Michela Murgia: Drei Schalen Wagenbach Verlag


Und das nächste Highlight gleich Anfang des Jahres bei den Neuerscheinungen!
Die Italienerin Michela Murgia hat Erzählungen geschrieben, die wie für mich gemacht sind. Ich habe die 150 Seiten in einem Zug durchgelesen. Ich spüre die Sprachlust, mit der sie geschrieben, ja komponiert sind. Mit einem unglaublichen Gefühl gleichzeitig sensibel und kraftvoll und seltsam witzig, mitunter ironisch, obwohl die Geschichten alle eher traurig oder melancholisch sind, obwohl viel Leid und Tragik aus ihnen spricht. Alle Figuren haben Charakter und wurden sehr gezielt in die jeweilige Geschichte platziert. Dass es von Geschichte zu Geschichte mehrere Verbindungen zwischen dem Personal gibt, hätte es meiner Meinung nach gar nicht bedurft. Alle Geschichten spielen in Rom.

„Wäre es Ihnen lieber, nichts von all dem zu können und dafür niemals krank zu werden? Einzeller beispielsweise entwickeln keine Neoplasien, aber sie sprechen auch keine Sprachen. Amöben schreiben keine Bücher.“

Der Tod und diverse Erkrankungen tauchen gleich in mehreren Geschichten auf. Sie werden aber von den jeweiligen Hauptfiguren so getragen, dass sie zwar Respekt einflößen, aber nicht ängstigen. Es beginnt gleich eingangs mit einem Patientengespräch, mit dem Befund eines Karzinoms, dass von der betroffenen erkrankten Person in Zaum gehalten wird, weil sie ihm einen besonderen Namen gibt. Denselben Arzt erleben wir wieder in einer späteren Geschichte, die die ganze Paranoia der Pandemie-Zeit aufzeigt. Der Arzt schottet sich und seine Familie vollkommen ab und doch trifft das Virus den kleinen Sohn. In einer vollkommen verrückten nächtlichen Aktion klebt der Arzt, der eine Sammlung mit antiken römischen Köpfen sein eigen nennt, diesen den Mund zu.

„Als sich abends die Balkone mit Leuten füllten, die tranken, sangen und unglaubwürdige Sympathiebekundungen für ihre Nachbarn von sich gaben, erkannte er die Menschen nicht wieder, die bei der letzten Mieterversammlung noch bis zehn Uhr abends aufeinander eingehackt hatten, obwohl es lediglich um die Renovierung des Aufzugs ging.“

Sehr schräg mutet die Geschichte an, die dem Buch den Namen gibt. Eine junge Frau beginnt nach einer schmerzhaften Trennung zu erbrechen und hört nicht mehr auf. Sie nimmt ab. Bald schon wird das Erbrechen zu einer Art Ritual, zu einer Reinigung, zu einer lustvollen Handlung. Nach sechs Monaten und vielen Kilos weniger, versucht sie durch eine Ernährungsumstellung die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Dazu gehört der Kauf von drei japanischen Schalen, die von nun an das einzige Geschirr sind, aus dem Reis, Gemüse und Fisch gegessen werden. Ein Weg der Gesundung ist gefunden. Einen kleinen Einblick bekommen wir, warum die Frau so über reagiert – der Grundstein lag wohl wie so oft in Geschehnissen der Kindheit.

„Nein, die Magenkrämpfe kamen von ganz allein, so bereitwillig, als kehrten sie nach Hause zurück. Ich brauchte nicht den Finger in den Hals zu stecken, denn ich erbrach mich aus dem Kopf heraus, nicht aus dem Magen. Ein intelligentes Erbrechen.“

Eben dieser Mann, der sich von obiger Frau getrennt hat, hat selbst ein Problem damit, denn er ist auch nicht mit sich im Reinen und fürchtet sich vor Begegnungen mit ihr an den Orten, an denen sie früher zusammen waren. So meidet er diese und geht dadurch kaum mehr aus dem Haus. Durch einen Freund schafft er es, diese Orte mit anderen besonderen Erfahrungen zu belegen und einen Neuanfang zu gestalten.

Die meiner Meinung nach allerbeste Geschichte, handelt von einer Frau, die keine Kinder mag. Das Paradoxe ist hier, dass sie dennoch zur Leihmutter wird, aber nur um einem Kindheitsfreund und seiner Frau zu helfen, die keine Kinder bekommen können. Großartig, wie Murgia hier ihre Heldin von den kleinen Quälgeistern erzählen lässt, die ihr etwa bei einem Langstreckenflug den letzten Nerv rauben. Oder von schlecht erzogenen Kindern, die in Restaurants aufsässig herumtoben und kreischen, wenn sie genussvoll ihr Essen genießen und sich unterhalten will. Es werden hier auch einige typische Situationen geschildert, in denen sich die Eltern dieser Kinder nicht minder nervig verhalten. Sehr aufdeckend. Ich liebe es.

„Wenn ich jetzt beim Check-in „Fensterplatz oder Gang?“ gefragt werde, antworte ich „Egal, Hauptsache neben keinem Kind“, und die Bodenstewardess hinter ihrem Lächeln ebenfalls ein Opfer, sieht mich verständnisvoll an. Wir wissen beide haargenau, es ist schlicht unmöglich, dass einem ein Menschlein von drei Jahren auf einem neunstündigen Flug nicht auf die Nerven geht und jede Mami, die ihren Goldschatz mit in den Flieger nimmt, weiß das auch. Sie setzt darauf, dass alle anderen ihr Kind so herzzerreißend süß finden, dass sie klaglos Unmengen an Belästigungen ertragen, die sich keiner ausgesucht hat.“

Alle Erzählungen mag ich, alle sind unglaublich gut geschrieben, obwohl grundverschieden und alle sind perfekt komponiert. Sie sind anrührend und aufregend, lebensnah und lebensgefährlich, und sie sind das beste Beispiel dafür, dass Kurzgeschichten keineswegs vor Romanen zurückstehen müssen. Die Letzte weist auf das Coverbild hin und erzählt von einem besonderen Abschiedsritual, das eine Frau nach dem Tod ihrer Schwester zelebriert. Ein helles Leuchten!

Es ist sehr traurig, dass von der sardischen Autorin keine neuen Texte mehr kommen. Sie starb 2023 im Alter von nur 51 Jahren an einer schweren Krankheit, die sicher auch diese Geschichten geprägt hat. Das Buch erschien im Wagenbach Verlag. Aus dem Italienischen übersetzt hat es Esther Hansen. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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