Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht Aufbau Verlag


„Wir sind die Nahrung der Zeit.“

Den bulgarischen Autor Georgi Gospodinov kannte ich bereits von seinem Kurzgeschichtenband „8 Minuten und 19 Sekunden“(zur Besprechung link unten). Er schreibt auch Lyrik. Für den aktuellen Roman Zeitzuflucht hat er den International Booker Prize 2023 erhalten. Die Idee, die er in dieser Geschichte durchspielt ist an sich eine ganz großartige. Es geht um eine Klinik, die Demenzkranke, die ja bekanntlich eher aus ihrem Langzeitgedächtnis heraus erinnern, in einen ihnen bekannten Raum aus ihrer Vergangenheit versetzt. Beispielweise wird ein Zimmer aus den 70er Jahren mit den entsprechenden Attributen eingerichtet, in dem der Kranke dann Zeit verbringen kann. Der Wiedererkennungseffekt scheint durchaus heilsam zu sein.

„Ununterbrochen produzieren wir Vergangenheit. Wir sind Fabriken für Vergangenheit. Lebende Maschinen für Vergangenheit, was sonst. Wir essen Zeit und produzieren Vergangenheit. Selbst der Tod ist keine Lösung. Der Mensch ist gestorben, doch seine Vergangenheit ist geblieben.“

Dies ist wieder so eine Geschichte, aus der ich unglaublich viele Sätze oder Zitate oder Ideen anstreichen und teilen könnte, weil sie so klug und/oder sprachlich so schön sind. Einige lasse ich hier einfließen. Zudem gewinnt die Story durch ihren unzuverlässigen Erzähler. Hier bleibt immer unsicher, ob der Protagonist gleich Erzähler ist, oder nur eine Erfindung für ein Buch oder umgekehrt.

Der Protagonist lernt bei einem Schreibseminar einen gewissen Gaustin (der wohl auch schon in Erzählungen Gospodinovs vorkommt) kennen. Er scheint ein sonderbarer, unsteter Mensch zu sein und doch bleiben die beiden zunächst durch einen Schriftverkehr verbunden. Schnell wird beim Lesen klar, dass Gaustin, wenn es ihn denn gibt, eine Art Zeitreisender ist. In der aktuellen Gegenwart hat er aber die Idee in einer Schweizer Klinik eine Etage als „Zeitzuflucht“ für demente Patienten einzurichten. Recht erfolgreich. Unser Protagonist ist zuständig für den Nachschub an typischen Gegenständen aus den letzten Jahrzehnten. Seien es Zigaretten einer längst verschwundenen Marke, alte Telefone oder Retrotapeten. So reist er herum, bis irgendwann Gaustin, sein Auftraggeber wieder verschwindet.

Gospodinov denkt dabei viel und klug und tief über die Zeit nach. Was ist Zeit, gibt es sie überhaupt. Wie wirkt sie sich aus. Ein Thema ist dabei das Altern, die Erinnerungen (wie wahr sind sie?) oder das Verschwinden derselben, wie etwa bei Demenzkranken. Hier beschreibt er beispielweise plausibel, dass sogar ein vielleicht früher geplanter Suizid später für einen Demenzkranken kaum mehr möglich ist. Nicht ganz klar wird, ob der Held in einem frühen Stadium selbst davon betroffen ist.

„Die Vergangenheit ist nicht nur das, was dir passiert ist. Manchmal ist sie jenes, das du nur erfunden hast.“

Als sich die Klinik für Zeitzuflucht als gelungenes Experiment erweist, breitet sich die Idee über die Schweiz hinaus aus. Und je weiter sie sich ausbreitet, desto mehr beginnen manche Staaten das Model auf politischer Ebene über ihre Länder hin auszuweiten. Was im Kleinen funktioniert, läuft im Großen natürlich aus dem Ruder.

„Überall wird es Häuser aus anderen Jahren geben, kleine Viertel, eines Tages werden wir auch Städtchen haben, vielleicht auch einen ganzen Staat der Vergangenheit. Für Patienten mit schwindendem Gedächtnis, Alzheimer, Formen von Demenz, was du willst.“

So reist der Protagonist in sein ursprüngliches Heimatland Bulgarien um das Vergangenheitsreferendum dort zu beobachten, um zu sehen, wie es funktioniert. Dort gibt es inzwischen wieder die bestimmte Partei, die es auch schon vor der politischen Wende im Osten gab, mit enormem Zulauf. Aber auch eine Partei, die sich aus noch älterem Volksgut speist, die Recken, die gleich in typischen Trachten und mit alten Gewehren aufwarten. Beim Treffen mit einem alten Bekannten, wird dem Protagonisten klar, dass er schleunigst das Weite suchen sollte, um nicht als „Politischer“ festgenommen zu werden, denn die alten „bewährten“ Konzepte laufen wieder an. Mit großer Unterstützung des Volkes. „Reenactment“ überall. Was das bedeutet wird schnell klar. Niemand hat etwas aus der Geschichte gelernt. Alles wiederholt sich.

Dieser Roman ist ein vielschichtiger, gedankenweitender, kluger, philosophischer und auch politischer Roman, dem ich unbedingt ein Leuchten zusprechen möchte. Er erschien im Aufbau Verlag und wurde übersetzt von Alexander Sitzmann. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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