Viel zu wenig bekannt ist die 1930 in Irland geborene Autorin Edna O‘ Brien hierzulande. Ihr letzter Roman „Die kleinen roten Stühle“, erschienen im Steidl Verlag hat mich zutiefst beeindruckt. Daher war klar, dass ich auch den neuen Roman lesen möchte. Edna O‘ Brien beschäftigt sich mit sozialkritischen und politischen Themen und richtet den Blick dabei explizit auf Frauen. Ihre Romane lösten in den 60er Jahren in ihrer Heimat Skandale aus. Diesmal geht es um die den Tatsachen entsprechende Entführung von über 276 Schulmädchen durch Boko Haram in Nigeria im Jahr 2014. Bewundernswert, dass die heute 90-jährige Autorin noch vor 3 Jahren selbst nach Afrika reiste, um für ihr Buch zu recherchieren.
„Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr. Ich rieche. Bin voller getrocknetem, verkrustetem Blut, und mein Kleid ist zerfetzt. Mein Inneres ist ein Morast. Eine Getriebene in diesem Wald, den ich sah, als in jener einen schrecklichen Nacht meine Freundinnen und ich aus der Schule entführt wurden.“
Es ging überall durch die Presse und bis heute sind nicht alle Mädchen aus den Fängen ihrer islamistischen Entführer befreit. O‘ Brien erzählt von einem Mädchen, das es geschafft hat zu fliehen. Es geht um die 15-jährige Maryam. Ausgehend von Zeugenaussagen entwickelt die Autorin eine grauenhafte Szenerie über das, was sich in den Lagern der Anhänger der Boko Haram-Bewegung abspielt. Den entführten Mädchen wurden zunächst religiöse Glaubenssätze eingetrichtert. Die christlichen Mädchen sollten sich zum Islam bekennen. Im Anschluß daran hatten sie den Frauen im Lager als Dienstmägde zur Verfügung zu stehen, die Männer benutzten sie als Sexsklavinnen. Bevor sie in den „Heiligen Kampf“ zogen, kam es zu Massenvergewaltigungen. Als Maryam schließlich zwangsverheiratet wird, wird sie kurz darauf schwanger und eine Tochter kommt zur Welt. Bei einem Angriff auf das Lager kann Maryam im Chaos des Gefechts mit ihrem Baby und ihrer Freundin Buki fliehen.
Doch auch die Flucht durch undurchdringlichen Wald und menschenfeindliche Wüste bleibt ein Kampf ums Überleben, den Buki nicht überlebt. Von den Frauen eines Nomadenstammes gerettet und gesund gepflegt, gelangt Maryam schließlich an einem Stützpunkt an einen Offizier, der ihre Geschichte glaubt und sie in die Stadt transportieren lässt. Dort wird sie später mit großer Geste offiziell empfangen als mutige Geflüchtete und sieht auch ihre Mutter wieder. Doch auch in ihrem Heimatdorf findet sie keine Ruhe und bleibt Außenseiterin. Die Mutter hat einen neuen Mann und die Familie behandelt Maryam wie eine Aussätzige und verbannt ihre kleine Tochter, weil sie ein Kind der Gewalt, ein Bastard ist.
Erst als sich eine frühere Bekannte, die Ordensschwester Angelina um Maryam bemüht, scheint sich ein neues, friedvolleres Leben abzuzeichnen. Maryam gewinnt wieder Selbstvertrauen und macht sich auf den Weg, ihr Trauma zu verarbeiten.
Edna O‘ Brien hat mit diesem Roman ein wichtiges Zeichen gesetzt. Sie gab denen eine Stimme, die in unserer Gesellschaft fast immer stumm und unerhört bleiben. Geschickt macht sie aus biografischen Daten und erschütternden Fakten einen großen Roman, in den sie auch immer wieder wie nebenbei die Stimmen weiterer verlorener Menschen, allesamt Opfer eines unsäglichen Krieges, einfügt.
Der Roman erschien im Hoffmann & Campe Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Eine weitere Rezension findet sich auf dem Blog Sätze & Schätze.