Gaea Schoeters: Trophäe Zsolnay Verlag


Trophäe war meine erste Neuerscheinung in diesem Jahr und hat gleich schon die Maßstäbe für dieses Lesejahr gesetzt. Mich zog hier das Cover magisch an. Und auch die Inhaltsangabe ließ mich sofort neugierig werden. Und ja, es ist ein wirklich besonderer Roman in der Landschaft der aktuellen Gegenwartsliteratur weit ab des Mainstream. Die flämische Autorin Gaea Schoeters wird ihren Roman sicher auch auf der Buchmesse mit Gastland Niederlande/Flandern vorstellen und ich wünsche ihr sehr viele Leser. Nun sind ein paar Wochen zwischen lesen und darüber schreiben vergangen und es fällt mir noch immer nicht leicht diese Geschichte in Worte zu fassen.

Es beginnt mit einem reichen weißen Geschäftsmann aus den USA, der zur Großwildjagd nach Afrika reist. Er möchte seine Trophäensammlung vervollständigen und die Big Five (Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard) abschließen. Seine Frau, die mit Antiquitäten handelt und anders wo auf Geschäftsreise ist, soll endlich einen ausgestopften Nashornkopf als Geschenk erhalten. Schon diese ersten Passagen finde ich extrem gruselig. Von Anfang an ist mir diese Hauptfigur mehr als unsympathisch. Mit welch einer Selbstverständlichkeit hier aufgrund von Reichtum über Leben und Tod entschieden wird, ist mir zuwider. Und so wird es mir als Leserin mit diesem Roman weiter ergehen. Entsetzen, Ungläubigkeit und dennoch Spannung und Interesse an den Gegebenheiten in diesem fremden Land, den Menschen, die so ganz anders mit ihrem Leben umgehen als wir und eben auch an dem Jäger, der dieses Mal mehr über die Jagd lernen muss, als er wollte.

„Verglichen mit den fragwürdigen Übernahmepraktiken und den semilegalen Monopolen, die er manchmal unter dem Radar der Finanzspürhunde verstecken muss, ist es ein Kinderspiel, den Erwerb einer Jagdlizenz für ein Spitzmaulnashorn vor ein paar fanatischen Naturschützern zu verbergen.“

Der Mann, der bezeichnenderweise auch noch Hunter heißt, hat schon mit seinem Vater gejagt, allerdings in heimatlichen Gefilden, der den Sohn zu einem harten, echten Mann erziehen wollte. Und so ist also nun das Nashorn dran, dass noch fehlt im Repertoire und bei einem erfahrenen Jagdveranstalter, den er schon lange kennt, scheint das ein Vergnügen zu werden. Doch es gibt Komplikationen. Wilderer kommen dem zahlenden Jäger in die Quere. Nur mithilfe erfahrender einheimischer Fährtenleser gelingt das Vorhaben letztlich. Ohne diese wäre Hunter aufgeschmissen. Doch zufrieden ist er nicht. Um den Jäger mit den Hindernissen und Misserfolgen zu versöhnen, schlägt der Jagdveranstalter, der Hunter schon sehr lange kennt, einen unvorstellbaren Deal vor. Statt Big Five nun Big Six … Ich ahne, was da kommt.

„Sie lesen die Fährten auch ganz anders als wir: Die Spur verrät ihnen nicht nur, was schon passiert ist, sondern auch, was noch passieren wird. Indem sie sich in das Tier hineinversetzen und fühlen, was das Tier fühlt, können sie voraussagen, wo es hingeht.“

Kleiner Abstecher zu verschiedenen Sichtweisen auf die Jagd in afrikanischen Ländern:
Ein Jagdveranstalter pachtet oder kauft bestimmte Flächen und verwaltet die darauf wild lebenden Tiere. Er hält die Region frei von Wilderern und schützt die Anzahl der Tiere durch gezielte Jagd mit zahlenden Kunden. Die Trophäen gehören den Jägern, das Fleisch geht an die Stämme, die im Jagdgebiet leben. Einheimische Männer finden Anstellung als Fährtenleser für die Jäger. Außerdem unterstützt er die Region mit dem Bau von Schulen, Krankenhäusern etc. Eine Win-Win-Situation!? Anderer Meinung sind viele Naturschützer und Ethnologen. Denn sie sehen, dass die Einheimischen von ihren ursprünglichen Jagdrevieren und Lebensräumen vertrieben und umgesiedelt wurden und nun kaum mehr Rechte und Freiheit haben. Sie dürfen auch nicht jagen. Die teils nomadischen Stämme mussten sesshaft werden. (Interessante Doku zum Thema siehe link unten)

„Wir jagen auf ihrem Land. Das Volk, von dem die Jungen abstammen, gibt es hier schon seit rund zwanzigtausend Jahren. Unsere Vorfahren haben sie umgesiedelt, was eine nette Formulierung dafür ist, dass wir uns ihr Land unter den Nagel gerissen haben.“

Schoeters hat ein unglaubliches Talent dafür, von Begebenheiten zu erzählen, die man eigentlich gar nicht hören will, ein Talent auch überzeugend auf sprachlicher Ebene. Und sie muss unglaublich viel recherchiert haben, denn sie bringt mir ein Thema nah, für das ich mich sonst sicher nicht interessiert hätte. Sie schafft mir mit enormem Wissen eine Grundlage, die Geschehnisse in dieser Geschichte einordnen zu können. Das schafft sie so gut, dass es nicht nur sachlich sondern auch auf der Sinnesebene wirkt. Der Roman erzeugt unglaubliche Bilder. Und schafft Atmosphäre und ist ganz stark im Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen der Hauptfigur. Denn die hat sie tatsächlich auch. Und im Laufe der Geschehnisse immer stärker.

Das Buch endet in einem wahnsinnig spannenden Showdown, den ich hier nicht weiter erläutern werde, der mich als Leserin aber wieder etwas versöhnlicher stimmt, soweit das in diesem Rahmen überhaupt möglich ist. Denn es nicht unbedingt der reiche Weiße, der aufgrund seiner Waffen hier allen überlegen ist. Die Natur ist oft stärker und auch die Menschen, die sich darin bestens zurechtfinden. Unbedingte Leseempfehlung!

Der Roman erschien im Zsolnay Verlag. Übersetzt hat ihn Lisa Mensing. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzIwMjQtMDEtMjlfMjAtMTUtTUVa

Stéphanie Coste: Der Schleuser austernbank verlag


Ein ganz und gar außergewöhnlicher Roman liegt hier vor mir. Das betrifft vor allem die Thematik, die zwar in aller Munde ist. Nur eben aus einem ganz anderen Blickwinkel als wir ihn hier in Europa wahrnehmen. Es geht um Flucht. Flucht aus Kriegsgebieten in Afrika. Alle wissen von den Schicksalen unzähliger Menschen, die ihren Tod auf See auf dem Weg nach Italien, nach Lampedusa finden. Nur erzählt Stéphanie Coste, selbst geboren in Afrika, inzwischen in Lissabon und Paris lebend, in ihrem Debütroman aus Sicht der Schleußer in Libyen.

Es ist ein sehr komplexer Roman, der in aller Kürze unglaublich viel erzählt. Das liegt auch an der Dichte der Sprache, die Coste trotz der Schwere des Themas ganz wunderbar gelungen ist. Wir begegnen dem Eritreer Seyoum, der an der libyschen Küste als Schleußer lebt und der ohne jegliche Skrupel unglaublich viel Geld verdient mit seinem „Beruf“. Es ist Herbst und die letzte Überfahrt wird vorbereitet. Die erste „Lieferung“ für die Überfahrt ist bereits in einem alten Lagerhaus unter schlimmsten Bedingungen untergebracht. Man wartet noch auf einen weiteren LKW. Seyoum hat dafür seine Handlanger, während er immer mehr dem Alkohol und dem Rauschmittel Khat verfällt. Kaum dreißig ist er eigentlich trotz seines verhältnismäßigen Reichtums schon ein psychisches und physisches Wrack.

„Die Sudanesen und die Somalier, die dort seit sechs Tagen zusammengepfercht sind, haben seit gestern nichts mehr zu beißen. Wir geben ihnen nur ein bisschen Wasser, um sie am Leben zu halten. Einige zeigen in ihrer Visage die Vorzeichen der Revolte. Ich erkenne sie sofort. Ich lasse pro Tag drei oder vier von ihnen zusammenschlagen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten: Die Erschöpfung gewinnt immer, die Angst gibt ihnen den Rest. Sie sind schnell bezwungen.“

In Rückblenden wird parallel die Lebensgeschichte Seyoums erzählt, dessen Schicksal aufzeigt, weshalb so viele Menschen die Flucht wagen. Der ewige Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien, die Diktatur, der Militärstaat, Korruption und Bestechung, machen jungen Menschen jegliche Hoffnung auf eine gute Zukunft oft sofort zunichte. Seyoum selbst, Sohn eines Journalisten, war gezwungenermaßen in der Armee, war auf der Flucht durch die Wüste gekidnappt worden, schaffte es mit Müh und Not bis Libyen. Und baute sich sein „Schleußer-Imperium“ auf.

“ – Seyoum, du bist noch klein, aber du musst verstehen, dass es wichtig ist, für sein Land zu kämpfen, für die Werte der Freiheit. Und Äthiopien hindert uns seit fünfundzwanzig Jahren daran, frei zu sein. Deshalb müssen wir es bekämpfen.
Aber ich verstand nicht wirklich, worauf er hinaus wollte.“

Eine unerwartete Überraschung befindet sich im letzten LKW. Den der kommt aus Eritrea und schickt Seyoum weit in die Vergangenheit zurück. Vollkommen erschüttert, beschließt er alles hinter sich zu lassen und selbst die Überfahrt zu leiten. Wohl wissend, dass das Boot nicht annähernd seetauglich und vollkommen überladen ist.

Für mich ist dieses Buch wirklich ein Gewinn. Es klärt uns auf über die Hintergründe von Flucht und zeigt gleichzeitig die komplett korrupten Regierungen in vielen afrikanischen Ländern und ihrer Handlanger auf. Will man wirklich etwas ändern, müssten letztlich die Fluchtursachen bekämpft werden. Doch was lässt sich von Europa aus daran ändern? Wie viele Helfer wurden schon in Kriegsregionen geschickt, um aufzuklären oder zu vermitteln? Und wie viele Waffen werden dennoch immer wieder in Kriegsregionen geliefert? Warum? Weil es offenbar eben immer und überall um Macht und Geld geht. Mich macht das traurig, aber auch unsagbar wütend. Dennoch oder gerade deshalb empfehle ich dieses Buch absolut. Gut, dass Stéphanie Coste darüber geschrieben hat.

Katharina Triebner-Cabald hat das Buch aus dem Französischen übersetzt. Es erschien im mir bis dato unbekannten austernbank verlag. Eine Leseprobe gibt es hier hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar!

Akwaeke Emezi: Süsswasser Eichborn Verlag

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„Aber ich bin nicht gänzlich gegen den Wahnsinn, nicht, wenn er mit dieser Form der Klarheit einhergeht. Die Welt in meinem Kopf war bisher viel realer als diejenige außerhalb – vielleicht ist das die exakte Definition von Wahnsinn, wenn ich darüber nachdenke.“

Über das Thema Traumatisierung und Missbrauch in der Kindheit ist ja schon oft geschrieben worden, aber noch nie auf diese Art und Weise. Noch nie aus solcher Perspektive, noch nie in einer solch poetisch-feinen Sprache. Wenn die verschiedenen inneren Anteile einer Person geisterhaft eine Geschichte erzählen, ist das ungewöhnlich. Hier bleibt nichts eindimensional. Die nigerianisch-tamilische Autorin Akwaeke Emezi nennt das in ihrem Roman „die andere Seite“, was ich viel stimmiger finde, als von Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Die Erlebnisse aus der Kindheit werden abgespalten und verdrängt. Doch jeder Anteil erhebt in diesem Roman seine Stimme. Wenn der Schutzmechanismus um zu überleben, die Verdrängung, nicht mehr funktioniert, zeigt sich die psychische Krankheit. Nicht immer ist das nur pathologisch zu sehen, sondern weist auf eine Verbindung mit etwas Höherem hin. Darauf läuft Emezis Geschichte hinaus, die auch eine Art der spirituellen Entwicklung aufzeigt. Deshalb freue ich mich riesig über diesen Roman. Die Autorin schreibt mit einer Selbstverständlichkeit über dieses So-Sein, das es für mich nichts mehr Schreckhaftes hat. Erst kürzlich ließ George Saunders in „Lincoln im Bardo“ die Geister der Toten sprechen. Doch konnte er mich rein gar nicht damit überzeugen. Das sieht hier bei Emezi ganz anders aus: Sie kann mich sprachlich begeistern, sie schreibt in einem besonders ausdrucksstarken, sehr eigenen Stil.

Emezi erzählt davon, das es nicht leicht ist mit solch einem Makel oder einer Gabe durchs Leben zu kommen. Ihre Heldin ist eben nicht „normal“, versucht den Schein nach außen hin aber unbedingt zu wahren. Ada kommt in diesem Roman selten selbst zu Wort. Häufig erzählen die Ogbanje, die Geister die in ihr, durch sie leben. In mehreren Schüben baut sich die Ver-rücktheit auf, bis die große Gegenspielerin des Göttlichen, Asughara im „Marmorzimmer“, in Adas Kopf auftaucht, und sich in deren Leben unangenehm und penetrant einmischt. Auslöser ist die Vergewaltigung durch einen Kommilitonen.

„Ogbanje sind Schwellenwesen – Geist und Mensch, gleichzeitig beides und keines von beidem. Ich bin hier und doch nicht hier, real und unwirklich, Energie, in Haut und Knochen gepresst. Ich bin meine anderen; wir sind eins, und wir sind viele.“

Wir begleiten Ada in kurzen Sequenzen durch ihre Kindheit, später durch ihre Studienzeit. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter im Ausland gearbeitet, die Kinder zunächst allein in Nigeria zurückgelassen. Unter der Obhut des älteren Bruders, kommt es wiederholt zu Gewalt und Mißbrauch. Später schickte sie ihre Kinder zum Studium, Ada in die USA, an eine Provinzuniversität in Virginia. Mit Selbstverletzungen durch Ritzen und mit unzähligen Affären versucht Ada sich selbst zu spüren, später sogar mit einem Selbstmordversuch auf die „andere Seite“ zu gelangen.

„Und so bricht man ein Kind, wisst ihr. Schritt Nummer eins: Nimm ihm die Mutter weg.“

Als schließlich auch noch ein eher zarter, junger männlicher Geist namens Saint Vincent in ihr auftaucht, wandelt sich Ada in ein Richtung Männlichkeit driftendes Wesen, fühlt sich zu Frauen hingezogen und lässt sich sogar die Brüste verkleinern. Zu echter Nähe kommt es jedoch nie, vor zuviel Gefühl und Intimität scheut Ada zurück. Obwohl sie glaubt, zu lieben, bleibt jede Beziehung an der Oberfläche. Doch auch Yshwa, Jesus Christus, bleibt bei ihr, oft im Kampf um die Vorherrschaft über Adas Geist und Verstand.

Die Geschichte, über der immer die Frage schwebt „Wer bin ich wirklich?“, endet mit einer Art Erlösung, einer Befreiung. Ada darf sich selbst erkennen, auch wenn es ein langer Weg ist. Die Angst vor dem Leben, vor dem eigenen Inneren, weicht mehr und mehr, je weiter sie in ihre Herkunft eintaucht, ihre afrikanischen Wurzeln und die Stärke darin erkennt. Ein Leuchten!

Der Roman der 1987 geborenen Akwaeke Emezi erschien im Eichborn Verlag. Übersetzt wurde er aus dem Amerikanischen von Annabelle Assaf und Senthuran Varatharajah, der selbst tamilische Wurzeln hat und einen gleichfalls sehr empfehlenswerten Roman namens „Vor der Zunahme der Zeichen“ geschrieben hat. Eine Leseprobe zu Süsswasser gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Sätze & Schätze.

Chinelo Okparanta: Unter den Udala Bäumen Wunderhorn Verlag

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Der Wunderhorn Verlag hat eine eigene Reihe für zeitgenössische Literatur aus Afrika, herausgegeben von Indra Wussow. Nach „Ma“ von Aya Cissoko ist dies nun der zweite Roman, den ich lese. Und ich finde diese Reihe wirklich besonders gut ausgewählt. Sie gibt hierzulande noch weniger bekannten Stimmen einen Raum.

„Der Legende nach kommen Geisterkinder, die es leid sind, rastlos zwischen der Welt der Lebenden und der Toten hin- und herzuschweben, über Udala-Bäumen zur Ruhe. Dankbar, endlich irgendwo anzukommen, verhelfen sie jeder Frau, die sich, und sei es auch noch so kurz, unter einem Udala-Baum niederlässt, zu Fruchtbarkeit.“

Nigeria in den 70er Jahren. Es herrscht Bürgerkrieg. Unter den Udala Bäumen spielt eine Schlüsselszene des Romans von Chinelo Okparanta. Hier begegnet die Heldin ihrer zukünftigen Freundin Amina zum ersten Mal. Aus der Freundschaft der beiden jungen Mädchen entsteht eine körperliche Anziehungskraft, entsteht eine zarte erste Liebe. Was für die beiden 12-Jährigen selbstverständlich ist, treibt die Pflegefamilie zu strengen Maßnahmen, denn in der Region in Nigeria mit seinem strengen Katholizismus, ist das, was die beiden tun verboten, ja eine Todsünde, die man nur durch strenges Bibelstudium wieder wettmachen kann. Zudem sind beide auch noch aus unterschiedlichen, verfeindeten Ethnien, die eine Hausa, die andere Igbo. Man trennt die beiden Mädchen. Die Muslimin Amina bleibt bei der Familie, Ijeoma wird zurück zur Mutter geschickt, die sie während des Bürgerkriegs in eine sicherere Region gebracht hatte, nachdem bei einem Bombenangriff 1968 der Vater getötet und das Haus zerstört wurde.

„Ich hatte nicht die Geistesgegenwart zu lügen. Ich sah Mama in die Augen und nickte. „Ja, ich denke immer noch an sie“, sagte ich. Und „Ja, ich denke immer noch auf diese Weise an sie.“ Mama sprang auf, warf die Hände in die Luft und brüllte irgendwas von Gebeten und Vergebung. Sie zog mich am Kragen meines Kleides auf die Füße.“

Ijeoma beugt sich zunächst der strengen Mutter, die das was die beiden Mädchen taten, als ein „Gräuel“ bezeichnet, die laut Altem Testament von Gott nicht geduldet wird. Doch später im Internat kommen die beiden wieder zueinander, können sich aber nur heimlich begegnen. Bis Amina aus Angst vor Strafe beginnt sich Jungen zuzuwenden und schließlich nach Abschluss der Schule heiratet und aus Ijeomas Blickfeld verschwindet. Diese kehrt zur Mutter zurück und arbeitet in ihrem kleinen Gemischtwarenladen mit. Dort lernt sie die Lehrerin Ndidi kennen. Die beiden werden ein heimliches Paar. Alles geht hier nur heimlich. Wer als gleichgeschlechtlich Liebender erkannt wird, muss den Tod fürchten. Selbst vor Steinigung schrecken die gläubigen Katholiken nicht zurück. Ein als Kirche getarnter Treffpunkt für lesbische Frauen, wird enttarnt und viele Frauen fallen der willkürlichen Gewalt der „Sittenwächter“ zum Opfer.

„Orangeblaue Flammen. Sie stiegen von einem Haufen aus brennendem Holz auf. Ndidi begann zu weinen. Wir alle weinten jetzt, weil wir das Gesicht erkannt hatten oder vielleicht mehr das, was davon übrig war. Adanna lag mitten in dem Feuer und brannte.“

Eines Tages taucht im Laden der Jugendfreund von Ijeoma auf und umgarnt sie. Er ist auf der Suche nach einer Ehefrau und Ijeomas Mutter ist begeistert, ihre Tochter endlich unter die Haube zu bringen. So ganz verstehe ich als Leserin nicht, warum Ijeoma schließlich in die Ehe einwilligt, obwohl sie nicht ihn, sondern weiterhin Ndidi liebt. Vielleicht ist es auch nicht nachvollziehbar aus heutiger Zeit und europäischer Sichtweise, wie schwer es war diese Heimlichkeit und das Gefühl einer Schuld zu ertragen.

Es kommt, wie es kommen muss. Ijeoma fühlt sich in ihrer Ehe gefangen, wird depressiv, hat schreckliche Angst von Gott bestraft zu werden, wenn sie keine gute Ehefrau und Mutter ist, ihrem Mann nicht zu Diensten ist. Okparanta beschreibt dieses Dilemma, so im religiösen Glauben verhaftet zu sein mehr als eindringlich. Als Leserin spürt man den seelischen Schmerz und die Angst der Hauptfigur einschneidend und deutlich. Es braucht Zeit, sich davon zu lösen und das Wagnis der Trennung einzugehen …

Die 1981 geborene Nigerianerin Chinelo Okparanta, die seit ihrem 10. Lebensjahr in den USA lebt, hat einen, sprachlich wie inhaltlich, für mich sehr bereichernden Roman geschrieben. Solche Bücher öffnen den Zugang zu anderen Ländern, geben Einblicke in andere Lebenswelten und machen neugierig.

Der Roman wurde aus dem nigerianischen Englisch übersetzt von Sonja Finck und Maria Hummitzsch. Mehr über Buch und Autorin gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Colson Whitehead: Underground Railroad Hanser Verlag

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Ein Freund, der den neuen Roman von Colson Whitehead bereits in Englisch gelesen hatte, berichtete ein wenig irritiert von der Story mit der Underground Railroad. Doch gerade diese Erfindung, diese grandiose Idee als Metapher zu nutzen, um von dem ja tatsächlich damals existierenden Netzwerk zur Befreiung der Sklaven zu erzählen, gefällt mir ausgesprochen gut. Whitehead setzt den mutigen Helfern und Befreiern damit auch ein literarisches Denkmal.

Es ist die Geschichte der Sklavin Cora, die in Gefangenschaft geboren wurde, deren Mutter sie im Alter von 10 Jahren alleine zurück ließ und floh. Auf der Plantage bleibt Cora eine Einzelgängerin. Jahre später, als sie sich einmal für einen Jungen einsetzt, geschieht Schlimmes: Sie werden beide aufs grausigste bestraft. Ab diesem Punkt kann sie sich auf die Fluchtpläne des jungen Ceasar einlassen. Die Flucht beginnt und gleich zu Anfang scheint alles schief zu gehen, doch beide kommen durch, Cora allerdings, hat aus Notwehr einen jungen Sklavenjäger getötet. Einer der Sklavenjäger will die hohe Fangprämie einkassieren und bleibt ihr unentwegt auf der Spur. Cora findet jedoch in Folge immer wieder Menschen, die ihr helfen, Leute von der Underground Railroad, doch sicher kann sie sich nie sein …

„Auf dem Auktionspodest hakten sie die Seelen ab, die bei jeder Versteigerung gekauft wurden, und auf der Plantage hielten die Aufseher die Namen der Arbeiter in Reihen von enger Kursivschrift fest. Jeder Name ein Vermögenswert, atmendes Kapital, fleischgewordener Profit.“

Der Autor erzählt aus einem der düsteren Kapitel der US-amerikanischen Geschichte. Das Buch ist aufschlussreich, dieser Ausmaße war ich mir zuvor nicht bewusst. So wird aus heutiger Sicht schnell klar, wie tief die Kluft zwischen schwarz und weiß ist. Und gerade wenn man die Geschehnisse dieser Geschichte für unvorstellbar und unbegreiflich hält, so ist es doch eine Episode, die Teile der Bevölkerung der USA noch immer prägt. In letzter Zeit zeigt sich dies erschreckenderweise ja wieder sehr häufig.

Meine Bibliothek, die AGB (die wirklich gut sortiert ist), weist Whiteheads Roman als Bestseller aus, so dass man das Buch nur 14 Tage ausleihen darf. Das war aber kein Problem, denn ich habe es sehr schnell gelesen und ich wünschte mir für diese Geschichte unbedingt etwas, auf was ich sonst verzichten kann, ein Happy End. Whitehead hat in der Tat auch ein stimmiges Ende gefunden …

„Underground Railroad“ von Colson Whitehead erschien im Hanser Verlag und wurde übersetzt von Nikolaus Stingl. In den USA erhielt der Autor dafür den Pulitzer-Preis 2017. Eine Leseprobe gibt es hier.

Aya Cissoko: Ma Wunderhorn Verlag

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Aya Cissoko wurde 1978 in Paris geboren. Ihre Eltern kamen aus Mali nach Frankreich, um es besser zu haben als in der Heimat und von da aus ihre Familie mit versorgen zu können. Aya Cissoko erzählt anhand ihrer eigenen Geschichte:

Diese setzt ein bei der Beerdigung der Mutter und wird in Rückblenden erzählt. Nach und nach erfahren die Leser*innen von der Verheiratung der 15-jährigen Mutter im Dorf in Mali. Dort gelten die Mädchen als hochzeitsreif, sobald sie ihre Menstruation bekommen. Oft ist der Partner von den Eltern lange vorher bestimmt. Cissokos Mutter hat Glück, ihr Mann ist „nur“ 15 Jahre älter und holt sie zu sich nach Frankreich.

„Der Sarg wird am Eingang zu Block 101 abgestellt. Die Männer haben betend einen Ring darum gebildet. Wir Frauen warten in einigem Abstand, fünf Meter hinter der letzten Reihe der Männer. Wir sollten eigentlich bei ihnen stehen dürfen, schließlich ist dies ein nicht muslimisches Land.“

Für Aya ist die Kindheit zunächst wild und frei, als Spielplatz gilt die Straße, da die Wohnung aus einem 15 qm kleinen Zimmer für zwei Erwachsene und vier Kinder besteht. Die finanzielle Situation ist immer prekär. Alles verschlimmert sich, als der Vater und die Schwester bei einem Brandanschlag ums Leben kommen und kurze Zeit später ein Bruder aufgrund einer Hirnhautentzündung stirbt. Die Mutter kämpft sich alleine durch, geht arbeiten und nimmt trotzdem immer auch Bedürftige aus der Heimat auf. Es herrscht generell ein rauhes Klima, Schläge für die Kinder sind nicht selten. Trotz des ruppigen Tons und der strengen Behandlung ist ihre Sorge zu spüren.

„Koroke weist mich als einer der ersten auf diese schlechte Angewohnheit hin: >Warum fluchst du die ganze Zeit? Hör auf damit, du hast eine wüste Sprache.< >Ach echt! Scheiße, hab ich noch gar nicht gemerkt!<

Schwer verständlich sind für mich die ungeschriebenen Gesetze der afrikanischen Familienkultur. Die Frauen haben es schwer. Männer dürfen sich alles erlauben, haben mitunter mehrere Frauen. (>Welche andere Rolle kann eine Frau ausfüllen, als den Stammbaum des Mannes zu verlängern?“)  Und diese Gesetze scheinen auch in der neuen Wahlheimat Frankreich unter den Einwanderern zu gelten. Umso mutiger ist es, dass sich Aya Cissoko als Hauptfigur des Romans loslösen kann und neugierig neue Wege geht. Sie schafft das Abitur, sucht sich einen Studienplatz, bricht ab, sucht neu, findet Unterstützung. Bewegung ist ihr wichtig und so landet sie beim Boxen und wird richtig gut, gewinnt Wettkämpfe und findet auch hier wieder Menschen, die sie fördern. Ein Halswirbelbruch bedeutet schließlich das Aus der Karriere als Boxerin. Es folgt eine schwierige Neuorientierung und die Balance zu finden zwischen Herkunft und Neuland, zwischen Tradition und Moderne, bleibt Hauptaufgabe. Cissoko emanzipiert sich, grenzt sich ab, trifft eigene Entscheidungen, übernimmt Verantwortung und bleibt sich dabei ihrer Wurzeln bewusst.

„Mit fast dreißig kehre ich auf die Schulbank zurück. Lernen ist gut für jedes Alter und mein Kopf ist endlich ausgeruht.“

Cissokos Roman ist eine große Liebeserklärung an ihre Mutter und die Geschichte einer starken jungen Frau, die sich klug und hartnäckig für ein freies und selbstbestimmtes Leben in Frankreich entscheidet. Wer Einblick in andere Kulturen sucht und lesen will, wie Integration gelingen kann, lese dieses Buch.

Was mich am Buch ein wenig gestört hat, ist, dass Teile der Dialoge auch oft zusätzlich in Cissokos Muttersprache Bambara abgedruckt sind. Es stört ein wenig den Lesefluss. Das ist allerdings auch schon das Einzige, was ich an diesem Buch auszusetzen weiß.

Der Roman „Ma“ wurde von Beate Thill aus dem Französischen übersetzt und erschien im Wunderhorn Verlag. Mehr über Buch und die Autorin und eine Lesprobe gibt es hier. Ein beeindruckendes Porträt der 1978 in Frankreich geborenen Aya Cissoko gibt es bei „Aspekte“