepresst. Ich bin meine anderen; wir sind eins, und wir sind viele.“

Wir begleiten Ada in kurzen Sequenzen durch ihre Kindheit, später durch ihre Studienzeit. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter im Ausland gearbeitet, die Kinder zunächst allein in Nigeria zurückgelassen. Unter der Obhut des älteren Bruders, kommt es wiederholt zu Gewalt und Mißbrauch. Später schickte sie ihre Kinder zum Studium, Ada in die USA, an eine Provinzuniversität in Virginia. Mit Selbstverletzungen durch Ritzen und mit unzähligen Affären versucht Ada sich selbst zu spüren, später sogar mit einem Selbstmordversuch auf die „andere Seite“ zu gelangen.

„Und so bricht man ein Kind, wisst ihr. Schritt Nummer eins: Nimm ihm die Mutter weg.“

Als schließlich auch noch ein eher zarter, junger männlicher Geist namens Saint Vincent in ihr auftaucht, wandelt sich Ada in ein Richtung Männlichkeit driftendes Wesen, fühlt sich zu Frauen hingezogen und lässt sich sogar die Brüste verkleinern. Zu echter Nähe kommt es jedoch nie, vor zuviel Gefühl und Intimität scheut Ada zurück. Obwohl sie glaubt, zu lieben, bleibt jede Beziehung an der Oberfläche. Doch auch Yshwa, Jesus Christus, bleibt bei ihr, oft im Kampf um die Vorherrschaft über Adas Geist und Verstand.

Die Geschichte, über der immer die Frage schwebt „Wer bin ich wirklich?“, endet mit einer Art Erlösung, einer Befreiung. Ada darf sich selbst erkennen, auch wenn es ein langer Weg ist. Die Angst vor dem Leben, vor dem eigenen Inneren, weicht mehr und mehr, je weiter sie in ihre Herkunft eintaucht, ihre afrikanischen Wurzeln und die Stärke darin erkennt. Ein Leuchten!

Der Roman der 1987 geborenen Akwaeke Emezi erschien im Eichborn Verlag. Übersetzt wurde er aus dem Amerikanischen von Annabelle Assaf und Senthuran Varatharajah, der selbst tamilische Wurzeln hat und einen gleichfalls sehr empfehlenswerten Roman namens „Vor der Zunahme der Zeichen“ geschrieben hat. Eine Leseprobe zu Süsswasser gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Sätze & Schätze.

Octave Mirbeau: Diese verdammte Hand Weidle Verlag

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Ein Mann besucht ein wenig widerwillig einen alten Freund, einen Künstler. Dieser erscheint ihm verwirrt, gar verrückt. Als Erklärung seines Zustands erhält er folgende Aufzeichnungen zu lesen:
Darin geht es um einen höchst sensiblen Menschen, dessen Dasein schon von Kindesbeinen an von Schwermut und Traurigkeit geprägt ist.. Eine Familie, die ganz und gar nicht versteht, was mit diesem Jungen bloß los ist, warum er nicht funktioniert. Die ganze Kindheit hindurch hatte man ihm seine Empfindsamkeit, seine Phantasie ausgetrieben und nach dem Collége waren dann auch die Reste jeglichen Eigensinns verloren. Fortan trudelt er verwirrt und planlos durchs Leben, bis er den Maler Lucien kennenlernt.

„Eines musst du dir bewusst machen: Eine Landschaft … eine Figur … ein beliebiger Gegenstand … all das existiert nicht an sich. Es existiert bloß in dir. Du stellst dir vor, daß es Bäume gibt, Ebenen, Flüsse, Meere. Weit gefehlt, mein Freund … Nichts von alldem gibt es, jedenfalls letztlich.“

Mirbeau legt den Maler Lucien nach dem Vorbild Vincent van Goghs an. Mirbeau war auch der einzige, der zeitlebens zwei Gemälde von van Gogh kaufte. Er selbst war Schriftsteller und eine schillernde, gleichzeitig kluge und kritische Gestalt der französischen „Belle Époque“. Eines seiner bekanntesten Bücher war „Tagebuch einer Kammerzofe“, eine Kritik an der Bourgeoisie, das von Jean Renoir und später von Luis Buñuel verfilmt wurde. Es lohnt sich Mirbeau neu zu entdecken.
Wenn van Gogh wirklich so klug und ganzheitlich dachte, wie Mirbeau ihn in dieser Geschichte schildert, war er in der Tat ein verkanntes Genie …

In „Diese verdammte Hand“ wird sich der Maler Lucien aus Selbstzweifel am Schluss seine „verdammte“ Hand absägen, die Hand die den Pinsel führt, die aber den neuzeitlichen Ideen und kreativen Ergüssen dieses eigensinnigen Künstlergehirns scheinbar nicht hinlänglich folgen will. So verblutet er in jener einzigen Nacht, die sein ergebener Freund, oben genannter Sensibler, durchschläft. Zuvor hatte er jede Nacht über ihn gewacht, aus Angst um ihn, der ihm immer verrückter und wahnhafter erschien und dessen Kunst auf ihn mehr als verstörend wirkte. Lucien hatte ihn zum Schreiben angeregt, doch was aus seiner Feder kommt, ist nicht genügend, viel zu vorhersehbar, wie ihm Lucien vorhält. Die Leidenschaft, die Lucien hat, fehlt ihm gänzlich. Er ist ein ängstlicher Mensch, in Liebesdingen vollkommen naiv, wie sich im Falle Fräulein Julias zeigt, und dennoch ein treuer Freund, der jegliche Eskapaden mitmacht, weil er sich sonst vollkommen verloren und einsam fühlt. Was aus ihm nach Luciens Tod wird, steht in den Sternen. Der Autor verrät es nicht …

„Ist Kunst wahrhaftig diese Qual, diese Hölle? Würde auch ich – der ich sie mir in meinen, erneut unsagbar wirren Träumen tatsächlich als eine solch große Linderung vorstellte, ein solches beispielloses und phantastisches und unendliches Paradies, in dem der Mensch nichts anderes erschafft als das Glück – in diesem fortwährenden Wehklagen leben, mit diesem vor Schmerz verzogenen Gesicht und diesem zuckenden Auge, welches der fahle Blitz des Wahnsinns getroffen hat?“

Das Buch erschien im Weidle Verlag in bekannt schöner Gestaltung, hinter der wie immer Friedrich Forssman steckt: Feinstes Papier, fadengeheftet. Papier und Schrift werden im Impressum genannt. Übersetzt wurde es von Eva Scharenberg. Zudem gibt es ein aufschlussreiches Nachwort von Pierre Michel. Mehr über Verlag und Buch findet man hier.
Eine weitere Besprechung findet man bei Birgit von Sätze & Schätze.