Das Alphabet des Feuers – Wolfgang Schiffer liest Gedichte aus Island Hörbuch Elif Verlag

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Viele der Gedichte dieses Hörbuchs kenne ich schon. Auf dem Foto oben sieht man drei der Gedichtbände, die auch auf den CD`s zu finden sind. Ich besitze sie seit Erscheinen und habe sie auch bereits hier auf dem Blog besprochen. Ein Band ist ganz neu im Elif Verlag erschienen und auf einer CD gibt es Gedichte von Jón úr Vör, dessen Gedicht „Das Dorf“ fast als eine Art Klassiker auf Island gilt. Die 5 CD`s bieten eine schöne Auswahl von Gedichten aus mehreren Generationen. Von der 1992 geborenen Fríða Ísberg über den 1971 geborenen Ragnar Helgi Ólafsson, über die 1958 geborene Linda Vilhjàlmsdòttir, über den 1948 geborenen, 2017 gestorbenen Sigurður Pálsson bis zum 1917-2000 lebenden Jón úr Vör spannt sich der Bogen. Wolfgang Schiffer, der die Gedichte eingelesen hat ist ein großer Island-Literaturkenner. Im der CD beiliegenden Folder erfährt man, wie sich Schiffers Island-Faible entwickelte. Einen guten Anteil daran hat mit Sicherheit der Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness, den Schiffer 1982 für ein Interview zu seinem 80. Geburtstag besuchte, das etwas ungewöhnlicher verlief als erwartet. Wolfgang Schiffers Stimme zu lauschen, bei einer heißen Tasse Tee und bei Regenwetter kann ich nur empfehlen. Der dunkle, warme Wohlklang lässt einen das Außen vergessen. Und Wolfgang Schiffer ist souverän genug, den Zuhörenden nichts vorzuspielen, sondern allein die Texte wirken zu lassen. Ein wunderbares Winter/Weihnachtsgeschenk, würde ich sagen.

Mit Jón úr Vör will ich beginnen, denn er ist einer der Vorreiter der modernen isländischen Dichtkunst. Er begann sich vom klassischen Versmaß abzuwenden und freie Verse zu schreiben. So gehört er zu den Atomdichtern, die die isländische Dichtung erneuerten und der großen Vielfalt der heutigen Lyriker den Weg bereitete. Mehr darüber auf Wolfgang Schiffers Blog „Wortspiele“. Ich muss zugeben, dass mich seine Gedichte beim Zuhören auch am tiefsten berührt haben, vielleicht weil ich die anderen Dichter schon kannte und gelesen hatte, vielleicht aber auch, weil die Gedichte aus dem Alltag eines Dorfes auf Island erzählen und somit ein wunderbares Bild über das Leben in den vierziger/fünfziger Jahren geben. Vielleicht ist es auch in der Tat so, dass das Hören, das vorgelesen bekommen eines Verses, einen anders trifft, als etwas selbst Gelesenes. 

Den neuen Band „Lederjackenwetter“ von Fríða Ísberg kannte ich bisher noch nicht und ich bin überrascht von dieser virtuosen Stimme. Es ist die Lyrik einer jungen Schriftstellerin, die in ihren Gedichten kleine Geschichten erzählt, die wir womöglich auch alle kennen. Von Kindheitserinnerungen an den Vater, der der 6jährigen die erste Lederjacke schenkte, später, das Freitagabend zurechtmachen und ausgehen, die jugendliche Melancholie aus unerfindlichen Gründen, die Zweifel, die versteckte Empfindsamkeit, die man nicht zeigen will bis zum Versuch der Selbstfindung und Ich-Verankerung in der Welt. Es sind starke, direkte Texte, die gleichzeitig von einer großen Einfühlsamkeit zeugen. Immer wieder taucht der Spiegel als Symbol auf für Licht und Schatten, für Trauer und Selbstreflexion. Oft ist die Lederjacke aus dem Titel des Bandes gleichbedeutend einer Schutzhaut vor dem Außen, aber auch ein Zeichen der inneren Stärke und der Willenskraft. Je öfter ich diese Gedichte höre, desto mehr finde ich eine Verbindung zu ihnen, desto mehr beginnen sie zu leuchten.

„Ich möchte einen Hilfsfond gründen, zu Gunsten der Empfindsamkeit
genug sammeln, so dass die Empfindsamkeit endlich eine Stärke sein darf
eine blassbleiche aderblaue Schönheit“

aus dem Gedicht „Moralfrau“

Die 3 weiteren Dichter, dieser schönen Auswahl kenne ich bereits und doch war es ein anderes, ein Neu- oder Wiederentdecken, denn ein Gedicht entfaltet sich laut gelesen auch ganz anders.

Besonders gefallen hat mir beim Vorlesen auch der Band „Gedichte erinnern eine Stimme“ von Sigurður Pálsson. Pálssons Gedichte sind so, wie Gedichte für mich sein sollten. Nicht über die Maßen verrätselt und doch mit ungewöhnlicher Tiefe. Alle Gedichte haben ein ganz eigenes Gewicht. Mir fällt der Begriff wertvoll ein. Aber es sind die kleinen Werte. Sie sind zu finden in dem wundervollen Zyklus „Stimmen in der Luft„, die den Dichter zu einem Seher werden lassen, quasi als Medium des Winds. Dazu kommen die Nachdenklichkeiten und die Bewegung im Herzen, sehr innig und durchdrungen. Jedes einzelne Gedicht stellvertretend für ein Dichterleben. Wolfgang Schiffer interpretiert auch diese Stimme gekonnt. Zu meiner Besprechung:
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2019/04/22/sigurdur-palsson-gedichte-erinnern-eine-stimme-elif-verlag/

Ragnar Helgi Ólafssons Gedichtband mit dem wunderschönen Titel „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können„(der mir derzeit besonders aus dem Herzen spricht) ist für mich auch ein Paradebeispiel zeitgenössischer isländischer Lyrik. Seine Texte scheinen erst so harmlos leicht und dann! dann kommt die Wendung, die aus einem schönen ein unvergleichliches Gedicht macht. Es ist manchmal nur ein Wort, eine Schwingung zwischen den Zeilen. Nach jedem Umblättern kommt eine Überraschung, keine Sensation, das eben nicht, sondern ein hauchfeines Etwas, dass umhaut. Ólafssons Texte sind auf verschiedenen Ebenen zugänglich. Das macht sie so besonders und empfehlenswert, auch für diejenigen, die sonst kaum Zugang zu Lyrik finden. Auch hier: stimmig vorgelesen. Zu meiner Besprechung: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/11/10/ragnar-helgi-olafsson-denen-zum-trost-die-sich-in-ihrer-gegenwart-nicht-finden-koennen-elif-verlag/

Linda Vilhjálmsdóttir, die ihren Gedichtband „frelsi / freiheit“ nennt, hatte damit bereits großen Erfolg in Island. Ihre Texte sind sehr welthaltig. In einem einzigen strömenden Ton, teils anklagend, teils ermahnend, durchleuchtet sie unser heutiges Menschsein. Die 58-jährige Isländerin hakt nach und gibt sich nicht gleich zufrieden. Energisch, teils wiederholend und dringlich schiebt sie nach, ein gesellschaftskritisches Bild nach dem anderen. Wie sagt man so schön: Sie hält uns den Spiegel vor. Ich hatte vor einiger Zeit das Glück, sie lesen zu hören. Isländisch ist eine sehr eigene Sprache, sehr melodiös. Schön, dass es nun eine deutschsprachige Lesung gibt. Zu meiner Besprechung:
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/12/22/linda-vilhjalmsdottir-freiheit-elif-verlag/

Alle Bücher sind Grundlage der jeweiligen Lesung. Wolfgang Schiffer hat sie selbst übersetzt, zusammen mit Jón Thor Gíslason. Sowohl das Hörbuch als auch die Bücher erschienen im Elif Verlag.
(Bitte lieber Wolfgang, lies weiter isländische Gedichte ein!)

Ein schönes aufschlussreiches Interview mit Wolfgang Schiffer gibt es hier:

2 Gedanken zu “Das Alphabet des Feuers – Wolfgang Schiffer liest Gedichte aus Island Hörbuch Elif Verlag

  1. Liebe Marina, diese deine so umfangreiche Besprechung macht mich ganz verlegen! Und zugleich ist da, vor allem im Blick auf die Lyrikerinnen und Lyriker aus Island, die hier in Übersetzung zu hören und zu lesen sind, eine große, große Freude! Hab´ ganz herzlichen Dank für dieses so wunderbare „Rundumpaket“!

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