Georgi Gospodinov: 8 Minuten und 19 Sekunden Literaturverlag Droschl

Gospodinov 8minuten_und_19sekunden

8 Minuten und 19 Sekunden dauert es bis das Licht der Sonne bei uns auf die Erde trifft, Genau so lange hat man also Zeit, vom Leben Abschied zu nehmen, falls die Sonne sich abschaltet, keine Wärme und kein Licht mehr schickt oder explodiert, also im Falle einer Apokalypse. Das erklärt der Erzähler in der ersten Story von Georgi Gospodinovs neuem Buch und er tröstet uns gleich, dass diese Geschichte auch in eben dieser Zeit gelesen sein wird.

Auch die folgenden Erzählungen sind etwa so lang und auch in etwa so schräg. Gospodinov schreibt von verlorenen, einsamen, traurigen Menschen, von verkappten Existenzen von Weltuntergangsstimmungen, von Endzeitszenarien, und ich glaube an diese Geschichten, obwohl sie so unglaublich erscheinen. Das ist für mich reinste magische Erzählkunst. Da scheint etwas auf, was mehr ist als bloße Beschreibung der Geschehnisse: da liegen Geheimnisse unter der Oberfläche, die ich als Leser erforschen darf.
Und da ist wohl auch dieser bestimmte Erzählton, den ich immer stärker wahrnehme, der mich fasziniert, der Ton vieler osteuropäischer Schriftsteller. Schwer zu beschreiben, vielleicht ist es die besondere Melancholie in Verbindung mit einem ganz eigenen Sinn für Humor. Da fällt mir gleich der Roman „Alle Eulen“ des Rumänen Filip Florian ein, Stansic´ Fallensteller, auch „Drach“ von Twardoch, und irgendwie auch der verrückte Film „Schwarze Katze, weißer Kater“ von Emir Kusturica.

In Gospodinovs Geschichten geht es oft selbst ums Geschichtenerzählen, ums Sprache finden; Erzählen, um sich zu vergewissern, noch da zu sein. Die Protagonisten selbst sind Erfinder ihres Lebens. Oft läuft es bei ihnen nicht so gut, aber es gibt die Fantasie, eine immense Vorstellungskraft. Es sind meist Geschichten einer neuen Zeit, einer Zukunft, die alles andere als heil ist und bei der die Tage der Menschheit gezählt sind. Immer verbirgt sich irgendwo versteckt oder offensichtlich eine Spur von Wahnsinn im Kleinen wie im Großen.

In der Erzählung „Einen Vater adoptieren“ geht es um einen Jungen, der elternlos im Heim lebt und der versucht, seine Einsamkeit zu bekämpfen, indem er verschiedene Objekte als Ersatzvater adoptiert. Das ist einmal ein Baum im Schulhof, einmal die Büste von Stalin (weil die Erzieher sagten, er sei der Vater aller Völker) und einmal ein streunender Hund. Nichts davon bleibt ihm …
Da gibt es die Geschichte „Das Ritual“, in der eine Regisseurin einen Film über eine Dorfhochzeit drehen will. Die vielen Gäste sind versammelt, doch das Brautpaar fehlt, ist zumindest körperlich nicht anwesend …
Dann gibt es die Erzählung mit dem Titel „O, Henry!“, in der ein Schriftsteller mit Schreibblockade in der vielversprechenden Vorweihnachtszeit auf Geschichtenfang geht und zuletzt in seinem Stamm-Fang-Cafe endlich fündig wird.

„Mir blieb nichts anderes übrig, als es mit einer alten Technik zum Anlocken von Geschichten zu versuchen, die ich auch andere Male in hoffnungslosen Fällen probiert habe.“

Und zu guter Letzt, und es ist wirklich die schönste Geschichte von allen, lesen wir in „Und alles wurde Mond“ von einer Zukunft, in der es keine Bienen mehr gibt und nur noch künstliche Bäume, dafür aber eine Lebensaltergarantie von 125 Jahren. Kastor ist „erst“ 79 und mag dennoch nicht mehr. Er vermisst den Akazienduft, die Atmosphäre ist ozonlochgespickt, alles, für das er gekämpft hat, ist verschwunden und der Sohn lebt weit entfernt auf einem anderen Planeten im Weltall. Bevor er „geht“, muss er dies beantragen und nach 3 Monaten bestätigen. Er schreibt seinem Vater und seinem Sohn Abschiedsbriefe auf echtem Papier, bevor er Richtung Bestattungsplanet Mond aufbricht …

„Mein Großvater sagte, mein Vater sei in die Stadt „geflüchtet“. Später „flüchtete“ ich aus der Stadt in ein anderes Land, und jetzt bist Du irgendwohin in den Kosmos geflüchtet. Ich frage mich abends, wie Deine Einsamkeit ist, ob sie die Ausmaße des Weltalls hat, ist sie leichter und verdünnter? Wie groß ist ihre Eigenmasse und wie wirkt sich die Gravitation auf sie aus?
Früher einmal war die Einsamkeit konzentrierter und kleiner, man konnte sie zähmen, sie wie eine Katze streicheln. Jetzt komme ich nicht mehr mit den kosmischen Dimensionen zurecht.“

„8 Minuten und 19 Sekunden“ von Georgi Gospodinov erschien im Literaturverlag Droschl und wurde von Alexander Sitzmann aus dem Bulgarischen übersetzt. Mehr über den Autor und eine Leseprobe findet sich hier.

8 Gedanken zu “Georgi Gospodinov: 8 Minuten und 19 Sekunden Literaturverlag Droschl

  1. Durch Ihre Anregung schafft es der Titel rund 20 bis 30 Plätze nach vorne und beinahe könnte ich sagen: wird sofort gelesen.

    Sagen wir: zeitnah, wenn auch nicht in 8 Minuten und 19 Sekunden.

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  2. Deine Art über Autoren Bücher und deren Geschichten zu schreiben mag ich sehr. Nah und Achtungsvoll und mit profunden Sätzen und immer wieder Anreiz und Grund mir Titel & Autor in meine Kladde zu notieren. Abseits des üblichen was ich so kenne. Wünsche Entdeckungsreiches für deine Arbeit und Sinne.

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    • Danke! Es freut mich, wenn ich tatsächlich mögliche Leser erreiche mit meinem Schreiben. Und gerade die ungewöhnlichen, abseitigen Entdeckungen sind es, die mir selbst größte Freude bereiten und die ich am liebsten weiterempfehle.

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      • Dies ist eine gute und wie mir scheinen mag auch Denkreizerweiterungsfreudige Entscheidung. HappyEndroman Besprechungen oder die 38igste Espetal Huldigung gibt es schon genug. Gerne weiter so.

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      • Tja. Espedal werde ich dennoch huldigen. Er schreibt großartig und ist eine ebenso ungewöhnliche Entdeckung. Buchblogs und Buchhändler tragen eben auch dazu bei, dass die ungewöhnlichen Entdeckungen eines Tages vielleicht auch öfter gelesen und womöglich auch öfter besprochen werden.

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      • Da bin ich wohl einer der wenigen Nichtespedalliebhaberleserhuldiger die weiteren Sätze gerne.

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