Muttertag special: Die Mutter-Tochter-Beziehung im Roman

Giovanni Segantini: Die bösen Mütter


Im letzten Jahr begegneten mir besonders viele Romane, die sich mit der Thematik „Mutter-Tochter-Beziehung“ beschäftigen. Ein Grund, mich zu erinnern und bereits auf dem Blog besprochene ältere und neuere hier in einer Sammlung, in einem Beitrag zusammenzufassen. Zum Muttertag, ja, aber ohne heile Welt. Meist geht es um schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen, die wenngleich oft nicht öffentlich gemacht, geschweige denn aufgearbeitet, scheinbar ziemlich häufig sind. Sei es die verschwundene Mutter, die Künstlermutter, die emotional abwesende, die überbehütende, übergriffige oder die (psychisch) kranke Mutter. Wer auf folgende Fotos klickt kommt zur jeweiligen Besprechung.

Die überforderte, die (emotional) abwesende, die (psychisch) kranke Mutter, die schwierige Mutter


Die Künstlermutter. Die verschwundene/verschollene Mutter

Wolfgang Borchert/Roberta Bergmann: Laternenträume Gedichte Kunstanstifter Verlag


Der Kunstanstifter Verlag ist praktisch immer eine gute Adresse für Buchkunst. Diesmal bewundere ich den in Halbleinen fadengebundenen und mit Lesebändchen versehenen hochwertigen Band Laternenträume. Es sind Gedichte von Wolfgang Borchert, den wir alle kennen von seinen Erzählungen. Ich erinnere mich noch deutlich an die Schullektüre von „Nachts schlafen die Ratten doch“. Illustriert wurde das Buch von Roberta Bergmann, die fasziniert von Borcherts Gedichten, die wenig bekannt sind, eine ganz eigene Welt für diese kurzen Texte erfindet. Für mich ist es immer wieder überraschend, wie Künstlerinnen Texte umsetzen, wie Bilder Worte begleiten. Da ich selbst schreibe und mit Tusche arbeite, empfand ich die Bilder als durchaus inspirierend.


Im Buch wird kurz erläutert, wie die Sammlung der Gedichte zustande kam. Borchert selbst nahm wohl seine Gedichte nicht sonderlich ernst. Doch wer weiß, was noch entstanden wäre, wäre der 1921 geborene nicht bereits 1947 im Alter von 26 Jahren gestorben. Borchert wurde 1941 jung in die Wehrmacht eingezogen, wo er sich in der Sowjetunion an der Front schwere Verwundungen zuzog, die ihn auch nach Ende des Krieges weiter behinderten und schließlich zum Tode führten. Binnen kürzester Zeit hatte er seine wenigen Werke geschrieben; die meisten machten ihn erst posthum bekannt. Sie zählten zur sogenannten „Trümmerliteratur“.


Borcherts Gedichte, die kaum bekannt sind, fand Roberta Bergmann, die sowohl Künstlerin als auch Kreativ-Coachin ist, so interessant, dass dieses Buch entstand. Die Gedichte stammen teilweise auch aus dem Nachlass und einer Dauerausstellung der Universitätsbibliothek Hamburg. Viele der Gedichte benennen auch die Stadt Hamburg, die See, Seefahrt, Seeleute und beschäftigen sich mit der Liebe, den flüchtigen, aber intensiven Liebeleien zwischen den Matrosen, die schnell wieder weg sind und den Frauen, die oft als Verführerinnen und gleichzeitig als Haltgebende dargestellt werden. Die Liebe der Frau als Rettungsanker in Sturm und Dunkelheit. Gerade auch in den Illustrationen: Sinnlichkeit, Erotik und Launenhaftigkeit. Gerade auch so wie das Wetter. Die Nacht scheint ebenfalls starken Einfluss zu nehmen. Die Dunkelheit, in die immer wieder Licht in Form von Laternen oder eben Liebschaften dringt. Bergmann setzt in ihren Illustrationen meist kräftige Impulse, schwarz/weiß/rot herrscht vor, wird aber immer wieder durch starke Farben abgelöst. Hier besonders schön der „Prolog zu einem Sturm“ und das „Kinderlied“, in dem Gott oder Göttin Tieren Pflanzen und Menschen Leben (und Farbe) einhaucht.


Kurz thematisiert Borchert auch den Krieg. Auch Aphorismen sind dabei. Für mein Empfinden zeigen die Texte den Lebens- und Liebeshunger eines jungen Menschen, dem jedoch durch den Krieg die Zukunft genommen wurde. Sie wirken oft wie eine Mischung aus Ringelnatz, Tucholsky und Brecht mit einer Prise Rilke. Mich hat es erstaunt, wie viel Zartheit und Zerbrechlichkeit ich dann doch zwischen den manchmal auch derben Zeilen (gerade was das Frauenbild betrifft, war Borchert ein Kind seiner Zeit) fand. Wer echte Buch- und Buchmacherkunst liebt, dem sei der Band ans Herz gelegt!

Das Buch erschien im Kunstanstifter Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Mehr zu Borchert: https://www.wolfgangborchert.de/

Weitere Bücher aus dem Kunstanstifter Verlag:

Salman Rushdie: Knife Penguin Verlag


„Und so begegnete mir an jenem Morgen in Chautauqua nahezu gleichzeitig das Schlimmste und das Beste am Menschen.“

Salman Rushdie hat über den Mordversuch an ihm am 12.8.22 in den USA zu Beginn eines Vortrags ein Buch geschrieben. Und das interessierte mich brennend. „Knife“ ist ein so starker und doch zarter Text, der mich zutiefst beeindruckt. Fast jeder weiß es: 1989 gab es eine Fatwa aus dem Iran, den bekannten und kritischen Schriftsteller, diesen „Ungläubigen“ zu ermorden. Ursache war damals sein Roman „Die satanischen Verse“. Ich erinnere mich noch gut daran. Damals war ich gerade frisch Buchhändlerin geworden und das Thema war in aller Munde. Wir fragten uns damals, ob wir Angst haben mussten, wenn wir das Buch im Schaufenster präsentierten. Rushdie schildert in dem Buch, wie er dieses Attentat nur knapp überlebte.

Bereits auf den ersten Seiten erinnert mich Rushdies Schilderung an Philippe Lançons Roman „Der Fetzen. Lançon ist Überlebender des Terroranschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auch er schildert in seinem Roman, sein Er- und Überleben des Attentats mit vielen schweren Verletzungen und das Leben danach.. Das Buch hat mich ebenfalls sehr beeindruckt. Welche Kraft diese Menschen besitzen!

Am 11. August bewundert Salman Rushdie noch den Mond über dem stillen Campus-Gelände. Am 12. wird er auf der Bühne kurz bevor er seinen Vortrag beginnen kann, mit mehr als 10 Messerstichen attackiert. Rushdie schreibt in der Ich-Form, was naheliegend ist und er beschreibt die 27 Sekunden, die der Mordversuch dauerte sehr genau aus seinem Fühlen und Denken heraus. Er erhält sofort Hilfe von Menschen rund um ihn herum, auch aus dem Publikum. Den Täter kann man stellen, er wird später von der Polizei abgeführt. Rushdie selbst wird mit schweren Verletzungen im Helikopter in ein spezielles Krankenhaus transportiert.

„… Gewalt zerschlägt dieses Bild. Plötzlich kennt man die Regeln nicht mehr – weiß nicht, was man sagen, wie man sich benehmen, welche Wahl man treffen soll. Die Wirklichkeit löst sich auf und wird durch Unverständliches ersetzt. Furcht, Panik und Lähmung verdrängen das rationale Denken. „Klar denken“ wird unmöglich, denn wer mit Gewalt konfrontiert wird, weiß nicht mehr, was „klar denken“ heißen soll“.

Mittels Augenzeugen und aus seiner Erinnerung heraus versucht er später sein Verhalten zu rekonstruieren. Er lief nicht davon, wehrte sich nicht, außer in dem er seinen linken Arm zur Abwehr hob. Dass Messer traf den Arm, die Hand. Es traf auch den Hals, das Auge, die Leber und noch mehr. Die Ärzte sagten hinterher, sie hätten nicht geglaubt, dass er diese schweren Verletzungen überleben würde. Gleichzeitig tun sie alles menschenmögliche, um ihn zu retten. Es gelingt.

„Wissen Sie was ihr größtes Glück war? Ihr größtes Glück war, dass der Mann, der sie angriff, keine Ahnung davon hat, wie man einen Menschen mit dem Messer umbringt.“

Auf der Intensivstation, auf der Rushdie viele Wochen verbringt, anfangs beatmet, verklammert und mit Augenverband, teils mit Schmerzmitteln sediert, reflektiert er das Geschehen und beginnt auch sich mit dem Täter auseinanderzusetzen. Mithilfe seiner Frau Eliza, seiner großen, späten Liebe, der er ein ganzes Kapitel am Anfang des Buches widmet und mithilfe seiner Verwandten, die so bald wie möglich anreisen, schafft Rushdie die schwere und schmerzhafte Zeit zu bewältigen. Wir begleiten ihn durch die einzelnen Phasen seiner Genesung, erst auf der Intensivstation, dann bei der Reha, in der Wohnung von Bekannten (wegen der Paparazzi) und schließlich endlich wieder im eigenen Zuhause. Doch auch von zuhause aus geht es weiter mit Arztterminen, mit Bangen und Ängsten und natürlich bleibt das Trauma, das auch das Zusammensein schwerer macht.

Doch als er sich entschließt, weiter ins Leben zu treten, lieber vorwärts als rückwärts zu schauen, sein Leben nicht von dem Attentäter bestimmen zu lassen, geht es aufwärts. Das Paar besucht wieder Freunde, geht in Restaurants essen und hat natürlich dennoch mit dem Gefühl zu kämpfen, wieder weniger frei zu sein, denn Security ist wieder, wie damals, immer dabei.

Rushdie beschäftigt sich mit dem Täter, der, wie man weiß aus fanatischen religiösen Motiven heraus die Tat plante. Würde er ihn treffen wollen? Wie steht es mit der Wut auf ihn? Muss er vor Gericht aussagen und ihm gegenüber stehen? Aus diesen Gedanken heraus, lässt er eine fiktive Begegnung im Gefängnis stattfinden, die natürlich nur auf dem Papier stattfindet. Wir Leser dürfen daran teilhaben und es ist mit Sicherheit eine gute Möglichkeit, die Tat zu verarbeiten. Ein weiteres Aufarbeiten findet über ein Jahr später statt. Das Paar besucht die Orte des Geschehens in Chautauqua. Damit endet das Buch. Es endet mit Liebe, an einem Ort, an dem Gewalt und Hass war. Aber auch damit, dass sich das Leben durch etwas dunkles verändert hat. Eine ebenso wichtige Verarbeitung dürfte letztlich aber auch das Schreiben dieses Buches hier sein.

„Ohne Kunst würde unsere Fähigkeit zu denken, die Welt mit frischem Blick zu betrachten und zu erneuern, verkümmern und vergehen. Kunst ist kein Luxus. Sie ist die Essenz unserer Menschlichkeit, und außer dem Recht, sein zu dürfen, verlangt sie keinen besonderen Schutz.“

Rushdie bedient sich auch in der Literatur, er verwendet Zitate, Auszüge aus Gedichten und er erzählt von befreundeten Schriftstellern, die dem Tod nah sind/waren. So ist es, obwohl es autobiographisches Erzählen ist, doch wieder nahe an die Literatur herangerückt. Es zeigt einen Menschen, der das Schlimmste überlebt, und doch nicht gebrochen ist. Ein gutes Statement zur Religion, welches ich so teile, hier als letztes Zitat; gerade auch im Hinblick auf die aktuelle Machtdemonstration islamistischer Vereine, die in Deutschland statt der Demokratie ein Kalifat ausrufen wollen: Soeben geschehen in Hamburg am vergangenen Samstag.

„Was man privat glaubt, hat meiner Meinung nach niemanden außer dem jeweiligen Menschen zu kümmern. Ich habe auch nichts gegen Religion, wenn sie diesen privaten Raum besetzt und nicht versucht, die Wertvorstellungen anderer Menschen zu beeinflussen. Wenn die Religion aber politisch wird, gar zur Waffe, dann geht sie uns alle etwas an, da sie solch enormes Schadenspotenzial hat.“

Das Buch erschien im Penguin Verlag. Bernhard Robben hat es übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ebenfalls zum Thema passend Emmanuel Carrères V13 über die Terroranschläge in Paris: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2023/10/12/emmanuel-carrere-v13-die-terroranschlage-in-paris-matthes-seitz-verlag/

Lydia Lewitsch: Der Fall Miriam Behrmann Frankfurter Verlagsanstalt


Lydia Lewitschs „Der Fall Miriam Behrmann“ ist der Debütroman der Autorin und Philosophin, die unter anderem Namen bereits Texte über wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Themen herausgegeben hat. Sie schreibt über ein brisantes Thema, dass derzeit aktueller nicht sein könnte. Es geht um die sogenannte Cancel-Culture (für mich ist es das) an einer Universität, die es aus den USA längst auch zu uns nach Deutschland geschafft hat. Was mir an diesem Roman besonders gefällt, ist die Tiefe, die Dichte und der sprachlich gelungene Stil, der durch die Geschichte leitet. Hier wird nicht oberflächlich oder plakativ, wie derzeit so oft, über ein mainstream-Thema geschrieben, sondern hier ist das Thema Philosophie, um das es auch inhaltlich geht, wirklich ein wichtiger Aspekt.

Worum es im Roman genau geht: Miriam Behrmann, Professorin für Philosophie und Leiterin eines Instituts an einer Uni in Wien wird von ihrer Doktorandin des psychischen Missbrauchs angeklagt. Miriam Behrmann steht am Tag der „Verhandlung“ bzw. des „Urteils“ im Foyer ihrer Abteilung und fragt sich wie das alles geschehen konnte. Weiter zuvor, als sie davon erfuhr, von ihrem Vorgesetzten Peter, mit dem sie freundschaftlichen Umgang pflegt, konnte sie es überhaupt nicht fassen, was man ihr da unterstellte. Doch sie wurde sofort suspendiert. Sogar in der Zeitung stand es. Nun wird über sie entschieden. Man diskutiert, ob sie der Universität verwiesen, entlassen wird.

„Und ich bin die Ahnungslose. Ich, die diskret blieb, immer, nie herangetreten bin an die Presse, nicht ich. Psychischer Missbrauch! Selina, meine Doktorandin. Dass das von ihr kommt. Selina, perfekt geschminkt, roter Lippenstift: Ich wurde psychisch missbraucht. Wie man auf so etwas kommt. Das eine Zeitung das abdruckt, nur weil sie es so sagt.“

Vor 5 Jahren hatte Peter sie und ihren Mann Tom von der Universität Princeton abgeworben. Sie hatte ein neues Institut gegründet, erfolgreich geleitet. Selina Aksoy, türkischstämmige Deutsche, hatte sich bei ihr als Doktorandin beworben und die beiden arbeiteten gut zusammen, auch mit den drei anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe. Zeitweise teilte Selina sehr viel Persönliches mit Miriam. Auch wir Leser erfahren davon. Von den Problemen zuhause, von den Erwartungen der Eltern, deren Tochter trotz Migrationshintergrund so viel erreichte. Doch nach und nach veränderte sich etwas an der Beziehung.

In einem einzigen großen Bewusstseinsstrom folgen wir Miriam Behrmann in die Vergangenheit. Sie denkt an die Mutter, die Familie in Polen – ja, auch sie hat Migrationshintergrund, sie denkt über ihren Aufstieg nach, das Studium im Ausland, den Arbeitsrausch in Princeton mit einem begnadeten Professor als Mentor. Sie reflektiert ihre Ehe mit Tom, die Geburt der Tochter. Gleichzeitig und auch immer miteinander vermischt und doch aufeinander aufbauend, die Fragen, ihre Stellungnahme, die die Entscheider an der Uni ihr endlich schriftlich zukommen ließen. Der Anwalt, der ihr rät, sich möglichst kurz und sachlich auszudrücken.

Die Fragen, die sie mit Selinas Vorwürfen konfrontieren, lassen Miriam erstarren. Sie und Miriam scheinen eine gänzlich andere Sicht auf die Geschehnisse zu haben. Im Grunde geht es meiner Meinung nach eigentlich um eine anderes Verhältnis zur eigenen Arbeit und um unterschiedliche Arten von Ehrgeiz. Selina zieht es vor sich nebenher in typischer Influencer-Art politisch an der Uni zu engagieren, was immer mehr Arbeitszeit raubt, während Miriam einzig in und durch ihre geliebte Arbeit für das Institut lebt. Selina empfindet Miriams Kritik an ihrer Arbeitsweise als blockierend und übergriffig. Miriam meint sie als Ansporn bzw. als Rat, sich wieder mehr und weiter für die Doktorarbeit zu engagieren. Meinem Empfinden nach reden die Hauptpersonen aneinander vorbei, statt miteinander das Problem zu lösen. Die impulsive Selina ist dann schnell dabei, ihr Problem nach außen zu tragen und wird, wie es in dieser Zeit halt so ist, von allen sofort gehört und unterstützt, ohne Hintergründe zu kennen. Aus Angst etwas falsch zu machen und womöglich selbst am Pranger zu landen, hat man dann schnell seine Schuldige auserkoren. Und so muss Miriam erschüttert feststellen, wie schnell sie von Bekannten, Freunden und Arbeitskollegen fallen gelassen.

„Tom, in Geräuschen wirkt er größer als in der Stille. […] Wir sehen uns an. Sich wieder verbinden: zwei Müdigkeiten, die wie Wasserfarben ineinanderlaufen. Tom … Seinen Namen, mehr schaffe ich nicht. Sein Blick bricht meinen ab, er guckt an mir vorbei auf meinen Bildschirm. Miriam, sieh mal. Wir haben lange geredet, Peter und ich; er meint es nur gut.“

Ich gebe zu, ich habe schnell Sympathien für die Hauptfigur, die „Angeklagte“ und eine Abneigung gegen die Anklägerin entwickelt. Ich nehme Partei ein, was die Autorin überhaupt nicht tut. Zum Gutteil liegt das sicher daran, dass ich näher am Alter von Miriam Behrmann bin als am Alter der Doktorandin. Und ich denke das Hauptaugenmerk liegt auch auf der Generationenfrage. Voller Einsatz im Job, volle Hingabe an die geliebte Arbeit? Ja, das kenne ich auch.
Die Autorin lässt das Ende weitgehend offen (?). Und das Ende ist in dem Sinne auch gar nicht wichtig, da in der Geschichte und ihrer genauen Sprache selbst alles, alles zu finden ist, was die Faszination an diesem Roman ausmacht. Was ich hier über das Buch schreibe, ist nur eine Art Gerüst. So viel steht außerdem zwischen den Zeilen. Große Empfehlung! Ich wünsche der Autorin viele Leserinnen.

Der Roman erschien bei Frankfurter Verlagsanstalt.

Welttag des Buches: Ein- und Abtauchen mit Romanen über 500 Seiten 📚


Zum Welttag des Buches ein Plädoyer für dicke Romane!
500 bis 1000 Seiten? Ich bin dabei! Ich steige langsam ein, versetze mich in die jeweilige Zeit, lerne die Charaktere kennen, mit manchen kann ich mich identifizieren, manche nerven. Ich tauche ein, tauche tiefer und verweile in einer anderen Welt. Ich schalte ab. Was im Hier und Jetzt stört, bleibt außen vor. Ich werde Teil der Geschichte und wenn es auf die letzten Seiten zugeht, lese ich immer langsamer. Der Abschied ist oft schwer und der Beginn eines neuen Romans eine Herausforderung. So geht es mir gerade nach Beendigung der großartigen 850-seitigen Dickens-Adaption „Demon Copperhead“. Kennt Ihr das auch?

Hier sind Tipps für das nächste lange Wochenende oder den nächsten Urlaub:
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Drei weitere Bücher ohne Besprechung:
Joanna Bator erzählt eine polnische Familiengeschichte anhand von vier Frauengenerationen. Aus unerfindlichen Gründen habe ich es noch nicht geschafft, über Bitternis zu schreiben.
Der Distelfink“ von Donna Tartt habe ich schon vor langer Zeit, als es meinem Blog noch nicht gab begeistert gelesen. Hier gibt es keine Besprechung. Es ist eine turbulente abenteuerliche Geschichte, in der ein niederländisches Gemälde, ein (anfangs) 13-jähriger Junge und die Stadt New York die Hauptrollen spielen. Interessanterweise erinnert die Handlung, ebenso wie bei Demon Copperhead (dort explizit), an eine Geschichte von Charles Dickens.
Ebenso ohne Besprechung, vor langer Zeit und gleich nach Erscheinen gelesen, aber auf viel anspruchsvollere Art, auch sprachlich, begeisternd: „Parallelgeschichten“ von Peter Nadas. Hier geht um die Irrungen und Wirrungen einer Budapester Familie im Laufe sich verändernder Zeiten. Es ist auch das Buch mit der höchsten Seitenzahl: 1722
Ich wollte die drei Romane unbedingt dazu stellen, weil sie so toll sind.

Uwe Wittstock: Marseille 1940 Hörbuch Der Audio Verlag


Der Journalist Uwe Wittstock hatte bereits großen Erfolg mit seinem Sachbuch „Februar 33: Der Winter der Literatur“. Das neue Buch Marseille 1940, bei dem ich mich für das Hörbuch entschied, könnte eine Art Vorgeschichte zu einem vor langer Zeit schon erschienen Roman von Michael Lentz sein. In Pazifik Exil erzählt er von der Flucht bekannter Schriftsteller ins Exil in die USA und vor allem vom Leben dort. In Kalifornien, Pacific Palisades, versammelten viele sich rund um Thomas Mann. Ich habe das Buch seinerzeit nach Erscheinen 2007 mit höchstem Interesse gelesen. Ein weiterer Roman zum Thema ist Klaus Modicks Sunset. Er stellt Lion Feuchtwanger in den Mittelpunkt und erzählt auch über sein Leben in Kalifornien nach Kriegsende. Es gibt thematische Überschneidungen, wobei Wittstock eben ohne Fiktion sachlich und teils akribisch, aber durchaus eingängig erzählt. Die Interpretation von Schauspieler und Sprecher Julian Mehne ist jederzeit stimmig.

„Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden. Die Belege stammen aus den Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleute, Intellektueller, Künstler und Künstlerinnen. Diese Menschen stehen im Mittelpunkt des Buches. Neben ihnen waren zahllose Unbekannte den gleichen Gefahren ausgesetzt, doch deren Lebensspuren gingen im Chaos von Krieg und Flucht verloren.“

Aus dem Vorwort des Buches, erschienen im C. H. Beck Verlag

Alles beginnt mit Varian Fry, einem US-amerikanischen Journalisten, der sich in 1935 in Berlin aufhält, um sich über die dortige Regierung zu informieren und in New York für eine Zeitung darüber zu schreiben. Er wird direkter Zeuge der Judenverfolgung und beginnt von da an ein Hilfsnetzwerk aufzubauen, dass Menschen die Flucht in die USA ermöglicht. Doch erst ab 1940 begann die Organisation vom Standpunkt Marseille aus mit der Fluchthilfe. Zu dieser Zeit hatten die Deutschen Frankreich bereits besetzt und nicht wenige der Schriftsteller und Künstler aus Deutschland waren bereits als unerwünschte Ausländer in Lagern wie etwa Gurs oder Les Milles interniert.

Varian Frys Fluchthelferkreise werden nach und nach immer größer. Es bedarf genauester Organisation, ohne Aufsehen zu erregen. Die meisten Exilanten benötigen Unmengen an Papieren, bevor an Weiterreise nach Lissabon und von dort mit dem Schiff in die USA, überhaupt zu denken ist. Fry versucht zunächst mit dem amerikanischen Konsulat in Marseille zusammenzuarbeiten, was nicht immer klappt. Das „Centre américain de secours“ tarnt sich allerdings als Hilfsorganisation, will und darf auf keinen Fall als Fluchthilfe erkannt werden. Frankreich wurde inzwischen in zwei unterschiedliche Zonen eingeteilt. Der Norden wird von den Nazis streng überwacht, während der Süden anfangs noch mehr Freiheiten hat. Nach und nach versammeln sich die verfolgten Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller in Marseille. Fry hat Listen angelegt, welche er auf jeden Fall außer Landes bringen will. Dass er Hilfe bei der Flucht in die USA anbietet, spricht sich herum wie ein Lauffeuer. Nicht jedem kann er helfen.

Uwe Wittstock schildert zunächst die Ausgangssituationen der einzelnen Intellektuellen, die teilweise schon länger in Frankreich leben und es durchaus komfortabel hatten, bevor sie zu unerwünschten Ausländern wurden. Wie etwa Lion Feuchtwanger in einer Villa in Sanary-sur-Mer, Heinrich Mann in Nizza oder Anna Seghers in einem Haus in einem Vorort von Paris. Bis sich schließlich alle in Marseille einfinden, haben sie teilweise schon Aufenthalte in Lagern der Franzosen oder aufreibende Fluchtwege hinter sich. So begleiten wir Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel und die Manns, Golo und Heinrich mit seiner Frau. Sie sind auch mit die ersten die außer Landes gebracht werden können. Wer nicht die passenden Papiere hat oder von Kontrollen zu leicht erkannt werden könnte, muss sich auf den Weg über die Pyrenäen nach Portbou in Spanien machen. Hier wurden die Österreicherin Lisa Fittko und ihr Mann als Tourbegleiter angeworben, obwohl sie selbst auf der Flucht Richtung USA waren. Walter Benjamin beispielsweise. Er schafft trotz Herzerkrankung zwar gerade noch die Tortur über die Berge, ist aber dann so erschöpft und verzweifelt, als er hört, dass man ihn wieder zurück nach Frankreich schicken will, dass er sich das Leben nimmt. Die Feuchtwangers schaffen den Weg über die Berge und gelangen nach Lissabon.

Zwischendurch wirft Wittstock immer wieder einen Blick in die USA zu Thomas Mann, der von Princeton inzwischen nach Los Angeles umgezogen ist und nur sporadisch von den Ereignissen und von der Flucht seiner Angehörigen erfährt. Die Zusammenarbeit Frys mit den amerikanischen Behörden wird immer schwieriger. Mehrmals will man ihn zurückbeordern, doch er bleibt, ist vollkommen aufgegangen in seiner Tätigkeit. Zudem erfährt Fry auch finanzielle und aktive Unterstützung von der Millionärin Mary Jayne Gold, die sich in Frankreich aufhält. Mit ihr zusammen mietet er die Villa Air-Bel, die zukünftig zur WG für diverse Mitarbeiter und Flüchtlinge wird. Hier leben zeitweise André Breton, Max Ernst und manche mehr. Auch Peggy Guggenheim taucht auf und unterstützt finanziell. Als kaum noch Visa für die USA genehmigt werden, beschafft Fry Papiere für Kuba, Mexiko, Nordafrika oder Martinique, wo z. B. Anna Seghers (mit ihrer kommunistischen Vergangenheit hat sie keine Chance in die USA zu kommen) mit der Familie landet.

Wittstock geht teilweise sehr in die Details, dadurch wird es mir mitunter zu kleinteilig. Mary Jaynes Liebesleben etwa interessiert mich nicht so brennend.

Fry wird in die USA zurückberufen. Seine eigenmächtigen Entscheidungen werden nicht mehr geduldet. Im November 1941 fliegt er unfreiwillig in die USA zurück. Bis Juli 1942 übernehmen die Mitarbeiter das Centre. Dann wird es geschlossen. Schätzungsweise 2000 Menschen hat die Hilfsorganisation aus Frankreich gerettet. Gegen Ende auch Unbekanntere. Danach werden mithilfe der französischen Behörden 75000 Juden aus Frankreich an Deutschland ausgeliefert. Alle Mitarbeiter werden am Schluss mit einem kurzen Werdegang vorgestellt. Das sind ihre Namen:
Léon Ball , Daniel Bénédite , Hiram Bingham , Miriam Davenport , Charles Fernley Fawcett , Lisa Fittko , Hans Fittko , Jean Gemähling , Mary Jayne Gold , Peggy Guggenheim , Albert Otto Hirschman , Paul Schmierer , Wilhelm Spira (Bill) , Roger Taillefer , Marcel Verzeano (Maurice Rivière) , Dina Vierny , Franz von Hildebrand (Franzi) , Jacques Weisslitz , Charles Wolff , Justus Rosenberg. Varian Fry selbst erfährt in den USA kaum Wertschätzung für das was er geleistet hat. Erst lang nach seinem Tod 1967 erhält er die notwendige Würdigung.

Die Lesung ist ungekürzt und dauerte 12 Stunden und 22 Minuten. Es braucht also Ausdauer, die aber mit reichlich historischem Wissen belohnt wird. Ich danke dem Audio Verlag für das digitale Rezensionsexemplar.
Ein wenig schade ist es natürlich, dass es Karten und Fotos nur im Buch, nicht aber im Hörbuch gibt. Hier ein Link zur Leseprobe mit einem Foto von Varian Fry:
https://cdn-assetservice.ecom-api.beck-shop.de/productattachment/readingsample/15257449/36359417_leseprobe%20marseille%201940.pdf

Ich habe selbst noch viel recherchiert über die Geschehnisse und Personen. Mehr über Varian Fry und das Comitee gibt es hier: https://www.rescue.org/de/artikel/die-wahre-geschichte-hinter-transatlantic-und-irc