Welttag des Buches: Ein- und Abtauchen mit Romanen über 500 Seiten 📚


Zum Welttag des Buches ein Plädoyer für dicke Romane!
500 bis 1000 Seiten? Ich bin dabei! Ich steige langsam ein, versetze mich in die jeweilige Zeit, lerne die Charaktere kennen, mit manchen kann ich mich identifizieren, manche nerven. Ich tauche ein, tauche tiefer und verweile in einer anderen Welt. Ich schalte ab. Was im Hier und Jetzt stört, bleibt außen vor. Ich werde Teil der Geschichte und wenn es auf die letzten Seiten zugeht, lese ich immer langsamer. Der Abschied ist oft schwer und der Beginn eines neuen Romans eine Herausforderung. So geht es mir gerade nach Beendigung der großartigen 850-seitigen Dickens-Adaption „Demon Copperhead“. Kennt Ihr das auch?

Hier sind Tipps für das nächste lange Wochenende oder den nächsten Urlaub:
Mit Klick aufs Foto gehts zur Besprechung


Drei weitere Bücher ohne Besprechung:
Joanna Bator erzählt eine polnische Familiengeschichte anhand von vier Frauengenerationen. Aus unerfindlichen Gründen habe ich es noch nicht geschafft, über Bitternis zu schreiben.
Der Distelfink“ von Donna Tartt habe ich schon vor langer Zeit, als es meinem Blog noch nicht gab begeistert gelesen. Hier gibt es keine Besprechung. Es ist eine turbulente abenteuerliche Geschichte, in der ein niederländisches Gemälde, ein (anfangs) 13-jähriger Junge und die Stadt New York die Hauptrollen spielen. Interessanterweise erinnert die Handlung, ebenso wie bei Demon Copperhead (dort explizit), an eine Geschichte von Charles Dickens.
Ebenso ohne Besprechung, vor langer Zeit und gleich nach Erscheinen gelesen, aber auf viel anspruchsvollere Art, auch sprachlich, begeisternd: „Parallelgeschichten“ von Peter Nadas. Hier geht um die Irrungen und Wirrungen einer Budapester Familie im Laufe sich verändernder Zeiten. Es ist auch das Buch mit der höchsten Seitenzahl: 1722
Ich wollte die drei Romane unbedingt dazu stellen, weil sie so toll sind.

Uwe Wittstock: Marseille 1940 Hörbuch Der Audio Verlag


Der Journalist Uwe Wittstock hatte bereits großen Erfolg mit seinem Sachbuch „Februar 33: Der Winter der Literatur“. Das neue Buch Marseille 1940, bei dem ich mich für das Hörbuch entschied, könnte eine Art Vorgeschichte zu einem vor langer Zeit schon erschienen Roman von Michael Lentz sein. In Pazifik Exil erzählt er von der Flucht bekannter Schriftsteller ins Exil in die USA und vor allem vom Leben dort. In Kalifornien, Pacific Palisades, versammelten viele sich rund um Thomas Mann. Ich habe das Buch seinerzeit nach Erscheinen 2007 mit höchstem Interesse gelesen. Ein weiterer Roman zum Thema ist Klaus Modicks Sunset. Er stellt Lion Feuchtwanger in den Mittelpunkt und erzählt auch über sein Leben in Kalifornien nach Kriegsende. Es gibt thematische Überschneidungen, wobei Wittstock eben ohne Fiktion sachlich und teils akribisch, aber durchaus eingängig erzählt. Die Interpretation von Schauspieler und Sprecher Julian Mehne ist jederzeit stimmig.

„Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden. Die Belege stammen aus den Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleute, Intellektueller, Künstler und Künstlerinnen. Diese Menschen stehen im Mittelpunkt des Buches. Neben ihnen waren zahllose Unbekannte den gleichen Gefahren ausgesetzt, doch deren Lebensspuren gingen im Chaos von Krieg und Flucht verloren.“

Aus dem Vorwort des Buches, erschienen im C. H. Beck Verlag

Alles beginnt mit Varian Fry, einem US-amerikanischen Journalisten, der sich in 1935 in Berlin aufhält, um sich über die dortige Regierung zu informieren und in New York für eine Zeitung darüber zu schreiben. Er wird direkter Zeuge der Judenverfolgung und beginnt von da an ein Hilfsnetzwerk aufzubauen, dass Menschen die Flucht in die USA ermöglicht. Doch erst ab 1940 begann die Organisation vom Standpunkt Marseille aus mit der Fluchthilfe. Zu dieser Zeit hatten die Deutschen Frankreich bereits besetzt und nicht wenige der Schriftsteller und Künstler aus Deutschland waren bereits als unerwünschte Ausländer in Lagern wie etwa Gurs oder Les Milles interniert.

Varian Frys Fluchthelferkreise werden nach und nach immer größer. Es bedarf genauester Organisation, ohne Aufsehen zu erregen. Die meisten Exilanten benötigen Unmengen an Papieren, bevor an Weiterreise nach Lissabon und von dort mit dem Schiff in die USA, überhaupt zu denken ist. Fry versucht zunächst mit dem amerikanischen Konsulat in Marseille zusammenzuarbeiten, was nicht immer klappt. Das „Centre américain de secours“ tarnt sich allerdings als Hilfsorganisation, will und darf auf keinen Fall als Fluchthilfe erkannt werden. Frankreich wurde inzwischen in zwei unterschiedliche Zonen eingeteilt. Der Norden wird von den Nazis streng überwacht, während der Süden anfangs noch mehr Freiheiten hat. Nach und nach versammeln sich die verfolgten Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller in Marseille. Fry hat Listen angelegt, welche er auf jeden Fall außer Landes bringen will. Dass er Hilfe bei der Flucht in die USA anbietet, spricht sich herum wie ein Lauffeuer. Nicht jedem kann er helfen.

Uwe Wittstock schildert zunächst die Ausgangssituationen der einzelnen Intellektuellen, die teilweise schon länger in Frankreich leben und es durchaus komfortabel hatten, bevor sie zu unerwünschten Ausländern wurden. Wie etwa Lion Feuchtwanger in einer Villa in Sanary-sur-Mer, Heinrich Mann in Nizza oder Anna Seghers in einem Haus in einem Vorort von Paris. Bis sich schließlich alle in Marseille einfinden, haben sie teilweise schon Aufenthalte in Lagern der Franzosen oder aufreibende Fluchtwege hinter sich. So begleiten wir Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel und die Manns, Golo und Heinrich mit seiner Frau. Sie sind auch mit die ersten die außer Landes gebracht werden können. Wer nicht die passenden Papiere hat oder von Kontrollen zu leicht erkannt werden könnte, muss sich auf den Weg über die Pyrenäen nach Portbou in Spanien machen. Hier wurden die Österreicherin Lisa Fittko und ihr Mann als Tourbegleiter angeworben, obwohl sie selbst auf der Flucht Richtung USA waren. Walter Benjamin beispielsweise. Er schafft trotz Herzerkrankung zwar gerade noch die Tortur über die Berge, ist aber dann so erschöpft und verzweifelt, als er hört, dass man ihn wieder zurück nach Frankreich schicken will, dass er sich das Leben nimmt. Die Feuchtwangers schaffen den Weg über die Berge und gelangen nach Lissabon.

Zwischendurch wirft Wittstock immer wieder einen Blick in die USA zu Thomas Mann, der von Princeton inzwischen nach Los Angeles umgezogen ist und nur sporadisch von den Ereignissen und von der Flucht seiner Angehörigen erfährt. Die Zusammenarbeit Frys mit den amerikanischen Behörden wird immer schwieriger. Mehrmals will man ihn zurückbeordern, doch er bleibt, ist vollkommen aufgegangen in seiner Tätigkeit. Zudem erfährt Fry auch finanzielle und aktive Unterstützung von der Millionärin Mary Jayne Gold, die sich in Frankreich aufhält. Mit ihr zusammen mietet er die Villa Air-Bel, die zukünftig zur WG für diverse Mitarbeiter und Flüchtlinge wird. Hier leben zeitweise André Breton, Max Ernst und manche mehr. Auch Peggy Guggenheim taucht auf und unterstützt finanziell. Als kaum noch Visa für die USA genehmigt werden, beschafft Fry Papiere für Kuba, Mexiko, Nordafrika oder Martinique, wo z. B. Anna Seghers (mit ihrer kommunistischen Vergangenheit hat sie keine Chance in die USA zu kommen) mit der Familie landet.

Wittstock geht teilweise sehr in die Details, dadurch wird es mir mitunter zu kleinteilig. Mary Jaynes Liebesleben etwa interessiert mich nicht so brennend.

Fry wird in die USA zurückberufen. Seine eigenmächtigen Entscheidungen werden nicht mehr geduldet. Im November 1941 fliegt er unfreiwillig in die USA zurück. Bis Juli 1942 übernehmen die Mitarbeiter das Centre. Dann wird es geschlossen. Schätzungsweise 2000 Menschen hat die Hilfsorganisation aus Frankreich gerettet. Gegen Ende auch Unbekanntere. Danach werden mithilfe der französischen Behörden 75000 Juden aus Frankreich an Deutschland ausgeliefert. Alle Mitarbeiter werden am Schluss mit einem kurzen Werdegang vorgestellt. Das sind ihre Namen:
Léon Ball , Daniel Bénédite , Hiram Bingham , Miriam Davenport , Charles Fernley Fawcett , Lisa Fittko , Hans Fittko , Jean Gemähling , Mary Jayne Gold , Peggy Guggenheim , Albert Otto Hirschman , Paul Schmierer , Wilhelm Spira (Bill) , Roger Taillefer , Marcel Verzeano (Maurice Rivière) , Dina Vierny , Franz von Hildebrand (Franzi) , Jacques Weisslitz , Charles Wolff , Justus Rosenberg. Varian Fry selbst erfährt in den USA kaum Wertschätzung für das was er geleistet hat. Erst lang nach seinem Tod 1967 erhält er die notwendige Würdigung.

Die Lesung ist ungekürzt und dauerte 12 Stunden und 22 Minuten. Es braucht also Ausdauer, die aber mit reichlich historischem Wissen belohnt wird. Ich danke dem Audio Verlag für das digitale Rezensionsexemplar.
Ein wenig schade ist es natürlich, dass es Karten und Fotos nur im Buch, nicht aber im Hörbuch gibt. Hier ein Link zur Leseprobe mit einem Foto von Varian Fry:
https://cdn-assetservice.ecom-api.beck-shop.de/productattachment/readingsample/15257449/36359417_leseprobe%20marseille%201940.pdf

Ich habe selbst noch viel recherchiert über die Geschehnisse und Personen. Mehr über Varian Fry und das Comitee gibt es hier: https://www.rescue.org/de/artikel/die-wahre-geschichte-hinter-transatlantic-und-irc

Tom Saller: Ich bin Anna Kanon Verlag


„Ist es nicht immer das vermeintliche Paradies der Kindheit, in dem der Baum der Erkenntnis wächst?“

Der Autor Tom Saller ist selbst Psychotherapeut und schreibt in seinem neuen Roman „Ich bin Anna“ über Sigmund Freuds 1895 als jüngstes Kind geborene Tochter Anna, die als einziges der Kinder ihrem Vater beruflich folgte. Er erklärt im Nachwort, wie er an das Schreiben herangegangen ist, wie nah er an der tatsächlichen Biographie Annas ist und wie viel auch Fiktion ist. Gleichzeitig schreibt er aber natürlich auch über den berühmten Erfinder der Psychoanalyse. Gleich eingangs möchte ich hier die einfallsreiche und bildschöne Covergestaltung rühmen, die auf mich als Bibliophile Eindruck gemacht hat.


Obwohl Anna im Vordergrund steht, schiebt sich doch der Vater immer wieder dazwischen. Auch ein Zeichen, wie nah Anna ihrem Vater stand und wie sehr er ihr Leben prägte. Saller beschränkt sich auf die wenigen Jahre 1917/1918, ganz kurz, aber ganz wichtig 1938, beginnend mit 1980, als Anna Freud in London einen Brief mit einer besonderen Todesnachricht erhält, der sie wieder in die Vergangenheit führt.

„Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zeigte meine Persönlichkeit eine Ambivalenz, die mich mein Leben lang begleiten sollte – wild und ungebärdig im Gegensatz zu brav und vernünftig.“

Anna ist die Tochter, die etwas aus der Rolle fällt. Sie wird sich immer an der schönen Schwester Sophie, zu deren Hochzeit sie nicht kommen darf, messen lassen müssen, die das Lieblingskind des Vaters ist. Auch zur gefühlsarmen Mutter hat Anna kein gutes Verhältnis. Sie hält sich bereits früh an den Vater, heiratet nicht, wird nach dem Studium Lehrerin. Sie lernt Lou Andreas-Salomé kennen und sie werden Freundinnen mit regem Briefverkehr. Sie interessiert sich für seine Arbeit und wird vom Vater schließlich durch Veranstaltungen und durch eine Lernanalyse mit einbezogen.

„Schreiben gibt Halt, verleiht Bedeutung. Materialisiert Gedanken und Gefühle und nicht zuletzt die Zeit, und so werden die Dinge gleichermaßen greifbar wie begreifbar.“

Freud hat einen Patienten, Stadlober, der im ersten Weltkrieg durch einen Senfgasangriff sein Augenlicht zeitweise verloren hat. Da herkömmliche Ärzte nicht helfen können, beginnt er mit der Gesprächstherapie. Anna erfährt vom Vater nach jeder Sitzung was passiert ist und entschlüsselt mit ihm gemeinsam den Fall. Durch diese Analyse entwickelt Freud nach und nach seine Idee des Todestriebs, Thanatos. Die Ergänzung zum Lebenstrieb Eros. Anna jedoch trifft sich heimlich mit Stadlober zu Spaziergängen und Gesprächen, was eigentlich völlig tabu ist. Sie ist sich selbst nicht im Klaren, was sie daran reizt. Nach einer Tuberkulose-Erkrankung wandelt sie die Treffen mit ihm in einen Briefverkehr um, den sie nach einiger Zeit schließlich auch beendet. Was Stadlober in eine heftige Krise mit Selbstmordversuch stürzt.

„Wie vermochte sich ein gewöhnlicher, friedfertiger Mensch unversehens in einen zum Töten bereiten zu verwandeln? Scheinbar ohne zu zögern von einer höheren psychischen Entwicklungsstufe auf eine frühere, primitivere zurückzufallen? Welche seelischen Kräfte waren da am Werk?

Freud ist naturgemäß wenig begeistert über Annas Verhalten, doch gibt es nach einiger Zeit des Grollens wieder das übliche Vertrauensverhältnis zwischen beiden. Anna wird immer mehr zur unverzichtbaren Hilfe des Vaters, wird selbst Analytikerin, praktiziert in den Räumen der Familie und wird zur Begründerin der Kinderanalyse. Gleichzeitig hat sie die Praxis des Vaters im Blick, der aufgrund einer Krebserkrankung immer weniger praktizieren kann. Anna entscheidet sich mit 30 Jahren für eine Beziehung zu einer Frau, mit der sie auch zusammenlebt. Nach dem Beitritt Österreichs zu Deutschland wird es schwieriger für die Freuds. 1938 kommt es zu mehreren „Besuchen“ der Nazis in den Räumen der Familie. Anna wird anstelle des Vaters zum Verhör in die Gestapozentrale der Deutschen im Hotel Metropol gebracht. Hier kommt es zu einer folgenschweren Begegnung aus der Vergangenheit …

Saller findet eine gute Mischung aus psychoanalytischem Geschehen und interessanten biographischen Begebenheiten auch sprachlich in die Zeit passend. Und er schafft es Anna Freud letztlich als ungewöhnliche und beeindruckende Frau ihrer Zeit zu zeigen, obwohl sie es als kränkelndes Nesthäkchen in der Familie schwer hatte, vom Vater sogar liebevoll(?) „mein schwarzer Teufel“ genannt wurde. Für mich hätte es gerne noch tiefer in die Therapie und die Theorie gehen können. Ich hätte auch gerne noch mehr über Annas weiteres Leben gelesen, aber darüber gibt es ja bereits viel Lesestoff.

Der Roman erschien im Kanon Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Laura Lichtblau: Sund C. H. Beck Verlag/ Terhi Kokkonen: Artic Mirage Hanser Berlin


Beide Romane haben in meinen Augen sehr schöne Cover, beide sind recht frisch erschienen, beide haben mir aus unterschiedlichen Gründen nicht wirklich gefallen. Hier versuche ich es mir zu erklären, warum. Leider kein Leuchten!


Von Laura Lichtblaus Debütroman „Schwarzpulver“ war ich begeistert und deshalb sehr gespannt, was darauf folgen würde. Die Verlagsbeschreibung von Sund klang vielversprechend. Zum Debüt schrieb ich: Hier ist alles rund, alles passt zusammen, alles fügt sich. Leider ist das in Sund genau nicht so.

Es geht um eine junge Frau, die an einer dänischen Küste an einem Sund Zeit verbringt, um ohne Ablenkungen an einem Text über die NS-Vergangenheit ihres Urgroßvaters zu recherchieren und zu schreiben, um damit Familiengeschichte aufzuarbeiten. Gleichzeitig ist sie aber sehr abgelenkt durch das Warten auf ihre Geliebte, die ihr immer wieder vertröstende Nachrichten schreibt. Als sie von den merkwürdigen Geschehnissen auf einer kleinen vorgelagerten Insel hört, entscheidet sie sich die Insel zu erforschen. Mit auf der Fähre ist eine andere Frau und beide zusammen erleben nun eine seltsame Lebensgemeinschaft, die zunächst sehr verschlossen wirkt und merkwürdig scheinende Rituale ausführt. (Hier kann man sich vorstellen, dass es sich um eine Art Reichsbürgergemeinschaft handelt oder um eine esoterische Selbsterfahrungsgruppe, etc. pp.) Die beiden fühlen sich wenig willkommen. Bei einem heimlichen nächtlichen Besuch des Verwaltungsbüros entdeckt die Frau ein Buch über die Insel, aus dem hervorgeht, dass während der NS-Zeit Euthanasie-Programme durchgeführt wurden.

Dann folgt ein längeres Zwischenkapitel, welches ein wenig wie ein biografischer Essay wirkt, in dem die Protagonistin von ihren Recherchen in Sachen Urgroßvater erzählt. Im Anschluss geht es weiter am Sund. Hier arbeitet die Hauptfigur dann als eine Art Reiseführerin zu den Bunkern, die an der Küste noch aus der Zeit des zweiten Weltkrieg vorhanden sind. Scheinbar gibt es einen regen Touristenverkehr, was diese geschichtliche Episode der Besatzung angeht.

Was die Handlung der Geschichte angeht, werde ich überhaupt nicht schlau. Für mich führen hier verwirrte Erzählfäden in verschiedene Richtungen, die aber überhaupt nicht bedeutungsvoll sind und in keiner Weise ein stimmiges Bild abgeben. Die Geliebte taucht nicht auf, außer einmal in einem Traum. Auch das Ende ist abrupt und ohne die Geschichte irgendwie sinnvoll abzuschließen. Was für mich aber ein Highlight des Romans (falls man es überhaupt so nennen kann, nur 130 Seiten) ist, ist die poetische Sprache, vor allem im ersten Teil des Buchs. Hier merkt man die Lyrikerin durch und einen Lyrikband, sollte es dann einmal einen von der Autorin geben (schon ihr Name ist reine Poesie) würde ich ganz sicher sofort lesen.

Das Buch erschien im C. H. Beck Verlag.

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Die finnische Autorin Terhi Kokkonen hat mich neugierig gemacht. Da nordische Literatur mir ohnehin seit einiger Zeit sehr liegt, war ich auf Arctic Mirage sehr gespannt. Das kühle Coverbild spiegelt für mich auch irgendwie den Inhalt des Romans. Ein Ehepaar fährt in Urlaub gen Norden, um endlich die Nordlichter zu sehen. Doch ihr Ziel erreichen sie nicht. Es kommt auf der Fahrt auf eisiger Straße mit dem Auto zu einem Unfall. Sie sind zum Glück unverletzt, doch der Mietwagen ist Schrott. So kommen sie in einem naheliegenden Hotel unter, das sehr exklusiv wirkt und doch irgendwie mysteriös. Wir lernen nun die beiden etwas näher kennen, teils in Rückblenden bis zum ersten Date. So gut scheint die Beziehung nicht mehr zu funktionieren, was aber nur sehr diffus und unterschwellig durchscheint. Und wir bekommen auch einen Einblick in das Hotelpersonal, welches irgendwie auch nicht so recht auf der Höhe scheint. Es bekommt für mein Empfinden auch zu viel Raum, der nirgends hinführt und den ich mir noch für das Paar gewünscht hätte.

Ich kann es eigentlich gar nicht besonders begründen, weshalb mir die Geschichte nicht hinlänglich gefallen hat. Mir wurde nicht so ganz klar, wieso es zu der Tat kommt, mit der der Roman gleich eingangs aufwartet. Wir wissen also von vornherein, wie es endet. Die Frage warum, wird für mich nicht tief genug bearbeitet und wirkt auf mich ein wenig zu willkürlich. Zudem zeigt auch die Sprache für mich keine Highlights, so dass ich das Buch zwar zu Ende las, aber letztlich nur, weil es ohnehin nur etwas unter 200 Seiten zählt.

Übersetzt wurde das Buch von Elina Kritzokat. Es erschien im Hanser Berlin Verlag.

Ich danke den Verlagen für die Rezensionsexemplare.

Karl Ove Knausgård: Der Wald und der Fluss Luchterhand Verlag


„Es ist, als zeige die Kunst nicht nur das Geheimnis, sondern als behüte sie es auch.“

Eigentlich hatte ich mich entschlossen nach Karl Ove Knausgårds mehrbändigen Mammutwerk nichts mehr von ihm zu lesen. Sie gefielen mir überwiegend, aber ich wollte wirklich nichts mehr aus seinem Privatleben wissen. Da er aber auch über Kunst schreibt, ja sogar Ausstellungen kuratiert, wurde ich doch wieder zur Leserin. In „Der Wald und der Fluss“ schreibt er sehr persönlich über seine Treffen mit dem Künstler Anselm Kiefer, über dessen Werke ich gerne mehr erfahren wollte. Und tatsächlich macht er das richtig gut. Ich kann seinen Gedanken und Kiefers Kunst folgen.
Ergänzen will ich den Beitrag mit dem Hinweis auf den wunderschönen Prachtband „Unter einem Zuckerhimmel“, der Gedichte von Christoph Ransmayr mit Bildern von Anselm Kiefer kombiniert, die dieser speziell zu den Texten gemalt hat.

Sehr gut schildert Knausgård was bei bekannten bildenden Künstlern anders ist, als etwa bei Schauspielern oder Sängern: Man hat das Werk im Kopf und nicht das Gesicht des Künstlers. Und so ging es ihm eben mit Anselm Kiefer, dessen Kunst er bewunderte, dem er aber nun auch persönlich gegenüberstehen sollte. Knausgård empfindet Hochachtung vor Kiefers Werken, sieht sie zunächst aber ernst und dunkel. Das verändert sich durch die Begegnung.

Nach dem Besuch einer seiner Ausstellungen hat er die Idee Kiefer zu fragen, ob er nicht einige Bilder für sein nächstes Buch zur Verfügung stellen würde. Nach Absenden des Briefs dauert es sechs Monate, bis er Antwort erhält und in Kiefers riesiges Atelier in Paris zum Mittagessen eingeladen wird. Auch Bilder für das Buch werden ihm zugesichert. Die ganze Korrespondenz führt er mit Waltraud Forelli, der rechten Hand Kiefers. Nach dem ersten Essen in Kiefers Appartement, welches in seinem Atelier in einer riesigen hangarähnlichen Lagerhalle stattfindet und bei dem Knausgård beim Bearbeiten dreier Bilder mit Blei dabei sein darf, fragt er nach einem Interview. Er hat vor einen Text für das New York Times Magazine zu schreiben. Auch das wird ihm gewährt.

Bevor der Termin stattfindet macht sich Knausgård kluge Gedanken zu Kiefers Werk, stellt fest, dass es vor allem Wald, Bäume, Landschaften sind, die in seiner Malerei vorkommen. Er weiß, dass Kiefer mit seinen 70 Jahren unermüdlich arbeitet und dass seine Werke durchaus von großen Unterschieden geprägt sind. Für sein Buch erhält er Aquarelle, die blütenleicht sind (siehe Buchcover). Was ihn aber auch dringend interessiert ist die Person Kiefers, die er schwer einzuschätzen weiß.

„Wir sind es, die den Dingen einen Sinn verleihen und davon ausgehend die Welt erschaffen. Wir glauben, dass wir in einer fixierten Welt leben, einer Welt, in der die Kultur beweglich und die Natur unbeweglich ist, oder in der die Gegenwart beweglich und die Geschichte unbeweglich ist, aber das ist eine Illusion. Und es ist diese Illusion, an der Kiefer rüttelt.“

Nach dem zweiten Interview im Atelier in Paris, zeigen sich weitere Bausteine, es gibt eine kurze Begegnung in New York und bei einer Vernissage in Kopenhagen, wo Kiefer ihn plötzlich begrüßt, als wären sie dicke Freunde. Was ihm seltsam und befremdlich erscheint. Bei Forelli fragt er an, ob sie sich im Schwarzwald, Kiefers Heimat, treffen könnten. Er möchte die biographischen Hintergründe erkunden. Dazu kommt es erst, als Kiefer die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg verliehen bekommt. Nun lesen wir von Gesprächen auf dem Weg zum Geburtshaus von Kiefer bei dem er lange nicht mehr war. Für Knausgård zeigt sich der Mensch Kiefer so immer privater und intimer. Für mich scheint Kiefer hier als ein sehr sprunghafter Typ, der in der Öffentlichkeit gerne Showman ist, sehr selbstbewusst.

„Wie die meisten Künstler sprach auch Kiefer nur ungern über die Bedeutung seiner Bilder. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Gemälde und Skulpturen finden außerhalb der Worte statt, sie vermitteln etwas anderes als das, was Sprache erfassen kann, und das ist das Entscheidenden an ihnen.“

Auch die ersten Werke studiert Knausgård. Es sind Bücher, Einzelexemplare, von denen scheinbar seine weitere Kunst ausgeht. Es folgen noch Einladungen und Begegnungen im ehemaligen Atelier in Barjac in Südfrankreich und in London. Beim letzten Treffen scheint Kiefer in nicht zu erkennen. Vielleicht weil der Artikel über ihn noch immer nicht erschienen ist? Wenig später wird der Beitrag im New York Times Magazine erscheinen. Kiefer ist zufrieden damit …

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Christoph Ransmayrs „Unter einem Zuckerhimmel“ erschien bereits 2022, aber es ist natürlich zeitlos. Im Rahmen der Recherche für diesen Beitrag bin ich darauf gestoßen und finde das Buch wirklich bemerkenswert. Es versammelt Gedichte und Balladen, zu denen Anselm Kiefer Bilder beiträgt, mitunter mehr als eines zu jedem einzelnen Text. Schöne tiefe Dichtung und einzigartige Illustration. Es gibt auch einen weiteren Band in der losen Reihe „Spielformen des Erzählens“, der nach/bei einem Besuch Ransmayrs auf Anselm Kiefers großen Anwesen in Südfrankreich entstand. Alle Bände dieser Reihe erschienen beim S. Fischer Verlag.

Der Wald und der Fluss erschien im Luchterhand Verlag. Übersetzt hat es Paul Berf. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Es gibt auch einen aktuellen Film von Wim Wenders über Anselm Kiefer:
https://www.youtube.com/watch?v=ScN2RXINkm4

Elizabeth Graver: Kantika mare Verlag


Die wechselvolle Geschichte einer jüdischen Familie erzählt uns die US-Amerikanerin Elizabeth Graver hier in Kantika. Wie Graver im Nachwort schreibt, ist es eine Mischung aus autobiographischen und fiktiven Teilen. Vor allem setzt sie hier ihrer Großmutter ein Denkmal, die auch die Hauptfigur im Roman ist. Der Text ist chronologisch gegliedert und untermalt mit Fotos aus dem Familienalbum. Kantika – der Titel sagt es bereits: die Musik und der Gesang spielen eine wichtige Rolle.

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und der offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantar, singen.“

Die Geschichte spielt in der Zeit von 1907 bis 1945. Wir erleben das Aufwachsen der Hauptfigur Rebecca im bunten weltläufigen Konstantinopel/Istanbul um 1910. Es ist eine behütete Kindheit in einer wohlhabenden sephardisch-jüdischen Familie. Bis die Sicherheiten ab den 20er Jahren langsam zu bröckeln beginnen. Der Vater, angesehener Geschäftsmann, der jedoch mit dem Geld leichtsinnig umgeht, die Geschäfte, die nicht mehr gut gehen, und die Bedrohungen der Außenwelt, die in den idyllischen liebevoll angelegten Garten eindringen, zeugen davon. Rebeccas beste Freundin Lika wandert mit ihrer Familie nach den USA aus, ein großer Verlust. Rebecca lernt nähen und verdient bald ihr eigenes Geld. Sie heiratet einen nicht wirklich geliebten Mann, der sie immer wieder im Stich lässt, mit zwei Kindern allein lässt und sie bald zur Witwe macht, so dass sie zu den Eltern zurückkehrt und wieder zur Arbeit geht.

Die Situation spitzt sich zu. Es ist 1925. Auch die Eltern planen eine Auswanderung. „Zurück“ nach Spanien, woher sie ursprünglich stammen, dessen Sprache sie kennen. Doch es wird ein Abstieg. Der Vater findet Arbeit in einer Synagoge, die Familie wohnt in einer Wohnung darüber. Rebecca und ihre Brüder suchen Arbeit, was mit jüdischer Herkunft schwierig ist. Und sicher bleibt es auf Dauer auch nicht. Die politisch angespannte Situation in Europa macht sich auch in Barcelona bemerkbar. Die Eltern wollen die Tochter in Sicherheit wissen. Und so wird Rebecca den völlig unbekannten Mann ihrer verstorbenen Freundin Lika auf Kuba treffen, heiraten, nach USA gehen, ihre eigenen Kinder nachholen und seine behinderte Tochter als Kind annehmen und es kommen weitere Kinder mit dem neuen Mann hinzu. Beide raufen sich zusammen und auch hier geht Rebecca wieder ihrer eigenen Arbeit nach. Der Tod der Eltern, die in Europa zurück bleiben mussten – die Bürokratie verhinderte, dass die Eltern in die USA kommen durften – wiegt schwer. Der Krieg, der die Brüder nimmt. Nach einer aufreibenden Zeit, stellt sich aber ein dauerhaftes Familienglück ein.

Der Roman schildert das unruhige, aufreibende Leben einer unglaublich robusten Frau, die trotz der ganzen Erschütterungen und Hindernissen nie ihr gutes Lebensgefühl verliert. Die selbständig arbeitet und eigene Entscheidungen trifft, mitunter gegen alle Widerstände. Rebecca singt. Das scheint ihre Ressource ihr ganzes Leben hindurch zu sein. Sehr ungewöhnlich für diese Zeit und für das Umfeld, aus dem sie kommt. Und es weitete sich für mich der Blick auf jüdisches Leben in verschiedenen Teilen der Welt. Sehr interessant und aufschlussreich. Und ganz nebenbei ein echter Schmöker.

Der vielschichtige Roman erschien im mare Verlag. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch wurde er von Juliane Zaubitzer. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.