Erzählungen – Short Stories – Kurzgeschichten: Ein Hoch auf die literarische Kurzform


Oft sind sie das Stiefkind der Prosa. Oft habe ich als Buchhändlerin von Kunden gehört: Bloß keine Kurzgeschichten. Immer sollten es Romane sein. Deshalb widme ich den Erzählungen einen extra Beitrag auf meinem Blog. Ich habe Erzählungen immer mehr lieb gewonnen und lese sie regelmäßig. Nicht so oft wie Romane, aber sie sind, wie natürlich Lyrik, immer Bestandteil meiner Lektüre. Kurzgeschichten werden wirklich unterschätzt. Schließlich muss alles was in einem Roman drinsteckt, hier auf kurzer Strecke dabei sein, komprimiert, destilliert, auf den Punkt gebracht. Mit meinen Empfehlungen möchte ich dem Unbehagen bei Kurzgeschichten etwas entgegen setzen. Viel Freude beim Durchschauen!
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Kleine Kratzer: Hier geht es direkt und bildhaft sinnlich ums Altwerden und um die daraus oft entstehenden Widrigkeiten, die man als junger Mensch nie für möglich gehalten hätte. „Ungeschönt“ ist ja so ein seltsames Wort. Aber hier passt es einfach so gut. Ich bin dem Kjona Verlag wirklich dankbar, dass er dieses Buch der Engländerin Jane Campbell verlegt hat. Ältere/alte Autorinnen sind ja oft viel zu unsichtbar. Campbell schickte erst 2017 eine ihrer Geschichten an eine Zeitung und das war sofort ein Erfolg. Kein Wunder, denn auch die Sprache ist bemerkenswert. Ausführliche Besprechung folgt in Bälde!

Böses Glück: Nie ist es reines oder pures Glück. Immer gibt es eine dunkle, hintergründige, schwere Komponente. Vielen bereits bekannt durch die sogenannte Kopenhagen-Trilogie taucht Tove Ditlevsen nun auch als Autorin von Erzählungen auf. Und zwar richtig gut gelungenen, wie ich finde. Sehr eindringlich und von Menschenkenntnis und guter Beobachtungsgabe zeugend sind ihre Geschichten. Fast kommt es mir vor, als läge Tove Ditlevsens wirkliche Stärke in dieser kurzen Form, den Erzählungen. 

Ich und Jimmy: Clarice Lispector hat eine besondere Art das Wesentliche zunächst vollkommen verschleiert auf den Punkt zu bringen. In ihren Geschichten geht es hauptsächlich um die Rolle der Frau. Fast immer sind Frauen die Heldinnen, nicht immer wirken sie auf die Leserin sympathisch, oft skurril und sogar kauzig, zumindest aber eigensinnig. Doch immer werden die dieser Zeit zugrunde liegenden Themen, lange bevor Emanzipation ein Thema war, hervorragend beleuchtet. Bezeichnend ist der dauernde Einblick in die Innenwelten, der einem die Figuren dann doch sehr nahe bringt.


Adelheid Duvanels „Fern von hier“ kann man eigentlich nur auf dem Silbertablett servieren. Die gesammelten Erzählungen der Schweizerin sind Literatur vom Feinsten. Duvanel stellt die Verlorenen, die Verlierer, die Verschrobenen, die Schrulligen, die Skurrilen, die Verwahrlosten, die Verdrehten und Verlassenen in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. Duvanel gelingt jede Erzählperspektive. Sie schafft es sich in jede ihrer Figuren sensibel und feinfühlig hineinzuversetzen. Kinder als Protagonisten wirken aufgrund ihrer Erlebnisse oft schon wie Erwachsene. Ihre skurrilen Held*innen durchwandern eine oft surreale Szenerie.

Kindheitsszenen: Jon Fosses manchmal nur wenige Zeilen umfassende Texte erzählen von Kindheit und Jugend, von Sicherheiten und Unsicherheiten, von Mut und Angst. Von einem Leben auf dem Land oder Dorf, vom Leben am Wasser und mit der Natur. Oft sind es Erinnerungen, wie man sie selbst kennt. Kurze Gedankenblitze. Eine aus dem Unterbewusstsein heraufgedriftete Erinnerung, auch wenn sie längst vergessen schien. Es sind mal kurze, halbseitige, mal mehrere Seiten zählende Geschichten, die oft recht unspektakulär scheinen, aber durch Fosses unverkennbare Sprache ins Leuchten kommen.

Ich habe die Welt noch nicht gesehen: „Äußerste Genauigkeit zeichnet Roskva Koritzinskys Stil aus, jedes Wort hat Bedeutung, keine ihrer Metaphern ist abgenutzt oder klischeehaft. Im Gegenteil, sie sind ebenso treffend wie geheimnisvoll. Ihre Prosa ist so verknappt und kraftvoll wie Lyrik und sprüht vor literarischer Energie. Sie beobachtet Menschen und deren Beziehungen zueinander in mehr oder weniger alltäglichen Situationen.“ (Verlagstext) Gelesen im Zusammenhang mit dem Gastland Norwegen ohne eigene Besprechung


Zeichnungen: Es sind drei Geschichten, in die ich tief hineingezogen wurde. Sie spielen alle im dörflichen, zumindest ländlichen Raum, zwar im Heute, doch man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, wo eine dichte Atmosphäre herrscht und alte Strukturen wirken. Da blinkt Echtes, Existenzielles durch. Zudem gelingt es Reinhard Kaiser-Mühlecker eine enorme Spannung zu erzeugen. In der schaurig düsteren Stimmung der zweiten Geschichte war ich so gefangen, dass es schwer fiel mit der dritten zu beginnen, die dann auch gleich wie ein Märchen anmutete.

8 Minuten und 19 Sekunden: Georgi Gospodinov schreibt von verlorenen, einsamen, traurigen Menschen, von verkappten Existenzen von Weltuntergangsstimmungen, von Endzeitszenarien, und ich glaube an diese Geschichten, obwohl sie so unglaublich erscheinen. Das ist für mich reinste magische Erzählkunst. Da scheint etwas auf, was mehr ist als bloße Beschreibung der Geschehnisse: da liegen Geheimnisse unter der Oberfläche, die ich als Leser erforschen darf.

Die Liebe unter Aliens: Terézia Moras neues Buch ist ein Band mit zehn Erzählungen. Jede einzelne wäre geeignet, sie auf einen Roman auszudehnen, soviel Potenzial bergen die Geschichten und vor allem die Figuren. Doch natürlich funktionieren sie in dieser verkürzten Form am Besten. In Terézia Moras Geschichten geraten die Protagonisten, die alle in irgendwie prekären Verhältnissen leben, in unvorhersehbare, manchmal haarsträubende Situationen und werden dadurch aus ihrer teils allzu groß gewordenen Routine gerissen.

Gehörte Erzählungen:


So etwas wie Glück: Geschichten, die leuchten aufgrund von John Burnsides Sprache. Mit Liebe in verschiedensten Ausformungen unter ganz normalen Menschen haben sie tun, mit Glück auch oder dem Gegenteil davon. Ausführliche Besprechung folgt, wenn ich zu Ende gehört habe.

Clarice Lispector: Ich höre ab und zu gerne Hörbücher, eher Lesungen als Hörspiele und habe mir deshalb die Lesung von Erzählungen Lispectors von Hannelore Hoger interpretiert, vorgenommen. Hoger ist eine Kennerin und Verehrerin Lispectors. Es sind zwei Cd`s mit kürzeren und längeren Stories, die sie selbst ausgewählt hat. Hannelore Hogers Altersstimme schien mir mitunter etwas zu betulich für die Wucht der Kurzgeschichten Lispectors. Dennoch haben die Geschichten mich in ihren Bann gezogen.

Fallensteller: Ganz bewusst habe ich hier das Hörbuch ausgewählt, denn Saša Stanišic ist ein wunderbar lebendiger Erzähler – das ist schon mehr als Vorlesen, das ist Inszenierung und Spielerei. Normalerweise habe ich lieber den Text in der Hand, die Buchstaben und Sätze vor Augen und inszeniere innerlich selbst. Aber hier ist das Zuhören ein großer Genuss. Vielleicht ist es jedoch sinnvoll, zusätzlich das Buch zu lesen, um zu spüren, wie sich dann die Geschichten öffnen. Mir scheint, sie sind dringlicher, tiefer, als es durch die lockere Vortragsweise Stanišic´ zum Ausdruck kommt.


Zum Schluß noch ein kleiner Stapel gelesener, aber nicht besprochener Titel, da es damals noch keinen Blog gab: Judith Hermann, Alice Munro, Haruki Murakami, David Foster Wallace, Raymond Carver, A. L. Kennedy und last but not least Thomas Mann. Sicher waren es letztendlich noch viele mehr.

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