Paul Auster: 4321 Rowohlt Verlag

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Paul Austers neuer Roman ist eine einzige große Hommage an das Erzählen. Was er hier über mehr als 1200 Seiten lang zelebriert, ist die Hingabe an das Erfinden von Geschichten, an die Fantasie und deren magische Möglichkeit, Leben, ja die ganze Welt zu verändern.

4321 – Ausgangspunkt dieses Romans: Auster lässt seinen Helden Archibald Ferguson quasi von Geburt an in vier Varianten und somit in vier Erzählsträngen ins Leben starten, beginnend mit der Ankunft der osteuropäischen, jüdischen Herkunftsfamilie in der neuen Welt: USA, New York, Ellis Island in den 50er Jahren. Wechselweise erzählt er aus der jeweiligen Perspektive, wie ein Leben mit zunächst gleichen Voraussetzungen, zumindest gleichen Erbmaterials, doch immer anders verlaufen kann. Eine wunderbare Idee, die für mich gleich Anlass war, selbst einmal über ein „Was wäre gewesen, wenn …“ zu sinnieren.

Mich erinnerte diese Anordnung auch an ein Stück von Max Frisch: Biografie: Ein Spiel, in dem Frisch eine Person mehrmals mit gleichen Voraussetzungen ins Leben schickt. Im Stück endet es so, dass der Protagonist doch immer wieder am selben Punkt seines Lebens endet. Auster erforscht, wie und ob der Zufall oder gar Schicksal Archie Ferguson beeinflusst. So lässt er ihn als Einzelkind in einer Kleinstadt in New Jersey, aber in Reichweite von New York aufwachsen, einmal mit getrennten Eltern, einmal mit Stiefvater, einmal in wohlhabender Familie, einmal in weniger begüterten Verhältnissen etc. Was immer gleich bleibt, ist die Sportbegeisterung, besonders für jegliche Ballsportarten und die, jedoch immer anders entstehende, Liebe zur Literatur, zum Film, die früher oder später seine Wege lenkt. Ein beständiges, sehr prägendes Element ist das Mädchen Amy, das unterschiedliche Rollen an Archies Seite einnimmt. Der Leser begleitet Archie vier mal (mit Abstrichen) durch Kindheit, Teenagerzeit, Adoleszenz bis zum Erwachsenenalter.

“ Bücher, überall Bücher, auf Regalen an allen Wänden der drei Zimmer, auf Tischen und Stühlen, auf dem Fußboden, oben auf den Schränken, und nicht nur fand Ferguson dieses phantastische Chaos bezaubernd, vielmehr schien im die bloße Tatsache der Existenz einer solchen Wohnung darauf hinzuweisen, dass man auf dieser Welt auch ganz anders leben konnte als so, wie er es bisher kannte, dass das Leben seiner Eltern nicht das einzig mögliche Leben war.“

Solch lange, und sogar noch längere wunderbare Sätze schlängeln sich durch alle 1200 Seiten und bieten größten Lesegenuss.
Ich habe bewundernd an den jeweiligen Lebensentwürfen Anteil genommen. Was ich weniger spannend fand, (ich gebe es zu, ich habe irgendwann überblättert) sind die teilweise langen Sequenzen, in denen Archie sich dem Baseball- oder Basketballspiel widmet. Solche Szenen sind fast so häufig, wie die Passagen über Archies sich entwickelndes Interesse an der Sexualität und den gegebenen Möglichkeiten sie auszuleben. Gleichzeitig bietet 4321 aber auch einen guten Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA in der Zeit vor und während des Vietnamkriegs. Es ist die Zeit der Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings und die der Studentenrevolten, die Zeit der Rassenkonflikte, der Straßenkämpfe zwischen schwarz und weiß.

Paul Auster hat letztlich einen großen autobiographischen Roman geschrieben: viele Hinweise finden sich in den jeweiligen Archie-Biografien, die mit seinem eigenen Leben überein stimmen. Manches gab es schon zu lesen in den biografischen Büchern „Winterjournal“ und  „Bericht aus dem Inneren“. Gegen Ende hin ist es das von Archie geführte „scharlachrote Notizbuch“, dass es ja wirklich als Buch gibt: Das rote Notizbuch. Auster schreibt tatsächlich Gedanken für spätere Bücher in Notizbücher und tippt dann mit der Schreibmaschine ab. Auch die Übersetzung von französischer Lyrik ist etwas, was aus Austers Leben gegriffen ist. Auster hat ebenso an der Columbia-Universität in New York studiert und hat nach dem Studium einige Zeit in Frankreich verbracht. Auster kommt aus Newark in New Jersey, wie sein Held Archie und auch er war eine Sportskanone, an allen Arten von Ballspielen interessiert.

4321 erschien im Rowohlt Verlag. Die Übersetzungsaufgabe teilten sich mehrere Übersetzer, da Eile geboten war: Auster wollte, dass sein Roman in Deutschland gleichzeitig mit der amerikanischen Ausgabe erscheint: Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl haben das gut gemeistert.
Mehr über das Buch, ein Interview und eine Leseprobe gibt es hier.

22 Gedanken zu “Paul Auster: 4321 Rowohlt Verlag

  1. Bisher haben mich die 1200 Seiten abgeschreckt. Und ich war mir nicht sicher, ob es sich nicht, ähnlich wie bei „Ein wenig Leben“, um einen Hype handelt, überall sieht man den Roman. Deine Rezension ist jedoch sehr schön und ich werde mir den Kauf des Romans noch einmal überlegen. Danke!

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    • „Ein wenig Leben“ habe ich nach 70 Seiten weggelegt. Auster dagegen genussvoll weitergelesen, es hätten sogar noch mehr Seiten sein können. Auster ist einfach ein großer Erzähler, ein versierter Autor, der auch vermeintlich unspektakuläres fesselnd erzählen kann. Das merkt man schon in den vielen Vorgängerbüchern …
      Viele Grüße!

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  2. Erst dieses Jahr schlich sich ganz leise / die Arbeit von Paul Auster in mein Leben / und ich bin mehr als fasziniert von seiner geistreichen Erzählmalerei / insbesondere “ ein Leben in Worten “
    Ich werde ihn nicht mehr vergessen / wollen.

    Danke für deine Rezension.

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  3. Liebe Marina,
    mit Deiner Besprechung hast Du mir tatsächlich noch mehr Lust auf dieses Buch gemacht. Ich hatte es sowieso schon auf der Bucheinkaufsliste unter der Kategorie Dringend stehen, weil ich alle Auster-Bücher haben musssss.
    Der Mann kann einfach schreiben. Wobei die letzten biografischen Veröffentlichungen, Winterjournal, Bericht und das Notizbuch mich noch einmal neu und zum ersten mal eindeutig biografisch benannt ins Innere und Äussere des Autors geführt haben. Da war und bin ich auf 4321 seit der Ankündigung und den ersten Rezensionen besonders gespannt.

    Es dauert zwar noch ein bisschen, lese derzeit die Autobiografie von Bruce Springsteen, der mich mein bewusstes Menschenleben lang mit seiner Musik begleitet hat. Und der Mann kann tatsächlich richtig gut schreiben, nicht wie Auster sondern auf einfachere Art. Und ich lese da mein Leben mit. Möglicherweise nicht jedem literarischen Leser verständlich but I don’t give a damn

    So, genug geplaudert, meine Freundin, die Dialyse 😡 ruft …

    Danke für die Besprechung und liebe Grüße
    Kai

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    • Freut mich, dass dir die Besprechung gefällt. Ich hätte nach den 1200 Seiten gerne noch weiter gelesen, aber so nehme ich mir noch einmal etwas älteres zur Hand.
      Mich hat immer vor allem Literatur oder abbildende Kunst begleitet, Musik war nie so wichtig, wie das geschriebene gelesene Wort ..
      Liebe Grüße und alles Gute!

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  4. Liebe Marina,
    ich habe schon lange keinen Roman mehr gelesen, der mich so angesprochen, mich so eingesaugt hat, wie dieser „dicke Schinken“ (zum großen Glück ist er so dick!!!). Da hast Du absolut Recht, wenn Du von diesem „größten Lesegenuss“ sprichst.
    Viele Grüße, Claudia

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      • Erst auf Seite 300. Gerade ist nicht so viel Zeit zum Lesen und zum Bloggen: viel Arbeit, sehr kranke Eltern. Da habe ich dann vor allem abends eine halbe Stunde und freue mich immer schon darauf, die vier Archie-Geschichten zu lesen. Ich finde den Roman ganz toll geschrieben mit diesen sehr komplexen Geschichten und habe ganz großes Kopf-Kino beim Lesen. Und male viele Sätze an und möchte am liebsten anfangen auf großen Zetteln festhalten, welche unterschiedlichen Erlebnisse und Umwelteinflüsse es gibt, welche verschiedenen Verhaltensweisen und auch Charaktereigenschaften. Da können sich aber die nächsten Jahre die Pro- und Hauptseminare die Zähne dran ausbeißen :-).
        Viele Grüße, Claudia

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      • Ja. Man ist ja immer versucht die gerade beendete Archie-Variante weiterzulesen, also weiterzublättern bis zum nächsten Teil … habe ich aber dann doch nicht gemacht. Ich habe vor allem abends im Bett gelesen, mit dem Ergebnis, dass ich teils bis 1 oder 2 Uhr wach blieb. Man wird bei diesem Buch einfach nicht müde. Fand auch die Lektüre- und Filmhinweise total spannend.
        Dann genieße es, dass du den Großteil noch vor dir hast. Bin gespannt, was du sagst.
        Alles Gute und viele Grüße!

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  5. Eure lobenden Worte Marina und Claudia machen mir noch mehr Lust auf das Buch. Es liegt schon hier und wird am Sonntag angefangen. Als „Vorbereitung“ habe ich nochmal „Winterjournal“ und „Bericht aus dem Inneren“ gehört, wobei mir ersteres besser gefallen hat. Jetzt bin ich gespannt! Viele Grüße, Petra

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  6. Spannend! Auch, dass vier Übersetzer an der deutschen Ausgabe beteiligt waren. Normalerweise würde ich ja das Original lesen, aber vielleicht schau ich mir auch mal die Übersetzung an. Weißt Du Genaueres darüber? Wahrscheinlich hat je ein Übersetzer an einem Erzählstrang gearbeitet?

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    • Sorry, Eva, dass ich erst so spät antworte…musste dich erst mal aus dem Spam-Ordner holen…
      Leider weiß ich nichts Näheres über die Übersetzungsarbeit. Ich finde jedoch, dass man es nicht merkt beim Lesen. Aber Original ist sicher immer besser …
      Viele Grüße!

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      • Ich weiß gar nicht, ob ein Original immer besser sein muss… Kennst Du den Cartoon, wo einer zum anderen sagt: „Das musst Du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen, im Original geht da viel verloren“? 😉

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      • Harry live – das hätte ich auch gerne erlebt. So schade, dass das jetzt nicht mehr geht. Aber zum Glück bleiben wenigstens die Hörbücher, die Briefe, die Übersetzungen, die Kolumnen, die Filmkritiken…

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  7. Wie du das neben der Bürolektüre noch unterbringst, ist echt bemerkenswerte.
    Das Buch merke ich mir auf jeden Fall vor. Von Auster habe ich bisher nur die New York – Trilogie gelesen, was aber schon ausreichte, dass ich zum Fan wurde.

    Liebe Grüße
    Marc

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    • Das muss wohl an der Qualität der Romane liegen, dass ich so versunken lese. Seltsamerweise lese ich zur Zeit dickere Bücher viel lieber (und schneller), weil ich mich so an das „Personal“ gewöhnt habe und vollkommen darin aufgehe …
      Auster lohnt sich wirklich, wo hingegen ich beim letzten Franzen ja enttäuscht abbrochen habe.
      Viele Grüße!

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