Marion Poschmann: Chor der Erinnyen Suhrkamp Verlag


„Das Ganze muss ein Irrtum sein, eine Verwechslung. Schon seit Tagen war sie Opfer eines unerklärlichen Versehens geworden, in das auch ihr Mann verwickelt blieb.“

Marion Poschmanns neuer Roman ist eine Ergänzung zum Vorgängerroman „Die Kieferninseln“. Diesen mochte ich sehr und habe ihn während der Lektüre stellenweise noch einmal quer gelesen, damit ich die Anknüpfungspunkte finde. Der neue Roman steht aber auch gut für sich allein. In „Die Kieferninseln“ geht es um einen Mann, der aus seiner Ehe aufgrund eines Traums eines Morgens ausbricht und nach Tokio fliegt. In „Chor der Erinnyen“ begegnen wir nun seiner Frau, die sich zuhause im Einfamilienhaus im Ruhrgebiet wundert, wo er abgeblieben ist. Hatte sie vergessen, dass er zu einem Kongress fahren wollte? Ist er einer, der plötzlich verschwindet und sich nicht mehr meldet? Doch zwei kurze Telefonate gab es ja, die allerdings nichts zur Klärung beitrugen. Mathilda, die als Mathematik- und Musiklehrerin an einem Gymnasium arbeitet, macht sich Gedanken, obwohl sie eigentlich so locker und emanzipiert sein will, dass sie dem anderen doch nicht hinterher schnüffeln muss, dass er sich schon noch erklären wird. (Ebenso denkt Gilbert in Japan, dass doch eigentlich Mathilda sich melden müsste.)


Zwei alte Schulfreundinnen Mathildas tauchen auf und brauchen ihre Aufmerksamkeit. Eine davon, Birte, drängt sich geradezu auf. Letztlich finden sie sich zu dritt in Olivias kleinem Ferienhaus im Wald wieder. Mathilda hat so ihre Probleme mit den beiden anderen. Am ersten Tag nach einer Wanderung zieht sie sich zurück, während die beiden anderen mit einer Wanderbekanntschaft einen feuchtfröhlichen Abend verbringen. Doch schon am nächsten Tag ist der Ausflug vorbei, denn Flammen schlagen hoch. Der umgebene Wald brennt. Sie sind in Gefahr.

Nach ihrem Ausflug treffen sich die drei Frauen nach Wochen wieder. Olivias Hütte ist dem Waldbrand zum Opfer gefallen und es stellte sich heraus, dass auch der umgebende Wald ihr Eigentum ist. Hat jemand den Brand gelegt? Olivia will die Katastrophe in Kunst verwandeln und fordert die beiden Freundinnen auf, erneut mit in den Wald zu kommen. Es wird mystisch und geheimnisvoll …

„Sie selbst sah sich lieber als Einzelwesen, nicht als Teil einer Gruppe, aber sie scharte pflichtschuldig Leute um sich, sie verabredete sich, war umtriebig, denn es erzeugte nur Misstrauen, wenn man sich dem üblichen Sozialleben entzog.“

In den Zeiten, in denen Mathilda alleine ist, scheint sie sich zu verändern. Ihre Körperlichkeit scheint zu schwinden, Körpergrenzen zu verwischen. Selbst im Unterricht wird sie nachlässiger, beginnt in Gedanken zu versinken, obschon sonst äußerst korrekt. Kurze Erinnerungsspuren führen in die Kindheit, seit der die Freundschaft mit Birte besteht. Wir begegnen Mathildas Mutter, die hellseherisch begabt ist und die als junge Frau für kurze Zeit vom Geheimdienst angeworben wurde. Später allerdings wird sie „psychisch labil“, wie man damals so sagte, sicher ihrer Hochsensibilität geschuldet. Mathilda, die eigentlich so rational und nüchtern (und vermutlich auch hochbegabt ist) ist, scheint plötzlich einen Hauch davon geerbt zu haben, sie sieht ihre Freundin Birte immer wieder, obwohl sie gar nicht da ist und hat seltsame Ahnungen. Immerhin sieht sie Lebende und keine Verstorbenen, wie ihre Mutter.

„Und sie selbst fand noch immer nicht in die kreisenden Bewegungen des Smalltalks hinein, sie begriff den Reiz nicht, sie langweilte sich. Es ging um den Austausch von Energie, nicht von Informationen, wo viel war ihr klargeworden über die Jahre hin, in denen sie am Rand solcher Runden gestanden und sich unwohl gefühlt hatte, es ging um eine Art von Kontakt, die sie nicht schätzte, ja, die ihr kindisch vorkam.“

Marion Poschmanns Roman bleibt mir schlussendlich ein Rätsel, aber im guten Sinn. Die schöne Sprache trägt, was rätselhaft bleibt. Und mir persönlich ist die Hauptfigur in ihrer Art sehr nah, obgleich sie eigentlich eher unnahbar wirkt. Glaubt man anfangs noch einen Inhalt, eine strukturierte Geschichte zu erkennen, verliert sich diese nach und nach. Leser, die plotorientiert lesen, werden hier nicht froh werden. Obwohl sich die Geschichte durchaus entwickelt, aber eher im Inneren der Hauptfigur.

„Sie hatte Angst. Etwas riss sie nach hinten, ins Gestern und Vorgestern, in den Strom der Jahre, die sie hinter sich zu haben glaubte,, die aber immer noch eine Wirkung auf sie ausübten, sie hinterrücks durchdrangen und sie in eine unerfreuliche Spannung versetzten.“

Poschmann legt eine Menge mythologische Fährten, die ich ehrlich gesagt auch nicht alle aufdröseln konnte. Natürlich geht es um die Erinnyen, die Rasenden, die drei Furien. (Wikipedia: Sie stellen die personifizierten Gewissensbisse dar. Im matriarchalen Kontext gelten sie als Verteidigerinnen mutterrechtlicher Prinzipien. Sie stehen im Zusammenhang mit Totenkult und Fruchtbarkeit.) Zwischen dem Romantext befinden sich immer wieder poetische versartige Textstücke, Chöre, die wohl zum Teil an Zitate aus dem Tao Te King und einem -Theaterstück angelehnt sind, wie man eingangs im Impressum erfährt. Man kann diese Zeilen als eine Art Zusammenfassung des vorhergehenden Kapitels lesen.

„Sonst geschah nichts. Es gab keine Handlung.
Nur flackernde Inseln im Raum, unvollständige
Inseln, die als Dinge erscheinen …“

Lyrikfreunden wird das gefallen. Überhaupt glänzt Marion Poschmann wieder mit einer zauberhaften Sprache, der es an bunten und ausgefallenen Wörtern nicht mangelt. Die Geschichte hat mich mitunter an Olga Tokarczuks „Empusion“ erinnert, in dem ja auch Waldgeistinnen spuken. Rätselhaftes Leuchten!

Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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